Am 14./15. Mai 2023 hat Le Monde Adèle Haenels pünktlich zum Filmfestival in Cannes geäußertem Protest gegen Unsitten und Übergriffe im filmproduzierenden Milieu eine ganze Seite sowie ein Foto gewidmet, das in allen Details, vor allem aber im Blick der Hauptperson, der einen nicht loslässt, den Sprung von der Missbilligung in die Ablehnung, von der Ablehnung in die Verweigerung, vom standhaften Nein in das Ja zu einer irgend noch zu schaffenden gesellschaftlichen Alternative ausdrückt. «Cette fois, elle part pour de bon. Le cinéma, c’est fini.« Mit dem Kino ist es vorbei. Was wird sie jetzt machen?
Die von Le Monde aufgeführten Stellungnahmen lassen das Erschauern nicht zuletzt des sympathisierenden Teils der kreativen Szene spüren. Adèle Haenel hat die Sache durchgezogen und indem sie sich hinauskatapultiert hat, den Sanktionsmechanismus indirekt bestätigt. Sie verlässt, dies ihre Botschaft, ein zutiefst verdorbenes, der Korrektur unfähiges Milieu, in dem persönliche Verfehlungen nicht nur geduldet, sondern als Beweis für die Autonomie, den originalen Kunstcharakter der gesamten Branche beschützt und gefördert werden. Ausgespart bleiben beim Angriff auf das ganze System ausgerechnet die Werke, die ihm zugerechnet werden müssen. Dies geschieht sicherlich im Bewusstsein, dass sich hier das Tor zur Hölle öffnen würde, sprich der Zensur, aber auch, weil die direkte Frage nach dem Werk an Inhalte rührt, die kein Mensch, der irgend bei Trost ist, ohne den Beistand formaler Begriffe konfrontieren würde.
Verschonen lässt sich der Gegenstand nicht immer, wenn zum Beispiel „Tanz der Vampire“ auf dem Programm steht. Müsste die Vorführung aus Gründen der Verfehlungen seines Urhebers unterbleiben? Menschen, die, wie man sagt, im Leben stehen, wissen natürlich, dass sich das Produkt von der Person nie ganz wird trennen lassen, weder nach der Seite seiner Entstehung noch nach der seines Schicksals, selbst wenn das Werk längst um den Subjektstatus gebracht ist, der es ermöglichen würde, auch an seine Unversehrtheit zu denken, ist es doch bloß noch ein Ding, bestenfalls ein gefährliches, das „triggert“. Ob schlimme Personen schätzenswerte Werke, sagen wir es offen, böse Menschen gute Werke hervorbringen können, diese Frage liegt heute so radikal außerhalb jeglichen Interesses, wie sie, verpackt in die Symbiose von Wahnsinn und Kunst, die Debatte über Generationen beherrscht hat.
Eine Woche später, 21./22.5. 2023, auf einer Festival-Sonderseite von Le Monde, ergreift Monia Chokri, kanadische Regisseurin und Schauspielerin, «une femme d‘influences«, «élevée par des parents militants communistes«, nicht nur entschieden Partei, sondern stellt den Konflikt selbst bloß. In Frankreich, sagt sie, kommt sie sich in Bezug auf „bestimmte Themen, besonders Gewalt gegen Frauen, Gleichheit, Toleranz, Immigration“ wie auf einer „Reise in die Vergangenheit vor“, glatte dreißig Jahre zurück, «trente ans en arrière«. Sie mag Frankreich, aber sie findet das Land «violent«, gewalttätig. Im Québec, wo sie zu Hause ist, ist es «très différent«, ganz anders. Sich wie ein Autokrat aufzuführen, nicht respektvoll mit wem auch immer umzugehen, ist, vorsichtig gesagt, unüblich. Freundlich zu sein setzt einen dort nicht wie in Frankreich dem Verdacht aus, ein Blödmann zu sein. Anschaulicher kann man es nicht ausdrücken: «Etre gentil là-bas ne signifie pas être con, comme on a tendance à le croire en France.«
Schwieriger ist es, Monia Chokri in der affirmativen Darstellung zu folgen, wenn sie das Genie, das ein «chef-d‘œuvre« hervorbringt, als gutartig und zugewandt beschreibt, «étant quelqu’un de bon, de bienveillant, à l‘écoute«. Ihre Drehs seien in einer Atmosphäre der «bonne humeur« und des «esprit de famille« entstanden als einer unabdingbaren Voraussetzung gerade für «les scènes d’étreinte amoureuse«, so dass sich schließen lässt: Je gewagter die Szene, desto unverzichtbarer Vertrauen und Respekt.
Wer weiß, vielleicht fehlen im alten Europa für eine solche Sicht auf die Dinge einfach die Voraussetzungen. Hier, wo jede Kritik auf der Vorannahme des Bösen beruht, an dessen schonungsloser Aufklärung sie sich abarbeitet, kann Gutartigkeit nur als Naivität und Verharmlosung, gar als Schönfärberei aufgefasst werden. Was eine solche Kategorie auf der Ebene der Voraussetzungen, nicht der Eigenschaften bedeuten würde, mag in modernen Bezeichnungen wie „strukturell“ und „systemisch“ zwar eingefordert werden, entzieht sich aber der hiesigen Vorstellung. So begeisternd es daher ist, wenn Monia Chokri lapidar feststellt, dass «aucune œuvre ne justifie que l’on brise des gens«, kein Werk es rechtfertigen kann, dass man die Leute kaputtmacht, so rätselhaft bleibt die Frage, wie denn ein Werk entstehen sollte, wenn nicht auf der Basis des Bösen, als Wunscherfüllung, Traumaverarbeitung usw. Ein anderes Gerüst müsste errichtet, dem Schaffensprozess ein ganz neues Schema zugrunde gelegt werden, aber „woher nehmen und nicht stehlen“? Eher vorzustellen wäre eine Welt ohne Werke und der Gedanke ist gar nicht mal so unangenehm.