Auch Unkenntnis speist die Kritik am Sozialstaat

Screenshot: Website Bundesministerium für Arbeit und Soziales

Der Beitrag in den BruchstückenEin Sozialstaat, der trägt“, genannt Aufruf („Wir bauen den Staat von morgen“) hat in mir einen Verdacht wachsen lassen. Und zwar den Verdacht, dass die Kenntnisse der Funktionsweise, des Sinns und der Möglichkeiten des Sozialstaats, gemessen an früheren Zeiten (die der kenntnisreichen Betriebsrätinnen und Betriebsräte sowie der ehrenamtlichen Sozialberater, der Versichertenältesten etc.), gravierend kleiner geworden sind. Ich kann in diesem Zusammenhang die Tatsache anführen, dass die Gruppen der geflüchteten Menschen und der Arbeitslosen von der sogenannten „Öffentlichkeit“ als besonders unfair bevorzugt bewertet werden, obgleich sie mit Blick auf die gesamten Sozialstaatsausgaben keine herausragende Bedeutung haben. Das meine ich jedoch nicht.

Auffallend ist jedenfalls, dass das Ansehen des Sozialstaats in der Gesellschaft enorm zurückgegangen ist; und dass bis zu 80 v.H. bei Befragungen Enttäuschung sowie Vertrauensverlust signalisieren. Das hat leider Tradition. Die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt pflegte mit Blick auf eine bestimmte Sozialstaatskritik zu sagen: Wenn in Oberhausen eine Operation nicht durchgeführt werden kann, weil ein Arzt krank geworden ist, werde ich dafür verantwortlich gemacht. Eine solch „unterkomplexe“ Sicht auf Sozialsysteme gibt es demnach bereits sehr lange. Sie, die unterkomplexe Sicht, ist eine Art Kehrseits des Wortes, das in dem erwähnten „Aufruf“ nicht vorkommt. Geduld, Geduld, dazu komme ich noch.  

Gibt es keinerlei positive Narrative zum und über den Sozialstaat mehr? Unterliegt Selbstverständliches wie selbstverständlich dem Verfall positiven Denkens (alles geht den Bach runter; diese Politiker! Abgehoben! Türmen ein bürokratisches Monster auf das andere. Wissen nicht mehr…)? Zum Glück hat uns ein gnädiges Geschick, so lese ich, die Digitalisierung gesandt – ein wunderbares Geschenk, das uns hilft und zeigt, wie Mensch Ordnung schaffen und wieder  Effizienz in ein heraufziehendes Knappheits-Zeitalter bringen könnte.

Ist das so? Müssen wir nun Pionierinnen und Pionieren folgen, die uns mit einem „Sozialkonto“ beglücken wollen? Was soll das sein, beziehungsweise, was soll das leisten und wie soll das ausgestattet werden?

Anderes ist, pardon, Stammtisch.

Für die mitgliederstärksten Teil-Systeme gibt es das  längst. Ich zitiere aus dem Sozialgesetzbuch Nummer 6, Paragraf 109: „Versicherte, die das 27. Lebensjahr vollendet haben, erhalten jährlich eine schriftliche oder elektronische Renteninformation. Nach Vollendung des 55. Lebensjahres wird diese alle drei Jahre durch eine Rentenauskunft ersetzt. Besteht ein berechtigtes Interesse, kann die Rentenauskunft auch jüngeren Versicherten erteilt werden oder in kürzeren Abständen erfolgen.“

Ich kann also jederzeit, wenn ich das will,  ab 27 Jahren erfahren, was ich an Guthaben auf meinem Rentenkonto habe (27 Jahre – das sind zwei bis drei Jahre über dem Alter, ab dem heute im Durchschnitt eine Erwerbsarbeit aufgenommen wird). Und und ab einer Altersgrenze von 55 (12 Jahre vor dem vorläufigen Ende der Erwerbsphase) erfahre ich, wie hoch meine Rente ausfallen  könnte, sofern dem Sozialstaat zwischenzeitlich die Puste nicht ausgeht. Vergleichbare Auskunftsmöglichkeiten bietet die gesetzliche Krankenversicherung.

Eine Folgerung ist: den erwähnten Staatsreform-Pionieren mehrerlei Geschlechts geht es nicht um die mitgliederstärksten Subsysteme des Sozialstaates, sondern um Leistungsbereiche, die in bestimmten Lebenslagen aktiviert werden: Bürgergeld, Sozialhilfe, Wohngeld, Bundesteilhaberecht, Kinderzuschlag, Unterhaltsvorschuss etc. Und um deren Schnittpunkte. Hier habe ich Verständnis für Kritik. Ein gewisses. Aber sowohl für die großen Subsysteme als auch für die Verschachtelung der kleineren Leistungsbereiche gilt das Wort, das ich als fehlend identifiziert hatte: der Rechtsanspruch.

Der Gesetzgeber (nicht irgendein unspezifischer Staat) hat entschieden, dass auf unterschiedliche Lagen mit Förderung, Unterstützung, Hilfe reagiert werden soll. Das ist Folge der enormen Individualisierung unserer Gesellschaft sowie des Bemühens, Armut so gut es geht zu verhindern und Potenziale nicht verloren gehen zu lassen. Grundlagen sind stets Rechtsanspruch und Anspruchskriterien. Und im Zeitablauf sollen fortwährende individuelle Änderungen der Lebenssituationen berücksichtigt werden. Sofern Digitalisierung hier hilft: You are welcome!

Anderes ist, pardon, Stammtisch. Etwa Kritik am Bundesteilhabegesetz, das erst 2023 (!) die alte, völlig unzureichende Eingliederungshilfe ersetzt hat. 2023 wurde ein eigener Rechtsanspruch der behinderten Menschen geschaffen. Kritik gab´s und gibt es wegen unzureichender Umsetzung, wegen fehlender Finanzierung in bestimmten Wohnformen und weil die Auswirkungen des Rechtsanspruches für Unternehmen zu hoch seien. Wir bräuchten „den Mut, dort zu reformieren, wo bisher gezögert wurde“, heißt es mit Blick auf das Behindertenrecht, das mal eben zwei Jahre alt ist. So etwas entwertet Reformbestrebungen. Wenn das der „Staat von morgen“ ist: Vielen Dank aber ich bin bereits bedient.

Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres. 2025 erhielt Vater den Gregor-Gog-Literaturpreis.

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert