„Was macht der Journalismus, müsste er bei einem Blackout ohne Energie auskommen?“

Der renommierte Kommunikationswissenschaftler Otfried Jarren sieht kritisch auf die Krisenberichterstattung des öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Diese Analyse, publiziert in epd-Medien, wurde national und international beachtet, kritisch und zustimmend. Zu seinen Vorhalten und den Reaktionen fragten wir Jarren. Das Interview führte Wolfgang Storz.

Was ist im Kern Ihr Vorwurf an die öffentlich-rechtlichen Medien?

Jarren: Es geht nicht um „Vorwürfe“, sondern um Beobachtungen, ihre Ergebnisse und Bewertungen. Diese beziehen sich auf das linear verbreitete Fernsehprogramm, ausschließlich Primetime, und zwar in den ersten fünf Tagen.

Analysiert und kritisch bewertete ich nach Ausbruch der Krise das Format der Berichterstattung. Das Prinzip: erst Nachrichten und dann eine „angehängte“ Sondersendung. In diesen Sondersendungen traten vielfach die gleichen Akteure wie in den Nachrichten auf, ob aus der Politik oder aus der Wissenschaft, zum Teil wiederkehrend sogar die gleichen Personen. In den Nachrichten wie in den Sonderformatsendungen: schlechte statistische und graphische Aufbereitung und Darstellung von Daten — keine Zeitvergleiche, kein Vergleich von Bundesländern oder Staaten. Alles war – ob ARD oder ZDF – arg unsystematisch. Hinzu kommt in diesen ersten Tagen: Es gab an den Quellen der Informationen keinerlei Kritik, sie wurden auch nicht bewertet. Es ist ja wichtig zu wissen, ob ein befragter Wissenschaftler beispielsweise an einem staatlich finanzierten Institut arbeitet oder nicht. Und es zeigte sich ein offenkundiger Mangel an interner sozialwissenschaftlicher Kompetenz — der zeigt sich heute noch.

Zum Verständnis: Nennen Sie uns Beispiele zu Ihrem letzten Vorhalt?

Jarren: Es fehlen Angaben zur Fallzahl wie zur Grundgesamtheit bei den wiedergegebenen Daten. Die Fehlerbandbreite wird nicht dargestellt, selten nur verbal angesprochen. Bei Entwicklungen, also laufenden Prozessen, sind Zeitreihen sinnvoll, statt immer nur „Tageswerte“ zu publizieren. Wenn zwischen Bundesländer oder gar Staaten verglichen wird, so muss auf die Unterschiede aufmerksam gemacht werden. So die Besonderheiten für Italien mit einer bestimmten gesellschaftlichen Altersstruktur erwähnt werden – aus der dann besondere Effekte resultieren (können). Die graphische Darstellung ist für ein visuelles Medium sehr bescheiden.

Was machen die öffentlich-rechtlichen Medien gut?

Jarren: Ich verteile keine Noten, ich bin kein Fernsehkritiker. Aber die öffentlich-rechtlichen Anstalten verfügen über gute Nachrichtenressourcen, das sieht und hört man.

Das Thema war wohl virulent

Sie kritisieren insbesondere den NDR. Nun veröffentlicht ausgerechnet dieser Sender beispielsweise einen Wissenschafts-Podcast mit dem Virologen Christian Drosten, Institutsdirektor an der Charite, für den auch der Sender weithin gerühmt wird.

Jarren: Das mag so sein. Ich beziehe mich nicht auf Netz- und weitere Angebote, sondern – wie gesagt – vor allem auf die Prime Time bei der lineraren Fernsehverbreitung. Übrigens: Auch den einen wie anderen Podcast habe ich, einige auch von Herrn Drosten, mit Gewinn genutzt. Zum Glück bietet das Netz zahllose Zugänge zu wichtigen Quellen.

Warum haben Sie sich in Ihrer Analyse auf die öffentlich-rechtlichen Medien konzentriert? Zu privatwirtschaftlichen Fernsehsendern oder zur privatwirtschaftlichen Tagespresse sagen Sie nichts.

Jarren: Nein, weil ich mich auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus guten Gründen fokussiert habe: In aktuellen Situationen ist das Fernsehen das Leitmedium. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist bei den Nachrichten Marktführer, er hat die besondere (und ihm zugeschriebene) Nachrichtenkompetenz, ihm wird eine vergleichsweise hohe Glaubwürdigkeit zuerkannt.

Welche Reaktionen haben Sie erhalten?

Jarren: Viele, überraschend viele sogar. Das Thema war wohl virulent. Es gab Zustimmung wie Kritik. Es gab zahlreiche Anfragen für Interviews, Statements … . Und es gab auch aus meinem beruflichen wie persönlichen Umfeld viele Rückmeldungen. Die Thematik ist vielschichtig und komplex. Die Analyse der Medienberichterstattung wird nun sicher in breiter Form und systematisch empirisch erfolgen. Das ist wichtig.

Was inszenieren wir hier?

Rechte Medien wie die Junge Freiheit und Politiker wie der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans Georg Maaßen (bis November 2018) reichen Ihren Vorhalt des „Systemjournalismus“ gerne als Bestätigung ihrer eigenen Medienkritik weiter, die da lautet: Medien handelten grundsätzlich im Dienste von undurchschaubaren herrschenden Eliten. Wie gehen Sie damit um?

Jarren: Ich teile solchen Unsinn wie Pauschalannahmen nicht.

In der Sozialwissenschaft ist der Systembegriff weit verbreitet. Er wird sowohl zur Beschreibung wie Analyse von Handlungen auf der Mikro-Ebene der Gesellschaft verwandt, aber auch in der Gesellschaftstheorie, so der Systemtheorie. Der Systembegriff ist natürlich nicht „geschützt“ und sicher nicht allein wissenschaftlichen Arbeiten vorbehalten. Der Begriff macht Sinn, wenn bestimmte soziale Interaktionsstrukturen wie -prozesse dargelegt und analysiert werden sollen – so auch solche, die ständig im Medium Fernsehen visuell gut sichtbar konstituiert werden. Solche Formen sind, auch von den Journalistinnen und Journalisten, immer ganz praktisch zu hinterfragen: Was oder wen inszenieren wir hier? Wer ist am Tisch dabei, wer nicht? Welches Thema wird behandelt, welches nicht? Der Journalismus wird das, er muss das, stets reflektieren.

Ansonsten lässt der Begriff „System“ manche rechte wie wohl einige linke Akteure aktiv werden. Dass könnte ein typisch deutsches Phänomen sein. Auffällig jedenfalls war für mich diese Responsivität. 

Haben sich die Medien auf solche Krisen überhaupt vorbereitet?

Welche Medien erfüllen nach Ihrer Beobachtung in dieser Krise Ihre Kriterien  einer qualifizierten Berichterstattung? Welche empfehlen Sie?

Jarren: Wie gesagt: Noten kann und will ich nicht vergeben. Ich weiß auch nicht sicher, für wen etwas „gut“ oder „nicht so gut“ ist oder sein kann. Es gibt die empirische Möglichkeit, systematisch Programme zu analysieren und sie sodann vergleichend zu qualifizieren. Dazu gibt es allgemeine Studien und dazu wird es sicher alsbald auch Studien zur laufenden Berichterstattung geben.

Nun sind nach den Lehrbüchern des Journalismus die Ansprüche an öffentliche Kommunikation in demokratisch-liberalen Gesellschaften recht hoch: Vielfalt an Perspektiven, Überprüfbarkeit, Verständlichkeit, Unabhängigkeit und manches mehr. Kann es sein, dass diese Erwartungen unter den gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen unerfüllbar sind?

Jarren: Solche Normen wie professionelle Regeln sind wichtig für die Journalistinnen und Journalisten. Sie sollen ihr Verhalten prägen. Das ist wichtig für die Rezipienten, denn sie müssen wissen, mit was sie rechnen können, auf was sie sich verlassen dürfen. Normen wie Regeln strukturieren Erwartungen. Hier kommt dem Journalismus eine konstitutive Rolle zu: Er entscheidet über Sendeformate, Sendeformen, Zeitpunkte für Nachrichten, Formen der Vermittlung und so weiter. Welche Ziele verfolgt der Fernsehjournalismus? Was will er wem (und in welcher Form) vermitteln? Wen lässt er zu Worte kommen, wen nicht? Welche Bilder sind gerechtfertigt, welche nicht? Wo stehen bei Bildern die Quellen und Daten – oder werden sie gar nicht angegeben? Wie werden Expertinnen und Experten vorgestellt und eingeführt?

Die handelnden Akteure sollen sich auf bestimmte Werte wie Ziele verpflichten: Dann kann organisationsintern wie extern darüber reflektiert werden, was nicht erreicht oder was erreicht wurde — und was die Gründe sind. Sodann kann man über Regelwerke nachdenken: Wie soll verfahren werden bei Krisen, die überraschend aufkommen: COVID-19? Wie ist es mit der laufenden – einer schleichenden – Krise wie dem Klimawandel: Wie geht der Journalismus damit um? Und wie ist es eigentlich um die sogenannte „Schweinegrippe“ bestellt? Dazu nur als eine Nebenbemerkung: Da soll es doch zur deutsch-dänischen Grenze diese Zäune geben….

Übrigens: Eine der wahrscheinlichsten Krisen wäre ein Black Out, der Stromausfall. Was macht der Journalismus, wenn auch er so ganz ohne Energie auskommen müsste? Ich will damit nur etwas antippen: Auf derartige Ereignisse muss man in der modernen, vernetzten Gesellschaft eingestellt sein. Haben die Chefredaktionen von ARD wie ZDF sich damit befasst und ihre Redaktionen dafür geschult?

Was haben Sie aus der Resonanz gelernt und aus der Kritik an Ihrer Position?

Jarren: Feedback wie Kritik spornen an. Auch zum Weiterdenken.

Professor Dr. Otfried Jarren war bis Januar 2019 Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich und ist Präsident der Eidgenössischen Medienkommission (EMEK) in der Schweiz.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

1 Kommentar

  1. HERR JARREN VERGIBT SEINE CHANCE
    Herr Jarren sagt, er beschreibe. Aber er wertet. Das geht nicht anders. Also sollte er nichts anderes behaupten.
    Herr Jarren kritisiert das Duo Tagesschau + Extra. Letzteres Format zeige Doubletten zum ersten. Das hat Tradition. Es ist eine bewusste Extended-Version-Strategie. Oder bezogen auf die Tagesschau: eine Condensed-Version-Strategie. Für den deutschen Normal-Zuschauer genau die Redundanz, die er braucht.
    Herr Jarren kritisiert mangelnde statistische Komplexität (geographische / chronologische Vergleiche). Die kamen in den ersten Tagen der hiesigen Krise nicht. Wie auch? China war nicht mit Südkorea oder Deutschland zu vergleichen. Es gab nichts zu vergleichen. Oder umgekehrt: Vergleiche hätten sehr gehinkt.
    Noch heute wird allenthalben kritisiert, dass Vergleiche nicht statthaft sind, weil es zu viele Faktoren gibt, die einbezogen werden müssten. Interessant wäre also eine Kritik, die feststellt, dass die Komplexität des Themas nicht nur die Medien, sondern unsere Auffassungsgabe überfordert.
    Es ging aber sehr schnell los mit den Vergleichen. Was sich aber medientheoretisch schnell zeigte: Das Internet ist dem TV haushoch überlegen. Permanente Aktualisierung, beliebiger Zugriff und hervorragende interaktive Karten auf verschiedenen Sites.
    Mittlerweile hat jede bessere Regionalzeitung interaktive und chronologische Karten. Ach ja: die Tagesschau auf ihrer Website natürlich auch. Und immerhin weist die Tagesschau immer auf den Webauftritt hin. Das ist komplementäre Multimedialität. Auch das TV-Format ist ja nicht mehr allein.
    Und die Heroisierung der Experten? Tja, alle Medien haben nach Experten gesucht. Und als sie welche hatten, ging die mediale Selektion als Wettbewerb los. Das Spiel hat die Tagesschau mitgemacht. Aber so behutsam, wie es ihren Seriositäts-Aspirationen entspricht. Dann bildeten sich Experten-Fanclubs, vor allem im Internet. Und schließlich revoltierten manche Experten gegen ihre Heroisierung. Ein interessanter Reigen. Was aber bleibt: Präsenz bedeutet Prominenz. Mediale Basis-Grammatik. Und die wollen Mehrheiten, weil Bekanntheit Sicherheit bedeutet.
    So könnte die Corona-Krise Medientheoretikern viel interessante Anregung bieten. Nur Herr Jarren hat nicht viel daraus gemacht.

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