Hochkonjunktur für Bellizisten?

Der Sponti- Slogan „Raus aus der Nato, rein ins Vergnügen“ riecht in diesen aufgewühlten Zeiten einer mutmaßlichen Vorkriegszeit nach Mottenpulver. Während die oft totgesagte oder als 5. Kolonne Putins verächtlich gemachte Ostermarschbewegung ihre Friedensdemonstrationen für den April plant, wird Bundesverteidigungsminister Pistorius nicht müde wird, Deutschland „kriegstüchtig“ zu machen. Und der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, legt nach mit der Prophezeiung, „spätestens Ende dieses Jahrzehnts dürften russische Streitkräfte in der Lage sein, einen Angriff auf die Nato durchzuführen.“ Hochkonjunktur für Bellizisten?

Ist das unser Verständnis von Zivilisation und Fortschritt, an der altrömischen Formel festzuhalten, „wenn du den Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor?“ Als 1979 die Nato den sog. Doppelbeschluss zur Stationierung amerikanischer Raketen auf deutschem Boden fasste als Reaktion auf sowjetische SS 20-Raketen, der Bundestag dem zustimmte und Hunderttausende auf die Straße gingen, um gegen ein Drehen an der Rüstungsspirale zu protestieren, war dieses Land aufgewühlt.
Man suchte die Auseinandersetzung über Friedenssicherung und einen Ausweg aus dem Kalten Krieg: Juristen wie Wolfgang Däubler ließen sich in Studien darüber aus, ob Atomraketen auf deutschem Boden nicht gegen das Grundgesetz verstießen, die Initiative „Ärzte gegen den Atomkrieg“ warnte vor den Folgen des Wettrüstens sowie vor atomarer Verseuchung, Generäle europäischer Staaten riefen eindringlich zur Rüstungskontrolle auf. Die Literatur über Abrüstung, Rüstungskontrolle oder gar die Auswirkungen der Neutronenbombe war inflationär. Und heute?

Heute wird, ähnlich wie während der Coronakrise, in den Talkshows eine Handvoll mehr oder weniger gut sortierter Experten platziert, diesmal Sicherheits- und Militärexperten. Doch der Pluralismus der Fachleute wirkt eingeengt: Es fehlen die Bedenkenträger, die nachdenklichen Wissenschaftler, die sich der Friedens- und Konfliktforschung verschrieben haben und die aufklären könnten, wie Kriegsangst und die Furcht vor dem Feind im Osten sich sozialpsychologisch niederschlagen. Eine nicht unwichtige Dimension, wenn sich weite Teile der Bevölkerung bereits durch mühselige, lösungsarme Debatten über den Klimaschutz, Migration und Fremdenangst überfordert fühlen.

Etliche Fragen fallen derzeit in der gesellschaftlichen Debatte unter den Tisch. In einem Papier des Journals für Internationale Politik und Gesellschaft (IPG, unter dem Dach der Friedrich-Ebert-Stiftung) wird die nicht unwesentliche Frage aufgeworfen, warum die Stationierung US-amerikanischer Marschflugkörper und Hyperschallraketen allein in Deutschland vorgesehen ist. Gibt es keine Risikoverteilung innerhalb der Nato?
Im Kontext des Nato-Doppelbeschlusses von 1979 zur Stationierung nuklear bestückter Mittelstreckenraketen hatte der US-affine Bundeskanzler Helmut Schmidt noch darauf hingewirkt, eine derartige Konzentration unbedingt zu vermeiden. Anders als heute war die Entscheidung zur Stationierung auch mit einem Angebot zur Rüstungskontrolle verbunden. Immer vorausgesetzt, Moskau wäre bereit, seine eigenen Systeme zu begrenzen. Die Autoren stellen aktuell fest:

Die Stationierung von Raketensystemen in Deutschland ist deshalb weder ein militärisches Wundermittel ohne Risiken, noch alternativlos.

Wer debattiert in deutschen Polittalks eigentlich über die Greenpeace-Studie von 2024, die unter der Federführung des Friedens- und Konfliktforschers Professor Herbert Wulf (arbeitete u.a. auch für SIPRI) herausfand, dass die Nato zehnmal so viel Geld ausgibt für das Militär wie Russland, das angeblich im Rüstungsbereich einen technologischen Rückstand von 10 Jahren aufweist? Welche friedlichen Lösungen existieren abseits der atomaren Aufrüstung, um zu verhindern, dass zwei Weltmächte erneut Europa aufteilen?

Während sich US-Präsident Trump auf die Seite von Autokraten schlägt und offensichtlich einen Diktatfrieden für die Ukraine anvisiert, fürchtet der Imperialist Putin die Strahlkraft einer demokratischen Ukraine. Die vier führenden Friedensforschungsinstitute in Deutschland plädieren dagegen in ihrem Friedensgutachten für eine „effektive Rüstungskontrollpolitik, die das Risiko weiterer militärischer Konfrontation und die Gefahr einer nuklearen Eskalation einhegen kann“. Höchste Zeit über politische Alternativen wenigstens nachzudenken. Wo, wenn nicht in der öffentlichen Kommunikation.

Unterschiedliche Experten, Perspektiven und Analysen zu präsentieren, den Meinungspluralismus zu weiten, gehört zu den vornehmsten Aufgaben beispielsweise eines öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems. Darüber sollten sich einige Chefredakteure und Programmdirektoren den Kopf zerbrechen, damit die Aufklärung (?) nicht allein TikTok und dem BSW überlassen wird.

Dieter Pienkny
Dieter Pienkny ist Journalist, er war längere Zeit stellvertretender Vorsitzender des rbb-Rundfunkrats sowie Vorsitzender des rbb-Programmausschusses.

1 Kommentar

  1. Einige Bemerkungen zum Gebrauch des Wortes Bellizismus. Bellizisten sind jene, die Krieg grundsätzlich für unvermeidbar halten. Aus dieser Sicht wollen jene der Kriegsvorbereitung gesellschaftlich positive Aspekte bis zur Kriegsverherrlichung abgewinnen. Der Krieg soll der Vater aller Dinge sein. Der wahre Mann und Held zeige sich erst sind im Krieg – und andere „Weisheiten“ mehr werden aufgeführt. Hierzu gibt es zwei Ebenen: Da ist die Ebene des Misstrauens zwischen Staaten und Gesellschaften. Dieses Misstrauen kann dazu führen – und wird dazu benutzt, Kriegsvorbereitungen zu treffen. Die zweite Ebene ist der Kriegszustand. Um die eigene Herrschaft „moralisch“ wie eine Batterie aufzuladen, werden Zerstören, Verletzen, Töten zum anerkannten, positiv konnotierten und zu sanktionslosem Verhalten erklärt.
    Pienkny beginnt seinen Text mit den Worten: „Raus aus der Nato, rein ins Vergnügen“. Warum tut er das? Das verstehe ich nicht. Die in Talkrunden oder anderen Debatten- Formaten gefragten Fachleute, Historiker, Militärwissenschaftler etc. arbeiten nicht mit solchen Slogans. Sie sind in der Regel keine „Bellizisten“. Ich lese, dass Bundesverteidigungsminister Pistorius nicht müde werde, Deutschland „kriegstüchtig“ zu machen“. Während er das tue, plane die oft „totgesagte oder als 5. Kolonne Putins verächtlich gemachte Ostermarschbewegung ihre Friedensdemonstrationen für den April“. Ist das tatsächlich so?
    „Raus aus der Nato, rein ins Vergnügen“ ist ein Slogan aus den achtziger Jahren, gemünzt auf die damalige Debatte über Rüstung, Nachrüstung und Nach-Nachrüstung. Er stammt aus dem Umgangssprachlichen: Raus aus dem Alltag, rein ins Vergnügen. In der heutigen Umgangssprache werden Alltag und Vergnügen übrigens weggelassen, es heißt nur noch: Alles muss raus.
    Ich halte es für wenig anständig, die Ostermarschbewegung und die ungelenke Äußerung Pistorius´ von der „Kriegstüchtigkeit“ sowie „raus aus der Nato“ in einen Topf zu werfen und mit einem „Bellizismus“ zu verknüpfen.
    Es ist wie immer in diesen merkwürdigen deutschen Diskussionen mit solchen Slogan-ähnlichen Hinweisen: Wir alle haben es, ob wir wollen oder nicht, mit einem Diktator in Moskau zu tun, der nicht vertragstreu ist; wir haben es mit einem Massenmörder zu tun. Der will erklärtermaßen die Russische Föderation möglichst in der Ausdehnung der UdSSR wieder erstehen lassen. Mit allen Mitteln, die er zur Verfügung hat. Und wie oft in diesen typisch deutschen Diskussionen spielen politischer Wille und Souveränität der Staaten, die sich aus der UdSSR befreit hatten, und wieder „zurückgeholt“ werden sollen, keine Rolle. Auch bei Pienkny nicht. Man redet von „Einflusssphären“ und Ähnlichem, um zu bemänteln, dass Völker in Freiheit ihrer Souveränität und ihrer eigenen Vorstellungen von Zusammenleben beraubt werden. Bellizisten findet man dort, wo wieder erobert wird und werden soll; in bundesdeutschen Talkrunden sind die eher sehr selten.

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