Hey, jetzt gehts ab, wir schieben sie alle ab, sie alle ab, grölten die AfD-Anhänger auf der Wahlparty, und der Refrain hat es noch auf den Feuerwehrball im hintersten Taunus gebracht. Das Schlagwort Remigration, zentrales Versprechen des Rechtsextremismus, ruft in breiten Teilen der Bevölkerung Beifallsstürme hervor. Es sind die soziologisch dominierenden Schichten der deutschen Gesellschaft, es ist nicht der extremistische rechte Rand, wie sich die konservative Presse gerne einredet, die so verhetzt denken. Die Leipziger Soziologen weisen schon seit dem Beginn der Nullerjahre auf das bis in die sogenannte Mitte der Gesellschaft reichende Potential rechtsradikaler Ideologie hin.
Ihre empirische Studie, alle zwei Jahre aufwendig veranstaltet, tat man gerne als Ruf der Kassandra ab. Über die vorletzte Erhebung hieß es noch, sie entstamme der Zauberwelt der Villa Kunterbunt aus dem Hause der „kritischen Theorie“. Mit solcher Sottise lebt die Studie seit ihrer ersten Publikation und auch mit der Nichtbeachtung, der effektivsten Methode, öffentliche Meinung zuzurüsten.
In diesem Jahr ist alles anders. Selbst das sperrige Wort Autoritarismus hat die breite Wahrnehmung der Umfrageergebnisse nicht verhindert. Zu auffallend stimmen die Ergebnisse der ausgewerteten Fragebögen und der jüngst ausgezählten Stimmzettel überein. Allen großen Tageszeitungen, den Rundfunkanstalten, den Heute-Nachrichten war das von den Leipziger Zahlen erfasste autoritäre Syndrom eine Meldung wert. Die Landtagswahlen im Osten, die der AfD den zweiten Platz versprechenden Wahlprognosen der vorgezogenen Bundestagswahl, beglaubigen einen Satz, der noch vor kurzem als pure Schwarzmalerei gegolten hat: Die Demokratie kann sich…auf ihre Bürger nicht mehr uneingeschränkt verlassen.
Die Kampagne arbeitet
Wenn sich bald 39 Prozent der Wahlbürger in Deutschland eine einzige starke Partei wünschen und 19 Prozent eine Diktatur unter bestimmten Umständen für eine wünschenswerte Option halten, wackelt das demokratische Gebäude äußerst bedenklich. Endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl wünschen sich 32 Prozent und weitere 29 Prozent wiegen den Kopf und finden, ein solches Gefühl sei soo schlecht nun auch wieder nicht. Den Satz Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land unterschrieben vor zwei Jahren 40 Prozent der Bundesbürger, jetzt ist es beinahe die Hälfte. Die Hetzkampagne, mit der die AfD ihre Stimmen maximiert und die Kopie dieser Kampagne durch den CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz, entfalten ihre Wirkung. Die Kampagne arbeitet; so nennen das die Werbeleute, wenn ihre Spots die Verkaufszahlen der Ware hochtreiben.
Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen, wissen 33 Prozent der Westdeutschen, und in Ostdeutschland weiß es beinahe jeder zweite. Die Jobs den Autochthonen reservieren und bei Jobknappheit den Immigranten die Tür weisen, will ein Viertel der Befragten. Und wo die Ausländer Gegenstand der Wutbürger sind, ist der Hass auf die Juden nicht weit. Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß, sagen neun Prozent der Befragten, ein Antisemitismus, den weitere 23 Prozent noch unter der Decke halten.
Die Leipziger Sozialforscher, sozialpsychologisch gewitzt, lüften die Decke. Der die Juden betreffende Fragekomplex hat ihnen in der Vergangenheit immer die größte Kritik zugezogen. Die Teils-Teils-Antworten des Erhebungsbogens als manifesten Antisemitismus zu werten, wo er doch durchaus zweifelhaft sei, gehe nicht an. Dieser Einwand übersieht das Naheliegende. Offen judenfeindlich zu reden, widerspricht der sozialen Konformität. Kommen aber nicht dem Tabu unterliegende Gegenstände zur Sprache, wird ‚frei von der Leber‘ geredet. Es macht mich wütend, dass die Vertreibung der Deutschen und die Bombardierung deutscher Städte immer als kleinere Verbrechen angesehen werden – 29 Prozent Zustimmung. Israels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg – 23 Prozent Zustimmung. Solange man sich nicht offen zum Holocaust äußern darf, gibt es keine Meinungsfreiheit“ – 25 Prozent Zustimmung.
Angst vor Wohlstandsverlust
Die aufwendige Leipziger Erhebung – mit umfänglichem Fragebogen, Einzelinterviews und einem der Soziogeografie genau angepassten Pool an Befragten – erfolgt alle zwei Jahre. Zum ersten Mal gehen Testfragen in sie ein, die man als die linke Rationalisierung des gegen Juden gerichteten Hasses verstehen muss. Die die antizionistischen und antikolonialistischen Parolen schreien, bestreiten der deutschen Rechten das Monopol auf Ressentiment. Der Antisemitismus bietet den politischen Flügeln das ihnen jeweils sympathische Gesicht. Und lechts und rinks sind leicht zu verwechseln, wie man von Ernst Jandl weiß. Eines der neuen Items geht der Delegitimierung Israels nach, wie sie sich in dem Begriff Kolonialmacht ausdrückt. Die Sozialforscher wollen wissen, welche Parteipräferenz mit diesem Begriff korreliert. Und erstaunlich, es sind die AfD-Sympathisanten, die auf den höchsten Wert kommen. Ihr Idol Höcke, ein Postkolonialist? Verschwörungstheorien wiederum finden bei der sogenannten Linken regen Zuspruch. Es zeigt sich, dass die Links-rechts-Selbsteinschätzung einen geringen signifikanten Einfluss auf die Ausprägung des Antisemitismus hat.
Die Autorinnen und Autoren der Leipziger Studien zum autoritären Charakter (muss man sie mittlerweile die Leipziger Schule nennen?) besitzen gegenüber ihren Kollegen, die es in die Hitparade der soziologischen Bestseller schaffen, den großen Vorteil, der Mehrheitsgesellschaft keine Epithetons beizulegen, die nur auf den ersten Blick passen und sich beim zweiten als Oberfläche erweisen. Ihr Forschungsobjekt ist die deutsche Angestelltengesellschaft; zwei Drittel des Panels entstammt dieser Schicht. Deren Angst vor Wohlstandsverlust ist das politische Kapital der deutschen Rechten. Keiner Partei, keiner Gewerkschaft gelingt es, die Angestellten an sich zu binden und den Hassverkäufern zu entfremden. Und die Rechte zeigt, dass sie neu und nicht hinterm Berg ist. Sie hat alles im Angebot, was die Gesellschaft der Singularitäten so nachfragt. Wer beim Wahlkampf in den ostdeutschen Fußgängerzonen ihren Stand besucht, kann sich nebenan gleich tätowieren lassen.
Die Ostdeutschen sind mit den Verhältnissen unzufriedener als die Westdeutschen, stellt die Umfrage bei fast jeder Frage fest und schlägt dafür eine nachdenkenswerte Erklärung vor. Die ostdeutsche sei die einfache Arbeitnehmergesellschaft, quasi die proletarische, die in ihrer Mehrheit den Aufstieg in die Angestelltengesellschaft noch nicht geschafft und ob dieses Mankos noch mehr an Wut aufzuweisen hat. Arbeiter, Angestellte, sind das nicht Kategorien des vergangenen Jahrhunderts? Erklären deutsche Historiker und Soziologen die Differenz dieser beiden Schichten nicht längst für verschwunden? Aber Mentalität verschwindet nicht so leicht.
Ethnische und soziale Klassifizierung verschmelzen
Das den Angestellten eigene Standesbewusstsein porträtierte Siegfried Kracauer vor bald hundert Jahren, und es galt ihm als Bremskeil wirklichen Fortschritts. Dieses Bewusstsein ist nicht verschwunden. Die zum Aufwandsniveau eines heutigen Angestelltenhaushalts gehörende Warenfülle lässt das Ressentiments gegen die nicht ganz Mitgekommenen anschwellen. Ihnen gönnt man das Partizipieren am Warenreichtum nicht. Körperlicher Arbeit haftet ein Makel an, ein Arbeitsplatz im Büro oder im Homeoffice gilt als der bessere. Hinzu kommt eine Wahrnehmungsstörung, die die Arbeit mit Muskeln und Motorik für eine Sache der Fremden, der Ausländer hält. Die ethnische Klassifizierung Ausländer und die soziale Klassifizierung Arbeiter verschmelzen. Die Berufsstatistik beglaubigt diese Verschmelzung nicht, aber das führt zu keiner Irritation. Ein solches verzerrtes Bewusstsein ist im Übrigen nicht ungewöhnlich. In der deutschen Geschichte wurden kleine Viehhändler und Ladenbesitzer zur ausbeutenden Klasse erklärt.
Ein sekundärer Antisemitismus west trübe unter den Angestellten. Er treibt sein Unwesen, kann sich aber noch nicht recht entscheiden, wen er als den Schuldigen der Misere ausmachen soll, Herrn Habeck, die Grünen, alle Muslime oder den einzigen Olaf Scholz. (Den Klempner der Macht, so Friedrich Merz mit Gespür für das den Arbeitern geltende Ressentiment der Angestellten). Dass wirtschaftliche Misere herrscht, redet ihnen die AfD ein und Herr Merz tut es auch. Herr Lindner hat sich nun entschlossen, als Mann der Lösung zu gelten und nicht als Teil des Problems.
Aus den Antworten auf die Fragen nach der wirtschaftlichen Situation ergibt sich aus der Studie folgendes: Die eigene wird gar nicht als schlecht eingeschätzt, aber die wirtschaftliche Lage des Landes – des Standortes, wie es mit Anleihe bei der Sprache der Militärs auf allen Kanälen heißt – die gilt als katastrophal. Diffuse Abstiegsangst veranlasst das Treten nach unten. Derweil notiert der DAX nahe seines Allzeithochs, die ihm zugehörigen 40 Konzerne (mit Ausnahme der Autokonzerne) haben rote Backen, und überall werden Arbeitskräfte gesucht.
Quersubvention für die AfD
Die mit den völkischen Tönen lockende Rechte spricht beständig vom Untergang und malt eine ökonomisch aussichtslose Situation an die Wand. Die CDU, im nächsten Bundestagswahlkampf um ihre Pole Position besorgt, hält es für klug, ins gleiche Horn zu stoßen. Die Autoren sprechen vom Framing der Krise. Dass ihr keine Realität entspricht, macht die Krisenrhetorik nicht harmloser, sondern gefährlicher, schreiben sie. Sie zitieren Adorno, der davon spricht, daß Überzeugungen und Ideologien dann, wenn sie eigentlich durch die objektive Situation nicht mehr recht substantiell sind, ihr Dämonisches, ihr wahrhaft Zerstörerisches annehmen.
Die Beschwörung des Kairos, des Moments zwischen Vergangenheit und Zukunft, gehörte einmal zur Rhetorik der auf den revolutionären Schlag setzenden Arbeiterbewegung. Nun hat sich die konservative Revolution dieser Rhetorik bemächtigt. Der von den Autoren konstatierten ausgeprägten Krisenwahrnehmung entspricht die Erwartung eines grundlegenden Entscheidungsmoments. Diese Stimmung zu schüren, ist der extremen Rechten mit Hilfe der Merz-CDU gelungen. Die Liberalen, die den Strukturumbruch der deutschen Industrien moderieren wollen, indem sie staatliche Moderation verunmöglichen, verschaffen der AfD mit der die Industriepolitik verhindernden Schuldenbremse eine Quersubvention. Solange die Energie- und die Mobilitätswende stocken, ist die rechte Systemkritik nicht zu stoppen.
Für die Zukunft verheißt dies nichts Berauschendes. Man kann davon ausgehen, dass komplizierte Dreierkoalitionen im Bund und in den Ländern zur Regel werden. Und falls die politische Trickserei eines Herrn Lindner Schule macht, kann sich man leicht ausrechnen, wer davon profitieren wird. An obige Zahl sei erinnert: Bald 39 Prozent der Wahlbürger wünschen sich schon jetzt eine einzige starke Partei, ziehen also ein autoritäres Durchregieren einem langwierigen, parlamentarischen, in Kompromissen endenden Aushandeln vor.
Die Leipziger Soziologen bilden Einstellungstypen und sprechen von den Soliden, den Fragilen und den Autokratischen. Sie stehen zueinander im Verhältnis von 45 zu 28 und zu 17 Prozent. Das sind Zahlen, die man als zu gering veranschlagen muss, es sei denn, man setzt nicht auf demokratisch-parlamentarisches Aushandeln, sondern auf rechtsautoritäres Durchregieren.
Oliver Decker, Johannes Kiess, Ayline Heller & Elmar Brähler:
Vereint im Ressentiment. Autoritäre Dynamiken und rechtsextreme Einstellungen / Leipziger Autoritarismus Studie 2024, Buchreihe: Forschung Psychosozial
274 S., brosch.
ISBN-13: 978-3-8379-3397-0. Psychosozialverlag, Gießen 2024
Unter dem Titel „Propheten der Krise, Klempner des Kairos“ erschien der Beitrag zuerst auf textor.
Siehe auch die Bruchstücke-Rezension „Auffällige Polarisierung bei Gender-Themen„.