„Der Kampfpanzer ist etwas libidinös Besetztes“

Screenshot: Website Deutsches Panzermuseum Munster

Der Soziologe und Militärexperte Lutz Unterseher lehnt die deutschen Aufrüstungspläne ab, er versteht sich aber nicht als Pazifist. Unterseher schlägt eine gemeinsame europäische Armee vor, die nicht nur verbal, sondern auch strategisch rein defensiv ausgerichtet ist. Das verringere die Kriegsgefahr und sei zudem viel kostengünstiger. Nicht fünf, wie derzeit postuliert, sondern lediglich ein Prozent der Wirtschaftsleistung würden dafür benötigt, erläutert er im Interview mit Thomas Gesterkamp.

Thomas Gesterkamp: Herr Unterseher, Verteidigungsminister Boris Pistorius will insgesamt 3500 neue Kampfpanzer und andere gepanzerte Fahrzeuge bestellen. Laut den vorläufigen, vermutlich viel zu niedrigen Schätzungen verschlingt diese größte Waffenbestellung in der Geschichte der Bundeswehr mindestens 25 Milliarden Euro. Was halten Sie davon?

Lutz Unterseher: Gar nichts. Die Bundeswehr hatte am Ende des Kalten Krieges rund 5000 relativ moderne Kampfpanzer, und wir nähern uns jetzt wieder dieser alten Größe. Ich sehe für die geplanten Neuanschaffungen keine zwingenden Argumente. Es geht ja auch gar nicht nur um das Geld für militärische Zwecke, das zur Zeit in Hülle und Fülle zur Verfügung zu sein scheint. Sondern darum, ob es militärisch Sinn macht.

Fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden mittlerweile ständig eingefordert, wenn es um die Aufrüstung in Europa geht. Macht es aus Ihrer Sicht Sinn, die Ausgaben für die äußere Sicherheit an die Wirtschaftsleistung zu koppeln?

Lutz Unterseher: Das ist eine symbolische Zahl, sie hat nichts mit einem vernünftigen Ausgabenbezug der Streitkräfte zu tun. Dahinter steckt das US-amerikanische Bemühen, die europäischen Partner mehr an die Kandare zu nehmen, während gleichzeitig ihre Sicherheitsgarantien, sprich die atomare Abschreckung, relativiert werden. Das Erfüllen der fünf Prozent dient dazu, das amerikanische Wohlwollen zu gewinnen, das aber gar nicht mehr verlässlich ist.

Die Bundeswehr hat sich seit ihrer Gründung stets auf ihren reinen Verteidigungsauftrag berufen. Ist die Truppe noch defensiv ausgerichtet?

Lutz Unterseher: Die Truppe ist eigentlich überhaupt nicht auf irgend etwas ausgerichtet. Man kann keinen klaren Aufgabenbezug erkennen, es gibt eine strukturelle Konfusion. Die Bundeswehr hat im Gegensatz zum Kalten Krieg eine zu starke Orientierung auf Luftwaffe und Marine zu Lasten des Heeres, dies ist an der schiefen Investitionsverteilung ablesbar. Insofern stellt sich derzeit gar nicht richtig die Frage, ob Offensive oder Defensive im Vordergrund stehen.

Sie sind kein Pazifist, wenden sich dennoch gegen die schleichende Militarisierung der Gesellschaft – und schlagen als Alternative eine gemeinsame europäische Armee vor. Wie sieht Ihr Konzept konkret aus?

Lutz Unterseher: Ich möchte zeigen, was eigentlich möglich wäre, wenn wir die Ressourcen zusammen systematisch nutzen würden. Zugleich weiß ich, dass die Idee einer Europa-Armee angesichts nationaler Egoismen weiterhin eine Illusion bleibt. Wenn man das aber ernst nähme, könnte man wahrscheinlich für weit unter zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts eine sehr glaubwürdige Streitmacht aufstellen, die eine große Wirkung hat. In einem meiner Texte peile ich sogar nur ein Prozent des BIP als Ziel an – um so plakativ zu machen, was eigentlich möglich wäre, wenn man alle national bornierten Strukturen aufgeben würde. Aber das ist leider weitgehend illusionär. Um nur einen Zahlenvergleich zu nennen: Schon bei nur ein Prozent der Wirtschaftsleistung landen Sie im Rahmen der Europäischen Union bei rund 170 Milliarden Euro für das Militär pro Jahr. Die gesamte russische Verteidigung kostet weniger, gleichzeitig muss Russland eine gigantische Landmasse schützen und auch noch eine Atomstreitmacht unterhalten.

Es ist kein Zufall, dass die Kooperation in Europa bislang begrenzt ist. Großbritannien und Frankreich zum Beispiel verfolgen eigene Interessen auf anderen Kontinenten…

Lutz Unterseher: Wenn es zu einer europäischen Armee käme, könnte man diese beiden Länder natürlich nicht zwingen, ihre außereuropäischen Interessen aufzugeben. Es sind ja beides frühere Kolonialmächte, die außerhalb Europas weiterhin Besitzungen halten. Es wäre natürlich militärisch interessant, das britische und das französische nukleare Abschreckungspotenzial zu kombinieren. Damit würde Europa mehr auf eigenen Füßen stehen, möglichst nicht im Sinne einer aktiven atomaren Kriegsführung, sondern wirklich als rein defensives Instrument: um andere abzuschrecken, einen militärischen Konflikt mit Massenvernichtungswaffen zu beginnen.

Unter Militärexperten sind Sie durchaus anerkannt, auch in internationalen Kontexten. Nach Erscheinen Ihres Buches “Über Panzer” aber wurden Sie von Bundeswehrangehörigen angefeindet. Was war da los?

Lutz Unterseher: Die Kernbotschaft meiner Recherchen schon seit Mitte der 1980er Jahre lautet: Die Bedrohung in Europa ist gar nicht so groß, “der Osten” nicht so übermächtig, wie die NATO immer behauptet. Über dieses Thema habe ich immer wieder geschrieben, durchaus mit wissenschaftlichem Anstrich, manchmal aber auch witzig und sarkastisch. “Über Panzer” ist in einem kleinen Verlag erschienen, es handelt sich um eine Essaysammlung, eine knappe Zusammenfassung meiner Erkenntnisse aus den letzten Jahrzehnten. Den Inhalt konnten manche Leser aber offenbar nicht ertragen. Das Panzermuseum der Bundeswehr griff das Thema auf. Dessen Direktor ließ extra ein langes Video drehen, in dem behauptet wurde, ich hätte das schlechteste Panzerbuch aller Zeiten geschrieben. Ich fand das sehr ehrenhaft und dachte, das wars. Doch dann hat sich eine Chatgruppe in der Bundeswehr mit meinem Büchlein befasst, und es gab brachiale Drohungen gegen mich.

Waren das Rechtsradikale?

Lutz Unterseher: Nein, das ist leider normale Bundeswehr. Da gibt es einfach zu viele Waffenfans. Der Kampfpanzer ist etwas libidinös Besetztes. Und wenn man dagegen was sagt, dann rasten die aus. Ich habe satirisch vorgeschlagen, die Namen von Panzern nicht mehr mit Raubtiernamen zu versehen, sondern mit dem Namen von Pflanzenfressern – sozusagen als Symbol für eine defensive Armee. Doch da verstehen die Herren keinen Spaß, da werden sie sehr böse – zumal ich ja auch noch behauptet habe, dass man in einem nur auf die Verteidigung der eigenen Landesgrenzen orientierten Konzept gar nicht so viele Panzer braucht.

Sind Sie angesichts der Politik von Boris Pistorius eigentlich noch SPD-Mitglied? Sie waren ja lange in SPD-internen oder parteinahen Gremien unterwegs…

Lutz Unterseher: Ich bin schon kurz nach der Jahrtausendwende ausgetreten. Das war in der Zeit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder. Für seine ablehnende Haltung zum zweiten Irakkrieg von George W. Bush zolle ich ihm Respekt. Aber die vorausgegangene, von der damaligen rotgrünen Regierung mitgetragene NATO-Bombardierung von Serbien im Jahr 1999 war eindeutig völkerrechtswidrig.

Es gibt ein Manifest von aufrüstungskritischen Stimmen in der Sozialdemokratie, die mehr Diplomatie im Ukrainekrieg fordern. Diese berufen sich auf die Erfolge der Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr. Letzerer, vor fast einem Jahrzehnt verstorben, würde heute vermutlich ähnlich wie Sie mit der derzeitigen Politik hadern. Aber zu seinen Lebzeiten waren Sie mit Bahr in Sicherheitsfragen keineswegs immer einer Meinung…

Lutz Unterseher: Man sollte einfach mal die Dimensionen der aktuellen Konfrontation sehen: Russland hat ungefähr die industrielle Basis Italiens, seine Haupteinnahmequellen sind fossile Energieträger wie Öl und Gas. Wir haben es hier also nicht mit einem Giganten zu tun. Entsprechend sollte man auch nicht in Hysterie ausbrechen, wenn über die russische Bedrohung gesprochen wird. Aber: Das Putin-Regime unterscheidet sich fundamental vom Regime der alten Sowjetunion, es ist aus sich heraus aggressiver. Daher kann man nicht einfach wie Egon Bahr an Ideen wie gemeinsame Sicherheit und gemeinsames Haus Europa anknüpfen. Ich sehe wenig Chancen für Diplomatie gegenüber einem Regime, dass keinerlei Kompromissbereitschaft zeigt. An diesem Punkt bin ich mit dem Manifest der SPD-Opposition überhaupt nicht einverstanden. Die darin enthaltene Kritik an der derzeitigen Aufrüstungspolitik aber teile ich.

Lutz Unterseher, geboren 1942, ist studierter Soziologe und habilitierter Politikwissenschaftler. Er spezialisierte sich früh auf Militärpolitik und war langjähriger Vorsitzender der “Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik”, die Ideen einer rein defensiv orientierten militärischen Strategie diskutierte. Unterseher veröffentlichte zahlreiche Publikationen zum Thema Krieg und Frieden.

Thomas Gesterkamp
Dr. Thomas Gesterkamp ist Politikwissenschaftler, Journalist und Buchautor. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Geschlechter- und Männerpolitik, zudem berichtet er über wirtschafts-, sozial-, bildungs- und kulturpolitische Themen. Er schrieb fünf Sachbücher und veröffentlichte rund 4000 Beiträge im Hörfunk, in Tages- und Wochenzeitungen sowie in Sammelbänden und Fachzeitschriften. Website: https://thomasgesterkamp.com/

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