
„Gaza wird zum Friedhof des Völkerrechts.“ So formulierte es der palästinensische Menschenrechtsanwalt Raji Sourani letzten Oktober gegenüber dem Guardian. Seit Trumps Rückkehr ist diese Diagnose noch viel klarer worden. Flucht, Klima, Gesundheit und Welthandel – die Pfeiler der Völkerrechtsordnung bröckeln. In diesem Editorial möchte ich über eine Frage nachdenken, die viele von uns umtreibt: Was bedeutet dieser Zerfall internationaler Normen für Völkerrechtler*innen?
Der Berufsstand hat sich grob in zwei Lager aufgeteilt. Auf der einen Seite stehen die Strauße: Jurist*innen, die ihren Kopf – teilweise bewusst – tief in den völkerrechtlichen Sand stecken (und zu denen ich mich manchmal selbst zähle). Strauße halten an den Normen fest, die das lange 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Sie scheinen zu hoffen, dass die liberale regelbasierte Ordnung noch zu retten ist. Sie schreiben, dokumentieren und klagen stoisch weiter. Ihre Hoffnung: Wenn sie nur geduldig und juristisch genau weiterarbeiten, wird irgendwo irgendwann ein Gericht Recht sprechen: ein Urteil, eine Wiedergutmachung, ein Wendepunkt der Geschichte.
Dahinter steht der Instinkt der Kontinuität – gelassen und entschlossen einfach weiterzumachen, trotz der Katastrophe. Der Strauß appelliert: „Wir sind Experten. So lautet das Recht. Es muss befolgt werden!“ Für diese Haltung gibt es gute normative Gründe: Vor allem wehren sich Strauße dagegen, dass der Regelbruch mit der Entstehung neuer Regeln einhergeht, die den Interessen der Mächtigeren dienen. Doch das Leben als Strauß birgt ein Risiko: Er verpflichtet sich der „richtigen Seite“ einer Zukunft, die niemals kommen wird. Und währenddessen steht immer irgendwo die nächste Konferenz an.

Auf der anderen Seite stehen die Eulen – eine seltenere, aber dennoch präsente Spezies. Sie blicken mit Altersweisheit und geschichtlichem Spott auf die Institutionen des 20. Jahrhunderts: längst verfallen, sagen sie, nur die Ruinen stehen noch. Sie wissen, dass das Völkerrecht neu erfunden werden muss. Die USA sind keine globale Hegemonialmacht mehr. China hat diese Rolle bislang nicht übernommen. Die Weltmärkte sind labil, und der Geist der künstlichen Intelligenz ist aus der Flasche. Doch die Eulen warten lieber auf das Morgengrauen, ehe sie losfliegen.
Eulen denken spekulativ. Selten haben sie Antworten auf aktuelle Probleme. Und wenn, dann träumen sie von der normativen Kraft der Technologie, von vergessenen indigenen Rechtstraditionen, den Rechten der Natur oder rechtsfähigen Objekten – Träume, die sich noch weniger durchsetzen lassen als das ohnehin durchsetzungsschwache klassische Völkerrecht.
Auch für die Haltung der Eule gibt es gute normative Gründe. Vor allem: Eulen richten keinen Schaden an. Auch ich finde mich manchmal in diesem Lager wieder. Aber das Eulenleben läuft Gefahr, zu einem ästhetischen Projekt zu verkommen – ein Gedankenspiel, von dem nicht klar ist, wie es sich zur Realität verhält. Kaum, dass wir eine Alternative imaginiert – oder zu Abend gegessen – haben, ist Gaza verhungert und der Wald abgebrannt.
Ein Abgesang auf die liberale Weltordnung
Omar El Akkads neues Buch „One Day, Everyone Will Have Always Been Against This“ (2025) macht dieses Dilemma spürbar. El Akkad beschreibt, wie er von seinem Wohnzimmer in Portland aus dem Völkermord zusieht – auf seinem Smartphone, während seine Kinder nebenan spielen.
Es ist eine tief verstörende, zugleich aber auch vertraute Szene: Während der Autor die Kinder ins Bett bringt oder den Hund füttert, sieht er anderen Kindern beim Sterben zu – und Hunden, wie sie Leichen fressen. Mit jeder Seite wird klarer, dass El Akkads Weltbild – das Versprechen des Westens der 1990er-Jahre – in Echtzeit zerfällt. Ich vermute, vielen Völkerrechtler*innen geht es ähnlich; diese Desillusionierung ergänzt in meiner Generation den Zusammenbruch der Disziplin um eine biographische Dimension. Bei allem Respekt für Strauße und Eulen – viele von uns fühlen sich in deren Gefieder nicht wohl.
El Akkad ist in Ägypten, Katar und Kanada aufgewachsen. Wie viele Migrant*innen hat auch ihn das kulturelle Versprechen des Liberalismus geprägt. Der Westen versprach nicht nur Wohlstand, sondern Sinn: Freiheit, Gleichheit, Würde. Doch als Biden darauf bestand, weiterhin Waffen an Israel zu liefern, wurde El Akkad schmerzhaft klar: Das Versprechen der liberalen Weltordnung war eine Lüge, von Anfang an. El Akkad möchte sich vom US-amerikanischen Liberalismus abwenden, doch wohin er gehen kann – und ob es überhaupt einen anderen Ort gibt – ist unklar.
Der Titel des Buchs klingt versöhnlich – als würde sich die Geschichte zwangsläufig der Gerechtigkeit beugen. Doch El Akkads Botschaft ist bitter: „Eines Tages wird jeder schon immer dagegen gewesen sein.“ Nicht, weil die Wahrheit ans Licht kam und uns solidarisch machte – sondern weil es dann nichts mehr kostet, dagegen gewesen zu sein. Gaza wird zerstört sein. Und auch beim Klima werden wir, in den Worten von Andreas Malm, feststellen: „Es ist zu spät.“
El Akkads rotes Buch ist eine Anklage – nicht nur gegen die US-Außenpolitik, sondern gegen den gesamten liberalen Rechtsglauben. Für uns Völkerrechtler*innen richtet sich seine Kritik an Strauße wie Eulen. Beide beanspruchen, für internationale Gerechtigkeit zu stehen. Beide verkennen dabei die eigene Verstrickung. Oft treiben uns unser Ego und unsere Karrieren mehr an als das, was wir mit unserer Arbeit in der Realität anrichten.
Der zweite Zusammenbruch
Als Südafrika Anfang 2024 Israel vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Völkermords anklagte, schaute die ganze Welt zu. Eine Post-Apartheid-Regierung erklärte den Richter*innen: Seht, was Israel mit euren Waffen und eurem Geld macht. Wenn die regelbasierte Ordnung irgendetwas bedeutet, dann jetzt. Es war ein historischer Moment, und doch blieb er folgenlos.
Mehr als ein Jahr später ist die Hungersnot in Gaza schlimmer als je zuvor. Dies ist kein „liberaler Völkermord“, den vor allem Leugnung und Verdrängung auszeichnen. Es ist ein offenes Bekenntnis zur Vernichtung. Es ist die gezielte Bombardierung von Schiffen mit Hilfsgütern in internationalen Gewässern, fernab jeder Kampfzone – und kaum jemand nimmt Notiz. Die Masken sind gefallen. Erst letzte Woche verabschiedete das israelische Kabinett einen Plan zur „Eroberung“ Gazas und zur „freiwilligen Ausreise“ der Bevölkerung. Viele blicken nun hoffnungsvoll nach Riad. Trump hat den Nahen Osten jetzt verlassen, und Israels Luftoperationen deutet darauf hin, dass der Plan der ethnischen Säuberung in eine neue Phase eingetreten ist.
Natürlich ist dies nicht der erste Zusammenbruch des Völkerrechts. Der Völkerbund (1920) und der Briand-Kellogg-Pakt (1928) markierten die erste Welle des modernen Internationalismus. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fielen sie Faschismus, Krieg und Völkermord zum Opfer. Die zweite Welle folgte nach 1945: die UN-Charta, die Völkermordkonvention – Institutionen, die aus der Asche jener Zeit entstanden. So wurde auch der Staat Israel mit Hilfe westlicher Supermächte gegründet. Heute zerstört Israel nicht nur palästinensisches Leben, sondern die Regeln selbst. Israel steht dabei keineswegs allein da: Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 – ein weiterer Grundpfeiler der Nachkriegsordnung – wird von westlichen Staaten ausgehöhlt. Wir erleben zweifellos einen zweiten Zusammenbruch.
Rechtliches Handeln in Zeiten sich formenden Rechts
Wie die Eule weiß, könnte bald eine dritte Phase des Völkerrechts anbrechen, aber noch kann niemand sagen, wie diese aussehen wird. Wie viel Blut wird noch fließen müssen – in der Ukraine, im Sudan, im Kongo? Werden wir überhaupt noch von Recht sprechen, wenn bald autonome Systeme entscheiden?
Wir können nicht länger so tun, als würden wir uns auf sicherem Grund bewegen. Aber wir können auch nicht stehen bleiben. Beweise sichern, Argumente austauschen – das bleibt unser Job. Und es bleibt notwendig, auch wenn wir nicht wissen, an welchem rechtlichen System man unser Handeln eines Tages messen wird. Wir brauchen neue Werkzeuge und neue Denkweisen. Das bedeutet nicht Rückzug, sondern Realismus. Diesem Zeitalter permanenter Polykrisen lässt sich nur begegnen, wenn wir die Regeln anwenden und gleichzeitig das System erneuern. Welches Tier könnte diese dritte Haltung verkörpern? Vielleicht der Oktopus: ernsthaft, aber verspielt, mit einer ganz anderen Art zu denken – eine dezentrale Intelligenz, die als Einheit handelt.

Ein Beispiel für solch ernsthaftes Spiel war Südafrikas Völkermordklage: ein Scheitern vor Gericht, aber ein Weckruf für die internationale Gemeinschaft. Oktopusdenken zeigt sich auch anderswo. Bei den Klimaklagen ebnete etwa das Konzept intergenerationeller Rechte neue Wege, von Urgenda bis zum Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts. Die Law and Political Economy-Bewegung denkt Investitions- und Handelsrecht neu, um globale Ungleichheit und Ernährungsunsicherheit zu bekämpfen. Diese Ansätze verabschieden sich nicht vom Recht, akzeptieren es aber auch nicht in seiner jetzigen Form – sondern verwandeln es unter Druck.
Oktopusse wenden geltende Regeln an und erfinden das System zugleich neu. Eulen interessieren sich für die Rechte der Natur und die Eigenmacht der Dinge – daraus können neue Denkweisen entstehen: über das Klima, aber auch darüber, wie wir mit unseren Technologien leben. Doch solche Ideen tragen nur dann, wenn sie auf das technische Gespür und die Detailgenauigkeit der Strauße treffen, die jedes Sandkorn einzeln prüfen.
Die Zukunft des Völkerrechts hängt davon ab, den Instinkt zur Kontinuität mit der Energie des Bruchs zu verbinden. Wir können uns nicht für das eine und gegen das andere entscheiden.
Der Beitrag erschien zuerst als Editorial auf dem Verfassungsblog.