Israel retten – Netanjahu stoppen

Ein Bild von Benzi Brofman (Foto: Hanay auf wikimedia commons)

In Tel Aviv scheint die Sonne. Die Cafés und Restaurant sind voll. Am Strand wird Volleyball gespielt. Die ersten Menschen wagen das Bad im noch kühlen Mittelmeer. Kurz, in der Weißen Stadt – in keinem anderem Land der Welt prägt die Bauhaus-Architektur das Stadtzentrum so wie in Tel Aviv – pulsiert das Leben. Auf den ersten Blick scheint der nur 80 km entfernte Krieg fast surreal weit weg und doch ist er allgegenwärtig. Im Gespräch mit Freunden aus der Gewerkschaft zeigt sich das ganze Dilemma von Linken im heutigen Israel. Rechts und links definiert sich in Israel nicht so sehr über Wirtschafts- und Verteilungsfragen, sondern vor allem über die Haltung zu den Palästinensern. Mit einer Politik, die an Frieden mit den Palästinensern und einer auszugestaltenden Zweistaatenlösung festhält, ist zur Zeit keine Mehrheit zu gewinnen.

Auf dem „Platz der Geiseln“ versammeln sich täglich Menschen. Sie sorgen sich verzweifelt um das Schicksal der Geiseln. Viele sind empört. Für die Regierung und den Premierminister scheint die Rettung der Geiseln keine Priorität zu sein. Der Taxifahrer spricht statt vom Prime Minister Netanyahu vom Crimeminister. Er sei nur an sich selbst und seiner Macht interessiert und kein wirklicher Zionist, denn die Stärke des Zionismus läge darin, das jüdische Volk zu einen, statt es zu spalten.

Auf dem Dizengoff Platz haben Menschen unzählige Bilder von Ermordeten, Entführten oder im Kampf gegen die Hamas Gefallen aufgestellt. Gesichter von jungen, lachenden Menschen, die brutal aus dem Leben gerissen wurden. An Hauswänden und Hochhäusern hängen riesige Plakate. BRING THEM HOME NOW! Überall in der Stadt haben Menschen Bilder, Aufkleber und Fotos von Opfern aufgehängt oder an die Wände geklebt.

Die Fronten verhärten sich weiter

Das Leid der Palästinenser ist auf den Straßen oder Tel Aviv oder den israelischen Medien so gut wie nicht präsent. Angesichts des Horrors des 7. Oktober und der seit über 540 Tagen andauernden Geiselhaft verwundert das nicht. Wo in der Welt würden Menschen Mitleid mit den Feinden zeigen. Die fehlende Empathie mit den Opfern israelischer Bomben ist aus dem Kontext erklärbar, aber die Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der Palästinenser in Gaza bzw. ihre Rechtfertigung als unvermeidlicher Kollateralschadens im Krieg gegen die Hamas, bedeutet auch, dass sich Fronten zwischen Juden und Palästinensern weiter verhärten und diejenigen die Richtung vorgeben, die in dem Krieg eine Chance für ein Groß-Israel möglichst ohne Palästinenser sehen.

Im Gazastreifen und auf der Westbank werden Verhältnisse geschaffen, die Palästinenser veranlassen sollen, „freiwillig“ zu gehen. Die Rechtsradikalen in der Regierung scheinen zu hoffen, dass die USA unter Trump gewillt und in der Lage sind, Drittstaaten dazu zu bewegen, die verzweifelten Menschen angesichts der humanitären Notlage und der Unbewohnbarkeit des Gazastreifens doch aufzunehmen, und dass Palästinenser solch eine Möglichkeit ergreifen werden, wenn die Verhältnisse vor Ort nur hinreichend widrig sind. Vielen Beobachtern erscheint dieser Plan völlig unrealistisch, doch das ändert nichts daran, dass wesentliche Teile der israelischen Regierung in Verbund mit militanten Siedlern energisch an einem jüdischen Israel ‚from the river to sea‘ arbeiten.

Gegen Palästinenser und gegen Demokratie

Die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen, der Stopp jeglicher humanitärer Hilfe für Gaza, die Vertreibung von 40 000 Menschen aus ihren Wohnungen auf der Westbank sind ebenso Ausdruck dieser Bestrebungen wie die Aussagen des Finanz– und des Verteidigungsminsters. Es ist zu hoffen, dass sie scheitern, aber niemand sollte die Entschlossenheit des Regierung von Rechtsextremen, Netanjahu, Ultraorthodoxen und militanten Siedlern unterschätzen, sowohl gegen die Palästinenser als auch gegen die israelischen Demokratie vorzugehen. Schon heute unterminiert die Rechtlosigkeit der Palästinenser und die weitestgehende Straflosigkeit der Siedler in der Westbank täglich das israelische Selbstverständnis, die einzige Demokratie und der einzige Rechtsstaat im mittleren Osten zu sein. Demokratie und Militärherrschaft über Millionen entrechtete Palästinenser sind auf Dauer unvereinbar. Siedler, die gewohnt sind, sich mit dem Gewehr in der Hand auf der Westbank über Recht und Gesetz hinwegzusetzen, tendieren dazu, die Gewaltbereitschaft und den Rechtsnihilismus auch auf politische Auseinandersetzung innerhalb Israels anzuwenden.

Gleichzeitig gibt es eine engagierte und ermutigende Zivilgesellschaft. Zehntausende gehen dieser Tage in Israel auf die Straße, um für die Geiselbefreiung, gegen den erneuten Versuch einer die Unabhängigkeit der Gerichte schwächenden Justizreform oder die Entlassung des Geheimdienstchefs zu protestieren. Wahrscheinlich ist es nur in Israel vorstellbar, dass gerade die Entlassung eines Geheimdienstchefs die Verteidiger der Demokratie mobilisiert.

Auf polarisierende Kampfbegriffe verzichten

Ein Besuch im Yizak Rabin Centrum führt noch einmal vor Augen, wie weit sich israelische Regierungen unter Netanjahu seit der Ermordung Rabins durch israelische Siedler im Jahre 1995 von dem Willen entfernt haben, den steinigen Weg zu einer friedlichen Zweistaatenlösung zu wagen. Netanjahu und seinen rechtsradikalen Partnern kam die Herrschaft der Hamas in Gaza in den letzten zwanzig Jahren sehr gelegen. Sie war hilfreich für ihre Strategie, jedes ernsthafte Gespräch über eine Zweistaatenlösung von vornherein ausschließen zu können. Wenn Rabin schon 1995 dafür ermordet wurde, kann man sich vorstellen was israelischen Politikern droht, die ähnliches heute vorschlagen. Eine auf die Gleichzeitigkeit von militärischer Stärke und Verständigung setzende Linke ist heute eine kleine Minderheit in der israelischen Politik. Sie ist zu schwach, um Israel von dem zukunftslosen Pfad dauerhafter militärischer Unterdrückung der Palästinenser abzubringen. Aber es gibt sie und es gibt auch die mutigen Palästinenser, die unter Lebensgefahr in Gaza gegen die Hamas demonstrieren.

Alon Ohel, ein unschuldiger Zivilist und begabter 23-jähriger Pianist, wurde am 7. Oktober während des Nova-Festivals in Israel von Hamas-Terroristen entführt. Um auf das Schicksal von Alon und den Leidensweg der anderen 101 Geiseln aufmerksam zu machen, wurde in Tel Aviv die Installation ‚Yellow Piano‘ aufgebaut.“ (Screenshot: Website Platz der Hamas-Geiseln Berlin)

Angesichts des Terrorangriffs vom 7. Oktober und der israelischen Antwort ist eine Lösung, die beiden Völkern Raum, Rechte und Freiheit auf diesem kleinen Stück Erde bieten könnte, in weiter Ferne. Für jemanden aus der säkularen und post-heroischen Bundesrepublik mit ihrer Kompromisskultur ist nur schwer zu begreifen, wie sehr für religiös-nationalistische Fundamentalisten – und solche gibt es nicht nur auf palästinensischer Seite – „rationale“ Lösungen von vornherein als Häresie ausgeschlossen sind. Ob und wie Palästinenser und Juden irgendwann einen Verständigungsweg finden, ist eine offene Frage, aber Außenstehende sollten versuchen, die schwachen Kräfte des Friedens und der Verständigung zu stärken und nicht die Polarisierung befeuern. Dazu gehört als erstes die Bereitschaft, die Komplexität des Problems anzuerkennen und in der Debatte auf polarisierende „Kampfbegriffe“ zu verzichten.

Wer denn Staat Israel als Siedlerkolonialismus bezeichnet, beschreibt ja nicht nur die unbestreitbare Tatsache, dass Juden als Siedler den Staat Israel geschaffen haben, sondern will Israel von Anbeginn als einen Unrechtsstaat delegitimieren. Die Landnahme durch Siedler ist nie und nirgendwo, nicht in den USA oder Canada, nicht in Neuseeland oder Südafrika rückabgewickelt worden. Vergangenes Unrecht bleibt Unrecht, Menschen können und sollten dafür entschädigt werden, aber ein Rückkehrrecht für alle Vertriebenen und ihre Kindeskinder ist unrealistisch und würde zudem neues Unrecht und neue Vertreibung begründen.

Was sollte deutsche Staatsräson sein?

Die Losung von „the river to the sea Palestine will be free“ mag für einige gleichbedeutend mit der Forderung nach einem säkularen Palästina sein, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt nebeneinander leben, aber es ist entweder unaufrichtig oder naiv zu leugnen, dass andere es mit ganz anderen Intentionen skandieren. Auf der anderen Seite ist es nicht hilfreich, faktisch jede Kritik an dem Vorgehen Israels als Täter-Opfer-Umkehr delegitimieren zu wollen, oder mit dem Verweis auf den Holocaust Solidarität mit der Politik israelischer Anti-Demokraten und Rassisten einzufordern. Zum Boykott Israels aufzurufen ist per se nicht antisemitisch. Aber was kein Anti-Semitismus ist, ist deshalb noch lange nicht politisch richtig. Wer sich für den Boykott Israels ausspricht, entscheidet sich in der Realität dafür, die demokratischen und kritischen Juden aus der Weltgemeinschaft auszuschließen, während gleichzeitig ein Schulterschluss zwischen anti-muslimischen und autoritären Bewegungen in Europa und Israel stattfindet.

Die Lehre von Auschwitz ist die Verteidigung universeller Menschenrechte und in besonderer Weise der unbedingte Kampf gegen Anti-Semitismus. Dies und nicht die Verteidigung israelischer Politik, unabhängig davon, was diese Regierung konkret tut, sollte deutsche Staatsräson sein. Die begrenzten deutschen Einflussmöglichkeiten zur Unterstützung aller Juden und Palästinenser zu nutzen, die den Teufelskreis eskalierender Gewalt und Unterdrückung durchbrechen wollen, erscheint mir das Gebot humanitärer Solidarität. In diesem Sinne sind, ohne sie in irgendwelcher Weise auf die gleiche Stufe stellen zu wollen, nicht nur Hamas, sondern auch Netanyahu und seine Koalitionäre nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

Frank Hoffer
Dr. Frank Hoffer ist ehemaliger Mitarbeiter der Internationalen Arbeitsorganisation ILO und Associate Fellow an der Global Labour University Online Academy. Zuvor war er als Sozialreferent in der Deutschen Botschaft in Moskau und Minsk sowie als Geschäftsführer der Initiative ACT tätig, die sich für existenzsichernde Löhne in der Textilindustrie einsetzt.

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