„Lamentos und Empörung ersetzen keine Sicherheitspolitik“

Am 24. 02. 2025 geht Putins „Blitzkrieg“ in sein viertes Jahr (Foto, bearbeitet, 27.02.22, Stefan Müller auf wikimedia commons)

Ohne jede Gegenleistung habe Trumps Telefonat mit Putin in Sachen Ukraine die internationale Isolation Putins durchbrochen. „Damit erfüllt er Putins sehnlichsten Wunsch: mit den USA auf Augenhöhe über die Zukunft der Ukraine und Europas zu verhandeln — über deren Köpfe hinweg“, sagt Andreas Wittkowsky im Interview mit Wolfgang Storz. Der Osteuropaexperte analysiert detailliert und ausführlich sowohl die militärische Lage als auch die politische Situation. An Putins Strategie gegenüber Europa habe sich nichts geändert. Angst zu schüren bleibe sein wichtigstes Instrument. Auch der russische Drohnenangriff auf den Sarkophag in Tschernobyl am Vorabend der Münchner Sicherheitskonferenz habe diese Funktion erfüllt.

Wolfgang Storz: Es heißt, die Ukraine sei militärisch in einer verzweifelten Lage. Ständige zermürbende Angriffe auf die Großstädte; überall vorrückende russische Truppen; zunehmende Zweifel an dem strategischen Sinn der Offensive in Kursk. Stimmen Sie dieser Beschreibung zu?

Andreas Wittkowsky: Am 24. Februar 2025 geht Putins „Blitzkrieg“ in sein viertes Jahr. Tatsächlich steht die Ukraine stark unter Druck. Im letzten Jahr ist Russland langsam, aber sicher in der Ostukraine vorgerückt. Inzwischen macht der Ukraine der Mangel an einsatzfähigem Personal zu schaffen. Viele Truppen an der Front sind erschöpft und können nicht ausreichend verstärkt werden. Die Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung haben erhebliche Schäden angerichtet. Auch zivile Ziele werden immer wieder angegriffen. All dies soll die Bevölkerung zermürben. Es bleibt ein Kampf David gegen Goliath.

In der Regel verliert David?

Wittkowsky: Nicht in der Bibel. In dem beidseitigen Abnutzungskrieg bleibt es das ukrainische Ziel, aus einer Position der relativen Schwäche den Feind Russland so weit zu entkräften, dass er seine Angriffe einstellen muss. Vor allem in Deutschland herrscht Pessimismus, dass dies gelingen kann. Ein Blick in die Geschichte der Freiheitskriege zeigt aber, dass auch ein ungleichgewichtiger Krieg nicht verloren gehen muss. Dafür muss die Ukraine aber ihre sichtbar gewordenen Defizite abbauen. Vor allem braucht sie weiter unsere konsequente Unterstützung.

Dr. Andreas Wittkowsky ist Wirtschaftswissenschaftler, arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als Osteuropaexperte, unter anderem mit mehrjährigen Aufenthalten im Kosovo und in der Ukraine. Seit 2011 ist er am Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) tätig. X-Twitter @Twittkowskyi

Wo sind denn die militärischen Erfolge der Ukraine, die Russland schwächen? Gibt es die überhaupt?

Wittkowsky: An der Front leisten die Ukrainer hinhaltend Widerstand, fügen den Russen extrem hohe Verluste an Menschen und Material zu, müssen aber trotzdem immer wieder zurückweichen. Auch für die Verteidiger ist dies verlustreich — allerdings haben die Ukrainer und Ukrainerinnen keine Alternative, wenn sie nicht ihre Unabhängigkeit als Staat, Gemeinwesen und Kultur verlieren wollen. Erstaunlich erfolgreich ist die Ukraine dagegen zu See und in der Luft. Nicht zuletzt mit neuartigen maritimen Drohnen wurde die russische Schwarzmeerflotte in den östlichen Teil des Meeres verdrängt, so dass die Ukraine weiterhin ihre Exporthäfen nutzen kann. Zudem haben Drohnen aus Eigenentwicklung zuletzt spektakuläre Entfernungen zurückgelegt und Raffinerien, Treibstofflager, militärische Anlagen und Rüstungsunternehmen weit im russischen Hinterland angegriffen.

Hat sich denn der überraschende Gegenangriff der Ukraine auf das russische Gebiet um Kursk wenigstens militärisch gelohnt?

Wittkowsky: An der Kosten-Nutzen-Rechnung der Kursker Militärintervention scheiden sich die Geister: Zum einen ist es der Ukraine erstmals gelungen, russisches Territorium zu besetzen. Die Versuche, Kursk zurückzuerobern, binden erhebliche Kräfte Russlands, das hier auch nordkoreanische Truppen einsetzt. Die ukrainische Offensive hat zunächst die akute Bedrohung der nahe gelegenen Städte Charkiw und Sumy abgeschwächt. Außerdem setzt sie ein politisches Zeichen: Putin kann den Krieg vom eigenen Land nicht fernhalten. Und sie gibt den Ukrainern ein Faustpfand, sollte es zu ernsthaften Friedensverhandlungen kommen. Allerdings bindet Kursk auch ukrainische Kräfte, die dann im Osten fehlen.

Lenin-Denkmal in Kursk vor dem Haus der Sowjets, dem Sitz der Regierung der Oblast Kursk (Foto, 2009: Elena Jurjewna Grizenko auf wikimedia commons)

Warum verfügt die Ukraine bis heute, kurz vor dem vierten Kriegsjahr, noch nicht einmal über das Selbstverständlichste: eine effektive Luftabwehr, um ihre Zivilbevölkerung wenigstens in ihren Zentren schützen zu können?

Wittkowsky: Das ist alles andere als selbstverständlich, zumal in einem großen Flächenland wie der Ukraine. Der Bedarf an Luftverteidigung ist gewaltig und erfordert schwierige Entscheidungen: Schützen wir vorrangig unsere strategische Infrastruktur oder unsere Städte? Denn die Bedrohungen aus der Luft sind vielfältig: In Frontnähe erfolgen die russischen Angriffe mit Gleitbomben und Nahbereichsdrohnen, im Hinterland mit Langstreckendrohnen, vielfach aus dem Iran, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen, teilweise aus Nordkorea. Meist erfolgen die Angriffe zudem in konzentrierten Wellen.

Das klingt ja fast aussichtslos. Wie erfolgreich ist die strukturell lückenhafte Abwehr?

Start eines Patriot-Lenkflugkörpers
(Foto auf wikimedia commons)

Wittkowsky: Die ukrainischen Abschussquoten von Drohnen sind mittlerweile hoch, nicht zuletzt wegen des Einsatzes von elektronischen Störsendern. Und die Aufhebung der Reichweitenbegrenzung für westliche Raketenartillerie hilft, die russischen Militärflughäfen anzugreifen, von denen die Trägerflugzeuge für Gleitbomben starten.
Ballistische Raketen können zuverlässig nur von den US-amerikanischen Patriot-Systemen abgefangen werden. Davon benötigt die Ukraine sieben zusätzliche Batterien. Ihr Preis liegt bei eine Milliarde US-Dollar, jede Abfangrakete kostet weitere vier Millionen US-Dollar. Die Produktionskapazität des Herstellers liegt bei etwa zehn Systemen im Jahr; die sind jedoch bisher vor allem anderen Käufern versprochen, die ihre eigene Verteidigung sichern möchten. Die USA haben allerdings im Sommer 2024 Raketenlieferungen zugunsten Kyiws umgeleitet.

Inwieweit helfen Waffen, die von Deutschland geliefert werden?

Wittkowsky: Unter den deutschen Lieferungen hat sich im Nahbereich der deutsche Flugabwehrpanzer Gepard bewährt, entwickelt in den 1950er Jahren und von der Bundeswehr 2010 ausgemustert. Die Neuentwicklung Iris-T wird als sehr effektiv gepriesen, wird aber nur in Einzelstücken hergestellt.

Luftverteidigung ist also eine Sache des Geldes und der Verfügbarkeit. Deshalb sind es durchaus Erfolge, dass die deutsch-französische Koalition zur Stärkung der ukrainischen Luftabwehr einzelne Systeme oder gar Teilsysteme mobilisieren konnte. Inzwischen arbeitet die Ukraine auch an einer Eigenentwicklung, doch das dauert. Sie kann dabei auf das Knowhow ihres großen Rüstungssektors zurückgreifen, der aus Sowjetzeiten geerbt wurde. Dessen Eroberung ist übrigens ein oft übersehenes Kriegsziel Putins.

Russland hat auf Kriegswirtschaft umgestellt

Ist in den letzten Monaten, seit wir unser letztes Interview zur Lage in der Ukraine geführt haben, Ihrer Analyse nach irgendetwas geschehen, was die überaus starke Position von Wladimir Putin geschwächt hat?

Wittkowsky: Russland hat durchaus Probleme. Zum einen machen sich die hohen Verluste an militärischem Gerät bemerkbar. Die Lagerbestände aus Sowjetzeiten, aus denen immer ältere Geschütze und Fahrzeuge an die Front geschickt wurden, leeren sich. Bei ballistischen Raketen und Artillerie ist Russland von Lieferungen Nordkoreas abhängig, bei Drohnen von Iran. Zudem ist die Abhängigkeit Russlands von China beim Import kriegswichtiger Komponenten beträchtlich. Putin hat aber inzwischen das Land auf Kriegswirtschaft umgestellt. Mittelfristig wird damit die Ausstattung der russischen Streitkräfte wieder besser werden — ein Trend, den vor allem die EU viel stärker berücksichtigen müsste. Da ist immer noch viel gefährliche Arglosigkeit zu registrieren.

Aber lässt sich das von Putin finanziell überhaupt auf Dauer durchhalten: Die ganze Volkswirtschaft im Kriegsmodus?

Wittkowsky: Die Finanzierung der Kriegswirtschaft hat ihren Preis. Die Staatsreserve des Nationalen Wohlstandsfonds ist weitgehend verausgabt. Das Bankensystem musste bereits gezwungen werden, Rüstungsunternehmen mit schlecht gesicherten Krediten zu versorgen. In Verbindung mit den westlichen Sanktionen stieg die Inflation im letzten Jahr offiziell auf 9,5 Prozent, die Steigerung der Lebenshaltungskosten liegt deutlich höher. Wirtschaftlich sind also erhebliche Stabilitätsrisiken entstanden.

Was bewirken denn die Sanktionen der westlichen Staaten? Gibt es dazu neue Erkenntnisse?

Wittkowsky: Die Sanktionen zeigen inzwischen handfeste Wirkungen. Engpässe bei der Versorgung mit neuen Anlagen, Mikroelektronikbau- und Ersatzteilen beeinträchtigen viele Branchen, so den Maschinenbau, die Luft- und die Schifffahrt. Und dies, obwohl China, die Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion und auch Indien die Sanktionen des Westens umgehen. Die neu in diesem Januar 2025 verhängten US-Sanktionen gegen den russischen Ölsektor und seine Schattenflotte treffen die Einnahmen Russlands und der Putin-nahen Eliten, die diesen Sektor kontrollieren, bereits jetzt empfindlich.

Die vielen Beispiele der Stabilitäts-Gefährdungen, die Sie nennen: Münden die in eine Bedrohung des Putin-Regimes?

Wittkowsky: Noch ist das keine Bedrohung eines Regimes, das nach innen immer repressiver agiert. Aber der Unmut wächst. Die relative Zurückhaltung bei der Rekrutierung neuer Soldaten, der weitere Einsatz von Strafgefangenen und von nordkoreanischen Soldaten im Krieg, die Tatsache, dass ausländische Arbeitskräfte erpresst werden an die Front zu gehen, das alles zeugt schon von einer gewissen Nervosität. Die wachsende Abhängigkeit Russlands von China, Nordkorea und Iran wird vor allem in den nationalistischen Kreisen Russlands kritisch gesehen.

Aber das Machtzentrum Putin beeindruckt das nicht — oder?

Wittkowsky: Aufgrund des rücksichtslosen Einsatzes von Menschen und Material sowie der sichtbaren Schwächen der Ukraine glaubt Putin weiterhin, den längeren Atem zu haben und zu siegen. In jedem Fall möchte er uns glauben machen, dass Russland siegt. Im Westen findet diese Position leider zunehmend Verstärker. Die Parteien, die diese Rolle bei uns in Deutschland einnehmen, sind gut bekannt. Es ist ein geopolitisches chicken game, bekannt auch als „Feiglingsspiel“. Konkret: Putin setzt darauf, dass der Westen zuerst „zuckt“ – und nachgibt.

Das hat Züge einer Schutzgelderpressung

In Deutschland wird neu gewählt. Der Präsident von Frankreich, Emmanuel Macron, ist politisch geschwächt, hangelt sich von einer Regierung zur nächsten. In mehreren EU-Ländern sind Putin-freundliche Politiker an die Macht gekommen. In den USA hat Präsident Donald Trump sein Amt angetreten. Alles neu, aller anders — kann die Ukraine aus diesem vielen Neuen mehr Hoffnung schöpfen? Oder wird für sie alles nur noch schlechter?

Wittkowsky: In der EU wird es tatsächlich nicht einfacher, die Unterstützung für die Ukraine aufrecht zu erhalten. Ungarns Premier Viktor Orban fährt schon seit langem einen pro-russischen Kurs und ist nur mit handfesten Gegenleistungen zur Zustimmung zu den EU-Sanktionen zu bewegen. Der slowakische Premier Robert Fico hat sich dieser Politik jetzt angeschlossen. In Bulgarien ist unklar, ob die neue Regierung einen entsprechenden Politikwechsel vollzieht. Europa bräuchte dringend politische Führung, doch die ist rar gesät. Ein Lichtblick ist die polnische EU-Präsidentschaft, die das Motto „Sicherheit, Europa!“ gewählt hat.

Was signalisiert der bisherige Wahlkampf in Deutschland bezüglich des Ukraine-Krieges?

Wittkowsky: Der deutsche Wahlkampf zeigt, wie wenig ausgeprägt bei uns das sicherheitspolitische Denken ist. In vielen Parteien gibt es starke Strömungen des friedenspolitischen Wunschdenkens. Einige schlagen sich aus ideologischen Gründen sogar ganz auf die Seite Putins und wollen die Ukraine opfern. Das schadet übrigens in vielerlei Hinsicht unserem eigenen nationalen Interesse.

Und Trump bringt den langersehnten Frieden — oder wie?

Wittkowsky: Was Trump betrifft, sind die Erwartungen der Ukraine optimistischer als in der EU gewesen — haben jedoch wegen Trumps Avancen gegenüber Putin einen empfindlichen Dämpfer erhalten. Die ukrainische Führung hat sich aber besser auf dessen transaktionalen Politikstil eingestellt. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat bekräftigt, in großem Stil US-Waffen kaufen zu wollen und bewirbt die erheblichen Bodenschätze der Ukraine als Chance für bilaterale Kooperationen — auch die sind im Übrigen ein Kriegsziel Putins. Grundsätzlich würden US-Direktinvestitionen ein Sicherheitsinteresse der USA mit sich bringen. Der Versuch der Trump-Administration, die Militärhilfen der letzten drei Jahre rückwirkend mit dem Eigentum an 50 Prozent der ukrainischen Rohstoffvorkommen abgelten zu lassen, zeigt allerdings Züge einer Schutzgelderpressung.

Wie soll der Westen in Sachen Sicherheitspolitik denn generell mit Trump umgehen?

Wittkowsky: So disruptiv Trumps Rhetorik und Handlungen auch sind — wir werden unser politisches Handeln in den nächsten Jahren darauf einstellen müssen. Dabei ist es wichtig zu unterscheiden, was er verkündet und welche realen Intentionen dahinter stehen. Angesichts vielfach bizarrer Botschaften und wechselnder Meinungen Trumps ist das nicht einfach. Wie in jeder US-Administration gibt es auch bei Trump verschiedene Lager, die um das Ohr des Präsidenten konkurrieren. Welche Position sich dauerhaft durchsetzt, ist offen. Unangenehme Überraschungen und spontane Kurswechsel sind vorprogrammiert. Womöglich schwächt Trumps innen- und außenpolitischer Rundumschlag auch seine Handlungsfähigkeit.

Donald Trump hat gesagt, er beende den Ukraine-Krieg in einem Tag. Was ist zu erwarten?

Wittkowsky: Inzwischen ist von einem Jahr die Rede. Aber Trump macht richtig Druck. Erste Gespräche mit einer russischen Delegation haben direkt nach der Münchner Sicherheitskonferenz in Saudi-Arabien stattgefunden — ohne die Ukraine. Die Kommunikation der USA dazu hat in Europa Schockwellen ausgelöst. Beim letzten Treffen der Ramstein-Gruppe am 12. Februar in Brüssel — sie koordiniert die Verteidigungshilfe für die Ukraine — erklärte US-Verteidigungsminister Pete Hegseth die Wiederherstellung der ukrainischen Grenzen von 2014 und eine NATO-Mitgliedschaft für unrealistisch, auch an einer Friedenstruppe würden sich die USA nicht beteiligen. Mehr noch: Die Sicherheit der Ukraine und Europas sei nunmehr Aufgabe der Europäer.

Aber wurden diese Positionen nicht teilweise bereits widerrufen?

Wittkowsky: Richtig, Hegseth musste teilweise zurückrudern. Doch haben die USA damit schon vorab wichtige Verhandlungspositionen preisgegeben, was nichts Gutes erwarten lässt. Denn Trumps darauffolgendes Telefonat mit Putin durchbrach ohne jede Gegenleistung die internationale Isolation Putins. Erst anschließend telefonierte Trump mit Selenskyj, mit den Europäern gar nicht. Damit erfüllt er Putins sehnlichsten Wunsch: mit den USA auf Augenhöhe über die Zukunft der Ukraine und Europas zu verhandeln — über deren Köpfe hinweg.

Gleichzeitig hat Trump so signalisiert, die USA könnten die russischen Eroberungen akzeptieren und ihre engsten Verbündeten im Regen stehen lassen. Das wird nicht nur in Moskau und Peking sehr genau registriert werden. Offenbar möchte Trump Russland mit Zugeständnissen an den Verhandlungstisch locken. Putins Antwort: ein Drohnenangriff auf den Sarkophag des ukrainischen Kernkraftwerks Tschornobyl am Valentinstag. Allerdings enthalten die Botschaften der US-Amerikaner nicht nur Zuckerbrot.

Lieber ein fauler Kompromiss als gar kein Deal?

Es gab aber doch immer wieder Signale, Trump werde stark gegenüber Putin auftreten. Davon ist also nichts mehr zu hören.

Wittkowsky: Das kann so nicht gesagt werden. Trump hat verschärfte Sanktionen gegen Russlands Energiesektor und eine Steigerung der US-Produktion angedroht, um den Ölpreis zu drücken und Russlands Kriegsfinanzierung zu treffen. Und er hat die Militärhilfen für die Ukraine von seinem Dreimonats-Moratorium für US-Auslandshilfen ausgenommen. Vor der Münchner Sicherheitskonferenz drohte Vizepräsident Vance auch mit dem Einsatz militärischer Instrumente, sollte Russland nicht zu ehrlichen Verhandlungen bereit sein. Doch die Ansagen sind nicht konsistent, und daran leidet ihre Glaubwürdigkeit.

Trump hat Ex-General Keith Kellogg zu seinem Sonderbeauftragten für Ukraine und Russland ernannt. Von dem ist bekannt, dass er ein Konzept eines „Friedens durch Stärke“ verfolgt. Was wird dessen Aufgabe sein?

Wittkowsky: Der Sonderbeauftragte ist zwar einer der Emissäre Trumps, überraschend war es aber der Mittelostbeauftragte Steve Witkoff, der Anfang Februar nach Moskau reiste, dort die Freilassung eines inhaftierten US-Bürgers erwirkte und parallel zu politischen Themen sondierte. Als US-Verhandlungsführer in Sachen Ukraine sind Außenminister Marco Rubio, CIA-Direktor John Ratcliffe, Sicherheitsberater Mike Waltz und Steve Witkoff vorgesehen. Dies zeigt den Stellenwert, den Trump diesem Prozess beimisst. Der eigentliche Sonderbeauftragte Kellog spielt offenbar nur eine untergeordnete Rolle.

Dabei liegt bei der Vorbereitung der Verhandlungen der Teufel im Detail: Gibt es Vorbedingungen, direkte oder indirekte Gespräche, an welchem Ort finden sie statt, zu welchem Zeitpunkt? Und, das ist fast der wichtigste Punkt, sollte es zu Ergebnissen kommen, wie kann deren Verbindlichkeit gesichert werden. Wir wissen auch nicht, ob Trump am Ende nicht lieber einen faulen Kompromiss schließt, als ohne „Deal“ dazustehen. Der Kreml wird versuchen, diese Ambivalenz zu seinen Gunsten zu beeinflussen.

Screenshot: Website ARD-Tagesschau

Das klingt ja so, als komme es zügig zu Ergebnissen. Sind die zu erwarten?

Wittkowsky: Ich halte es für unwahrscheinlich, dass ein „Deal“ direkt vor der Tür steht. Zu weit liegen die Positionen auseinander. Und das bedeutet für die Europäer ein Zeitfenster, auf den Prozess Einfluss zu nehmen. Ohne eine größere europäische Verantwortung und ein entsprechendes Handeln wird es nicht gehen. Kurzfristig muss vor allem die ukrainische Verteidigung weiterhin konsequent gestärkt werden, um die Verhandlungsposition des Landes zu verbessern.

Ukraine wie Russland signalisieren, sie seien im Prinzip zu Verhandlungen bereit. Sehen Sie einen Kern an Interessen, um wenigstens einen für beide Seiten akzeptablen Waffenstillstand zu vereinbaren? Gibt es also aussichtsreich anmutende Schnittmengen?

Wittkowsky: Nein, eigentlich nicht. Die Interessen sind weiterhin diametral entgegengesetzt. Die Ukraine möchte einen nachhaltigen, gerechten Frieden und ist nicht bereit, Territorium abzutreten. Selenskyj hat aber in den letzten Wochen erklärt, dass eine vollständige militärische Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete nicht möglich sei. Er setze deshalb auf einen politischen Prozess. Dies ist für ihn innenpolitisch nicht ohne Risiko. Denn eine im Oktober 2024 veröffentliche Umfrage ergab zwar, dass in der Ukraine Kriegsmüdigkeit und Bereitschaft zu Verhandlungen grundsätzlich zugenommen haben. Doch immer noch knapp die Hälfte der Befragten war der Meinung, die Regierung solle keine territorialen Zugeständnisse machen. Nicht einmal jeder Zehnte sprach sich dafür aus, die gegenwärtige Frontlinie zu akzeptieren.

Und was signalisiert Putin?

Wittkowsky: Putin betont grundsätzlich seine Gesprächsbereitschaft, rückt aber nicht von seinen Maximalzielen ab. Ihm geht es nach wie vor darum, wenigstens einen Teil der Ukraine zu annektieren, den Rest des Landes zu einem Vasallenstaat zu degradieren und dessen Westorientierung unwiderruflich zu verhindern. In einem Interview hat er die rhetorische Frage gestellt, warum er mit der Ukraine verhandeln sollte, wo sie doch deutliche Schwäche zeigt.

Also ernst meint es Putin mit Verhandlungen immer noch nicht.

Wittkowsky: Da gibt es zwei Szenarien. Es besteht die begründete Befürchtung, dass er Verhandlungswillen nur signalisiert, um seine internationale Isolation zu durchbrechen, den Westen zu spalten und die Sanktionen aufzuweichen. So wie bisher. Gerade hat er erklärt, dass Selenskyj für ihn kein legitimer Verhandlungspartner sei, weil die Ukraine 2024 aufgrund des Kriegs keine Präsidentschaftswahlen abhielt. Womöglich ist Putin aber offen für einen Waffenstillstand. Der muss nach seinen Vorstellungen so gestaltet sein, dass er ihn jederzeit brechen kann; beispielsweise dann, wenn die russische Kampfstärke regeneriert ist.

Wie kann ein Waffenstillstand organisiert werden, der auch für die Ukraine akzeptabel ist?

Wittkowsky: Der entscheidende Punkt bei jedem Waffenstillstand ist die Frage der Sicherheitsgarantien. Und die müssen verlässlich sein. Zur Erinnerung: Russland hat nicht nur seine Souveränitätsgarantie des Budapester Memorandums gebrochen, aufgrund dessen die Ukraine 1994 ihre Atomwaffen abgab. Putin brach auch den 2014/15 in Minsk vereinbarten Waffenstillstand für die Ostukraine. Wenn sich dies nicht nach einer Zwischenphase russischen Aufrüstens wiederholen soll, braucht die Ukraine künftig robustere Sicherheitsgarantien. Die glaubwürdigste wäre eine NATO-Mitgliedschaft. Aber in dieser Frage werden viele Friedensfreunde auf einmal sehr zurückhaltend. Dass Hegseth diese Option für unrealistisch erklärt hat, dürfte in vielen NATO-Staaten insgeheim Erleichterung ausgelöst haben. Eine verstärkte und dauerhafte militärische Unterstützung der Ukraine ist deshalb das absolute Minimum, das zur ukrainischen und europäischen Sicherheit beiträgt — hier ist Europa zukünftig mehr gefordert als bisher.

Es gibt inzwischen eine zunehmend größere Zahl von Wissenschaftlern, welche die These vertreten: Wladimir Putin und sein Machtapparat haben den point of no return überschritten. Konkret: Die geistig-propagandistische und wirtschaftliche Kriegs-Mobilisierung in Russland habe ein Niveau erreicht, das Verhandlungen über einen Frieden unwahrscheinlicher denn je mache. Und dass Putin sich nach dem Ukraine-Krieg, ob mit oder ohne Erfolg, ein neues militärisches Ziel suchen werden, ob Finnland oder einen der baltischen Staaten. Teilen Sie diese Einschätzung der militärischen Eigendynamik im Putin-Russland?

Wittkowsky: Zweifelsohne ist die russische Propaganda in den letzten Jahren aggressiv imperialistisch geworden nicht nur gegenüber der Ukraine, der das Existenzrecht abgesprochen wird, sondern auch gegenüber seinen Nachbarn und dem Westen insgesamt. Dabei werden auch immer wieder Eroberungsphantasien lanciert.

„Angst ist unser wichtigstes Instrument“

Hat diese Propaganda einen rationalen Kern?

Wittkowsky: Sie erfüllt zumindest zwei Funktionen. Nach innen soll sie die Bevölkerung weiter hinter Putins „Spezialoperation“ vereinen. Auch wenn Meinungsumfragen im repressiven Russland mit Vorsicht zu genießen sind: Deren jüngsten Ergebnisse deuten an, dass auch in der russischen Bevölkerung Kriegsmüdigkeit und die Akzeptanz von Verhandlungen wachsen. Und vor allem in den Eliten steigt der Unmut, weil sie an das Versprechen Putins glaubten, der Krieg sei 2022 siegreich zu beenden. Nun aber ist kein Ende in Sicht und die Kosten steigen. Der Kreml berücksichtigt dies durchaus in seinem politischen Kalkül. Und Putin ist weiter in der Lage zu bestimmen, was als Erfolg seines Angriffskriegs verkauft werden kann. Der Großteil der Bevölkerung würde ihm dabei wohl unverändert folgen.

Und die zweite Funktion dieser Propaganda?

Wittkowsky: Außenpolitisch soll die Propaganda Ängste schüren und die Entschlossenheit Russlands untermauern. Der ehemalige Sekretär des nationalen Sicherheitsrats und enge Putin-Vertraute Nikolaj Patruschew betonte jüngst: „Angst ist unser wichtigstes Instrument“. Russland geht es dabei um mehr als „nur“ die Ukraine. Zunächst versucht Russland, Staaten der ehemaligen Sowjetunion, die nicht der NATO angehören, unter Kontrolle zu bekommen. Mit Belarus ist das weitgehend gelungen, in Moldova und Georgien sehen wir entsprechende Einflussoperationen. Der russische Drohnenangriff auf den Sarkophag in Tschernobyl am Vorabend der Münchner Sicherheitskonferenz erfüllte ebenfalls den Zweck, Ängste in Europa zu schüren.

Wo soll das nach Putins Vorstellungen denn hinführen?

Wittkowsky: Putin will, über die bereits genannten Elemente hinaus, in einem immer enger werdenden Bündnis mit China, Nordkorea und Iran eine neue multipolare bzw. bipolare Weltordnung etablieren, in der Europa zur russischen Einflusssphäre gehört. Die USA sollen als Schutzmacht verdrängt, die NATO gespalten werden.

Das Mittel der Wahl beim Verfolgen dieses Zieles ist nicht zwangsläufig ein militärischer Überfall. Vor allem hybride Angriffe nehmen derzeit zu — die wiederholte Zerstörung von Versorgungsleitungen in der Ostsee ist kein Zufall, wenn man sich die Bewegungsdaten verdächtiger Schiffe über ihnen anschaut. Der stellvertretende NATO-Generalsekretär James Appathurai hat vor einigen Tagen erstmals offiziell bestätigt, dass die NATO-Staaten vermehrt Ziel von Sabotageakten wie Zugentgleisungen, Brandstiftungen und Mordkomplotte gegen Rüstungsmanager wie Rheinmetall-Chef Armin Papperger wurden.

Was ist vor diesem Hintergrund die Folge, wenn Putin sich gegen die Ukraine durchsetzt?

Wittkowsky: Setzt sich Putin in der Ukraine durch, sind auch direkte militärische Provokationen an den NATO-Außengrenzen denkbar, um die Entschlossenheit des Bündnisses zu testen. Das Hochfahren der russischen Kriegswirtschaft muss uns Sorgen machen. Doch Angstdiskurse sind ebenso wie friedenspolitisches Wunschdenken schlechte Ratgeber. Gegen eine wachsende russische Drohkulisse hilft nur Abschreckung und frühes Dagegenhalten. Auch deshalb sind faule Kompromisse und europäische Zurückhaltung in der Ukraine nicht in unserem Interesse. Sie erhöhen unser sicherheitspolitisches Risko. Die Ukraine ist unfreiwillig zum Frontstaat unserer Sicherheit geworden. Gefragt ist deshalb ein Mehr an europäischem Handeln — und einer entsprechende Rolle Deutschlands. Lamentos und Empörung ersetzen keine Sicherheitspolitik.

Siehe auch den Beitrag von Frank Hoffer „Machtpolitik sans phrase – was nun?

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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