Zwei politisch engagierte Frauen haben Ende Oktober in der Öffentlichkeit viel mediale Aufmerksamkeit gefunden: Sahra Wagenknecht mit der öffentlichen Bekanntgabe einer geplanten Parteigründung sowie den programmatischen Aussagen dazu am 22. 10. 2023 und Christiane Benner, die mit überwältigender Mehrheit als erste Frau in der Geschichte der IG Metall zur 1. Vorsitzenden gewählt wurde und mit ihrer Grundsatzrede „Zeit für Zukunft“ am 24.10. Akzente gesetzt hat. Im Alter nahe beieinander haben beide Frauen auch einen vergleichbaren Lebensweg. Sie kommen aus einfachen Verhältnissen und ihr sozialer Aufstieg durch Bildung ist ihnen gemein. Sie haben sich beide, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise, in ihren Organisationen durchgesetzt.
Benner und Wagenknecht agieren in einer Zeit, die von vielfältigen aufeinanderfolgenden und gleichzeitigen Krisen geprägt ist: Die Corona-Krise, der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und der notwendige Unterstützungsbedarf, der Klimawandel, der immer mehr politische Aktion und persönliche Verhaltensänderung verlangt, um die negativen Folgen halbwegs zu bewältigen und die digitale Transformation, deren Tempo atemraubend ist.
Der Neoliberalismus hat Spuren im gesellschaftlichen und individuellen Bewusstsein hinterlassen. Die faktische Vereinzelung ist ideologisch überhöht worden. Die Ideologie der Selbstoptimierung unterstellt, dass jede und jeder auf sich selbst angewiesen ist und Aufstieg und besseres Leben aus eigener Kraft erreichen kann. Jeder, der auf der Strecke bleibt, ist selbst daran schuld. Achtsamkeit kann ein sehr schönes Programm sozialer Zuwendung und gegenseitiger Rücksichtnahme sein, wird aber mehr und mehr auch als Management- und Führungsstil mit Motivation zur Selbstausbeutung genutzt. Dass die objektiven Gegebenheiten wenig geeignet sind, Aufstiegsmöglichkeit und Verbesserungschancen zu eröffnen, führt zu erheblicher Diskrepanz zwischen Komplexität der Herausforderungen und eigenständigen Handlungsmöglichkeiten.
Der Eindruck, dass die Politik notwendiges Handeln schlecht vorbereitet, kaum erklärt oder gar nicht erst anpackt, frustriert die Menschen extrem. Da sind in der Tat „politische Leerstellen“ entstanden, die der AfD ihren Aufstieg ermöglicht haben. Mit populistischen Parolen, die die Zustände skandalisieren, aber keinerlei Lösungen anbieten, gewinnt sie Menschen, die sich in der privaten Lebensführung bedrängt und beeinflusst fühlen, sich von den Krisen und von den Anforderungen an ihre persönliche Lebensführung überfordert sehen. Die Regierung der jetzigen Ampelkoalition hat wenig dazu getan, dem entgegenzuwirken und das, was sie getan hat, nachvollziehbar allgemeinverständlich zu erklären.
Bisky: Mit Haltung und Haaren Rosa Luxemburg
Sahra Wagenknecht hat sich immer durch besondere Konfliktpositionen profiliert. Sie tritt noch im Frühsommer 1989 in die SED ein als der Umbruch in der DDR schon unübersehbar war. Ihr Markenzeichen zu dieser Zeit ist „Kommunistin“, als Mitglied der „kommunistischen Plattform“ der PDS, in deren Vorstand sie 1991 kommt. Sie lobt die Modernisierungsleistungen Stalins zu einem Zeitpunkt, als die PDS sich vom stalinistischen Erbe zu verabschieden beginnt. Sie sieht in der friedlichen Revolution der DDR eine Konterrevolution.
Wagenknecht verbindet ihre politischen Aussagen mit einem gezielten ästhetischen Stil und entsprechender Inszenierung ihres Auftretens. Schon Lothar Bisky ironisiert, dass sie mit Haaren und Haltung auf die linke Ikone Rosa Luxemburg Bezug bezieht. Und aktuell vergleicht A. Kilb sie in der FAZ in Gehabe und Auftreten mit der Burgunderfürstin Krimhild, der die Höflinge zu Füßen liegen und die das darniederliegende Burgund retten will. Ihre Klugheit und Redegewandtheit sowie ihr persönliches Auftreten machen sie zu einem Liebling der öffentlichen-rechtlichen Medien ebenso wie der „bürgerlichen“ Presse jeder Couleur.
Ihren polarisierenden Kurs setzt Wagenknecht fort und findet damit immer stärker ihre Plattform in den Medien durch Abgrenzung von ihrer Partei, anstatt sich für eine politische Profilierung, die sie will, in ihr einzusetzen. Ihre Entfernung von den Positionen ihrer Partei schreitet voran, auch wenn sie noch lange Fraktionsvorsitzende ist. Die politische Arbeit führt sie mit Oskar Lafontaine zusammen, dessen politischer Weg strukturelle Ähnlichkeit mit dem Sahra Wagenknechts aufweist: Er wirft 1999 im Konflikt mit Gerhard Schröder in der SPD das Handtuch hin, statt für seine Positionen zu kämpfen, braucht aber damals keine eigene Partei zu seiner politischen Selbstverwirklichung zu gründen, sondern tritt 2005 in die neu gegründete Wählerinitiative „Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ ein, die im selben Jahr mit der PDS zur Linkspartei fusioniert. Lafontaine wird Fraktionsvorsitzender und später auch Parteivorsitzender, gibt aber die Ämter aus gesundheitlichen Gründen 2010 wieder auf. Er wird dann ebenso wie Sahra Wagenknecht, mit der er seit 2012 ein Paar bildet, ein scharfer Kritiker der Linkspartei, bis er im März 2022 aus der Partei austritt.
Benner lehnte es ab, DGB-Vorsitzende zu werden
Der Lebensweg von Christiane Benner ist auch von Konflikt gekennzeichnet, aber sicher weniger spektakulär. Da zunächst kein Geld für ein Studium vorhanden war, startet sie nach dem Abitur ihre Arbeit in einem Metall-Betrieb. Als IG Metall-Mitglied und Betriebsrätin gerät sie schnell in Konflikt mit der Geschäftsführung. Sie kündigt ihre Arbeit und startet ein Studium, das sie nach Stationen in Marburg und Chicago in Frankfurt mit Diplom abschließt. 1997 fängt sie hauptamtlich bei der IG Metall an, zunächst in der Verwaltungsstelle Frankfurt und wird nach Stationen in der Bezirksleitung Niedersachsen-Sachsen-Anhalt Fachbereichsleiterin bei Vorstand der IG Metall. 2011 wurde sie als geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall gewählt, 2015 zur zweiten Vorsitzenden und jetzt zur 1.Vorsitzenden der IG Metall. Ihr Auftreten ist gewinnend und sachorientiert. Sie zeigt in ihrem Werdegang auch keine Scheu vor Konflikten und beweist große Durchsetzungsfähigkeit, lehnt die Möglichkeit ab, den DGB-Vorsitz zu übernehmen und hat ihr Ziel, 1. Vorsitzende zu werden, fest im Blick. Aber sie gewinnt ihr persönliches Profil nicht gegen die Organisation, deren Mitglied sie ist, sondern mit und in ihr.
So unterschiedlich wie der konkrete politische Lebensweg, so unterschiedlich ist beider Auftreten und politische Wirkungsweise. Sarah Wagenknecht stilisiert sich als die herausragende Spitzenperson und überragende Führungsfigur, die sich mit zustimmenden Getreuen umgibt. Christiane Benner hat sicher auch mit Konfliktfähigkeit und Durchsetzungskraft ihre Wahl an die Spitze der IG Metall erreicht. Aber sie sieht sich von Anfang an als Teamplayerin, als „prima inter pares“, die von Dialogen und bei Bedarf auch Kontroversen im Team lebt, vor allem aber getragen wird von einer Mitgliedschaft, als deren Repräsentantin sie sich sieht. Symbolkräftig bittet sie zum Schluss ihres Grundsatzreferats auf dem Gewerkschaftstag alle gewählten geschäftsführenden Vorstandsmitglieder ans Rednerpult, damit sie gemeinsam den Applaus entgegennehmen.
„Metallerinnen und Metaller haben ein Herz aus Stahl.
Dieses Herz ist grün“
Wagenknecht formuliert ihr politisches Programm als ein „Bündnis für Wagenknecht“. Und man muss kein Schelm sein, wenn man denkt, dass das auch als Fortsetzung ihres politischen Selbstvermarktungskonzepts gemeint ist. Ihr Gehabe und zeremonielles Auftreten ist ein deutlicher Ausfluss der Selbstoptimierung und Selbstbezogenheit, die sie eigentlich vorgibt zu bekämpfen.
Der formelhaften und altbekannten Forderung nach „Entflechtung der Monopole“ bei Wagenknecht steht bei Benner ein detailliertes Konzept von mehr Mitbestimmung im Betrieb und Unternehmen, gesetzlich verankert, gegenüber, um Standorte und Arbeitsplätze zu sichern, um die Transformation zu bewältigen und die Arbeitnehmer: innen dabei mitzunehmen. Benner unterstreicht den Zusammenhang zwischen betrieblicher und politisch-gesellschaftlicher Demokratie. Die Stärkung der Gewerkschaften und Betriebsräte, der Ausbau der Demokratie in Betrieb und Unternehmen sichert ihrer Auffassung nach auch die Demokratie in der Gesellschaft. Das ist Benners Weg hin zu einer Wirtschaftsverfassung jenseits eines menschenfeindlichen und umweltzerstörenden Kapitalismus. Gewerkschaften und Mitbestimmung kommen bei Wagenknecht nicht vor. Umgekehrt spielt die Wagenknecht-Initiative auf dem Gewerkschaftstag keine Rolle.
Der richtigen, aber leeren Forderung nach sozialer Gerechtigkeit bei Wagenknecht steht bei Benner ein detailliertes Programm gegenüber mit Ausweitung der Tarifbindung durch ein staatliches Tariftreuegesetz, einem Aktionsprogramm Tarifbindung der Bundesregierung sowie einem Steuerkonzept, das Beschäftigte entlastet und Reiche besonders deutlich belastet.
- Statt der einfachen Forderung Wagenknechts, für billiges Gas und Öl aus Russland die weitere Unterstützung der Ukraine zu opfern, formuliert Benner ein engagiertes Ja zur Energiewende , zum Ausbau der Sonnen- und Windenergie und dem Einsatz von leistungsfähigen Wärmepumpen. Benners Bekenntnis zur grünen Energiewende gipfelt in dem Satz: „Metallerinnen und Metaller haben ein Herz aus Stahl. Dieses Herz ist grün“. Ein „Brückenstrompreis“ soll diesen Weg mit Stärkung der industriellen Basis ermöglichen.
- Statt wie Wagenknecht über zu teure Elektroautos zu jammern, die nur etwas für Reiche seien, formuliert Benner ein stringentes Konzept für den Bau von Elektroautos in Deutschland, die von allen bezahlbar sind, verbunden mit Förderungen für den Kauf vor allem dieser Autos.
- Statt der falschen Behauptung Wagenknechts, mit der sie sich in ein Boot mit Söder, Aiwanger und Chrupalla setzt, Wärmepumpen und Solarenergie seien zu teuer, steht bei Benner der begründete Hinweis auf die enorme Leistungssteigerung und Kostensenkung von Wärmepumpen sowie anderen Grundlagen regenerativer Energieversorgung.
- Statt wie Wagenknecht die Zuwanderung pauschal begrenzen zu wollen, warnt Benner nachdrücklich vor einer Änderung des Asylrechts und weist die Willkommenskultur der IG Metall mit ihren hunderttausenden Mitgliedern mit Migrationshintergrund als beispielhaft für die Gesellschaft aus.
Die Programmsätze von Wagenknecht sind irrlichternder Populismus. Die Zukunftsrede Benners ist Ermunterung und Ermutigung zu politischem Handeln, mit vielen konkreten Beispielen betrieblicher Erfolge und tariflicher Errungenschaften sowie klaren politischen Forderungen, zeigt die Kompromiss- und Konfliktfähigkeit der IG Metall. Die globalen Krisen und regionalen Kriege mit ihren Folgen, die konkreten Ängste und Sorgen der Bürger:innen vor Migration, nicht bezahlbarem Wohnraum, schlechter Infrastruktur und katastrophalen Bildungschancen. kommen in der Rede allerdings so gut wie nicht oder nur am Rande vor.
Es sagt viel über die Massenmedien…
In den kommenden gesellschaftlichen Debatten und der politischen Willensbildung geht es nicht nur um politische Inhalte, sondern auch um die Frage, welcher Stil von Politik sich durchsetzt: Jener, der sich dadurch kennzeichnet, von Lafontaine schon vorgeformt, dass man statt um Mehrheiten zu ringen, Diskussionen zu führen, und Kompromisse zu suchen, neuen Bewegungen nachläuft oder sie zu gründen versucht, die mit populistischen Parolen verunsicherte Menschen anlocken, anstatt die schwierige Arbeit vernünftiger Aufklärung zu betreiben und dabei die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen.
Wagenknecht repräsentiert genau die Abgehobenheit von Politik, die sie geißelt. Auch in der bisher bekannten personellen Ausstattung kommen die abhängig beschäftigten Menschen nicht vor. Benner repräsentiert die arbeitende Bevölkerung, den Querschnitt der Gesellschaft, durch die Mitglieder, die sie gewählt haben.
Im Grunde stehen hier zwei Politikmodelle diametral gegeneinander: Zum einen Persönlichkeitskult, Politik und Propaganda und (Re)Präsentation eines Egos; zum anderen Teamwork, kontroverse Diskussionen, demokratische Beteiligung und vor allem handfeste Verankerung bei den arbeitenden Menschen. Wie gesagt, eine Gewerkschaft mit Millionen Mitgliedern und eine Bewegung oder Partei sind schwer vergleichbar. Aber das politische Agieren und Politikstil sehr wohl.
Es sagt viel über die Massenmedien, dass offenkundig das erste Modell des politischen Agierens in ihnen eine größere Resonanz findet. Sicher können und müssen Gewerkschaften und ihre Repräsentanten in ihrer medialen Präsenz vieles besser machen, das hat der neugewählte Vorstand der IG Metall auch klar zum Ausdruck gebracht. Aber die Aufmerksamkeitsökonomie hat ihre eigenen Gesetze.
Manche spekulieren, dass Sahra Wagenknecht der AfD bei den nächsten Wahlen, den Europawahlen und den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, Stimmen wegnehmen könnte. Das halte ich für mehr als fraglich. Und wenn, es wäre ein Pyrrhussieg. Wenn rechte und rechtsradikale Propaganda und Parolen gegen nationalistische und sozialistische Linkskonservative ausgewechselt werden, wird wenig gewonnen, sondern Demokratieskepsis oder -feindschaft gefördert.
Der Gewerkschaftstag der IG Metall zeigte, wie in intensiver Diskussion mit Kontroversen und Kompromissen politische Programme in einer schwierigen Zeit formuliert werden können, wie der Bezug zu den arbeitenden Menschen praktiziert werden kann. Betriebe bzw. Unternehmen und Gesellschaft sind nicht deckungsgleich, sie haben ihre eigenen Funktions- und Sichtweisen. Trotzdem ist es richtig, dass mehr demokratische Mitbestimmung in Unternehmen auch die Demokratie in Politik und Gesellschaft fördert. Und so kann auch der Diskussionsstil eines Gewerkschaftstages, die Art des Umgangs miteinander beispielhaft für gesellschaftliche Diskurse und politische Willensbildung sein. Es sind keine billigen Parolen von Gerechtigkeit und Vernunft, sondern das Ringen um vernünftige Aufklärung und gesellschaftlichen Zusammenhalt, was in schwierigen Zeiten und bei multiplen Krisen notwendiger ist denn je.
Danke für den Artikel!
Ergänzend möchte ich auf eine Studie hinweisen – die Ihnen, Herr Lang sicherlich bekannt ist – die es aber m.E. verdient, breiter in der Öffentlichkeit bekannt zu werden: In der Leipziger Autoritarismusstudie 2020 wurde der Zusammenhang zwischen Industrial Citizenship, d.h. Beteiligung in der Arbeitswelt und demokratischen, d.h. nicht-populistischen Einstellungen untersucht hat. Die Studie zeigt anhand empirischer Daten, dass „Beteiligung, Solidarität und Anerkennung in der Arbeitswelt“ wichtige Faktoren sind, die gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sowie rechtsextremen und populistischen Einstellungen entgegenwirken (Johannes Kiess & Andre Schmidt in: Oliver Decker & Elmar Brähler (Hrsg.) (2020): Autoritäre Dynamiken – Leipziger Autoritarismusstudie 2020, S. 119-147).
Trotz ihres Habitus habe ich mit Frau Wagenknecht eher Lenin als Rosa Luxemburg verbunden. Die Diktion – in geschliffenem Deutsch – ihrer Argumente ist so mechanistisch, ihr Herrschaftswille absolut. Unter unter Demokratie versteht sie den politischen Nachbarn auszusaugen oder gar politisch zu vernichten.
Marx hat im Gegensatz zu ihr die Emanzipation der Arbeiterklasse immer eingebunden in die politische, gesellschaftlich und betriebliche Emanzipation und den Kampf für Demokratie. („Die englischen Arbeiterklasse kann sich nicht befreien, wenn sie den irischen Kampf für Unabhängigkeit nicht unterstützt.“)
Der Gegensatz zu Christiane Benners politischen und gewerkschaftspolitischen Vorstellungen ist deutlich in Klaus Langs Beitrag herausgearbeitet. Die Wagenknechtssche Demütigung ihrer Wunschwähler, sie seien auf billiges Gas gegen Aggression und Unterdrückung der Ukraine aus, macht mich fassungslos. Beschäftigte sind kreativer und produktiver als Wagenknecht meint. Ich glaube auch, dass die meisten so wie ich nicht unter Putin leben möchten.
Christiane Benner wünsche ich viel Erfolg.