
Delphine Horvilleur ist nicht irgendwer in Frankreich: Die in Nancy geborene 51jährige ist Rabbinerin der liberalen jüdischen Bewegung in Paris und eine wichtige Stimme in der Diaspora. Nach dem Terrorangriff und dem beispiellosen Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel hielt sie mit einer sehr kleinen Schar von Prominenten wie Anne Sinclair in Kälte und Regen Mahnwachen auf dem Trocaderó und forderte die Freilassung der verschleppten Geiseln. Sie schrieb ihren Schmerz, ihre Verzweiflung über die mit diesem brutalen Terrorschlag zerstörte Vision Israels als einer sicheren jüdischen Heimstatt und ihre Hoffnungslosigkeit über die nie endende jüdische Verfolgung und Ermordung in einem Buch nieder: „Wie geht’s? Miteinander sprechen nach dem 7. Oktober“. Das Schweigen vieler ihrer „Freunde“ hat sie „umgehauen“, wie sie am 17. Oktober 2023 der Zeitung Le Monde gestand.
Jetzt hat sie ihr bisheriges Schweigen zum israelischen Krieg in Gaza gebrochen: Am 7. Mai warf sie in ihrer Zeitschrift „Tenoua“ (hebräisch: Bewegung) aus „Liebe zu Israel“ ihrem Land und seiner rechtsextremen Regierung politischen Zusammenbruch und moralisches Scheitern vor.
Mit dem Staat Israel gehe es nicht (wie die rechtsextremen Minister und ihre Parteien behaupten) um ein „messianisches Versprechen“ oder „heilige Erde“: „Es ist der Überlebenstraum eines Volkes, das niemand geschützt hat oder schützen wollte und es ist die absolute Weigerung, ein anderes Volk zu vernichten, um diesen Überlebenstraum zu realisieren“. Eindringlich warb die Rabbinerin der Synagoge Beaugrenelle darum, „Augen und Herz“ für das Leiden der Kinder in Gaza zu öffnen. Sie beschwor mit einem Text aus der hebräischen Bibel („Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“), die Menschlichkeit zu bewahren, damit eine Generation wachsen könne, „die etwas anderes kennt als nur Hass“. Und sie bat um Unterstützung für die (in Israel selbst und in der Diaspora), „die wissen, dass ohne Zukunft für das palästinensische Volk es auch keine für das israelische Volk gibt“.
„Parolen der Entmenschlichung“
Ihr Klage und Anklage löste in der jüdischen Gemeinde ihres Landes, mit rund 440 000 Mitgliedern die größte in Europa, eine bisher unvorstellbare Hasskampagne gegen die Rabbinerin, die Mutter von drei Kindern, die Journalistin aus. Und unter französischen Linksextremen der „Unbeugsamen“ (Insoumis) des Populisten Jean-Luc Mélenchon, für die die Hamas eine palästinensische Befreiungsbewegung und Israel ein Kolonialstaat ist, brutale Häme.
Eine Woche später antwortete Delphine Horvilleur auf die Attacken im Netz und in bisher renommierten jüdischen Publikationen („Tenoua“ vom 13. Mai). Entsetzt darüber, wie jüdische „Brüder und Schwestern“ über sie hergefallen seien (sie arbeite den „Dreckskerlen“ von Links und Rechts in die Hände), beharrte sie auf der Pflicht, diesen Krieg in Gaza ethisch und moralisch zu hinterfragen, die „Parolen der Entmenschlichung“ der Regierung Benjamin Netanjahus anzuklagen. Das müsse eine der Lehren aus der jüdischen Geschichte sein und ein „Pfand des Zionismus“, der den Juden staatliche Souveränität in Sicherheit unter der Bedingung von Demokratie versprochen habe.

Fassungslos verfolgten eine Woche lang prominente jüdische Persönlichkeiten von Anne Sinclair, Enkelin des berühmten Pariser Galeristen Paul Rosenberger, bis zum Philosophen Alain Finkielkraut oder dem Historiker Marc Knobel, welche Welle des Hasses über Delphine Horvilleur hinwegrollte. Nur Anne Sinclair stellte sich auf Instagram sofort hinter die Rabbinerin: Im Netz wurde sie, die Ex-Frau des in einen Sexskandal verstrickten Sozialisten Dominique Strauss-Kahn, weit unter der Gürtellinie angepöbelt. Dann aber titelte am 13. Mai die linksliberale Tageszeitung Le Monde: „Israel-Gaza: jüdische Persönlichkeiten verlassen das Schweigen“. Es ist der Hass und die Gewalt aus der jüdischen Gemeinde selbst, die den Philosophen Finkielkraut bewogen haben, sein bisheriges Schweigen zur Politik Israels zu brechen. Unerträglich seien die Attacken gegen die Person, die Identität und das Engagement der Rabbinerin. „Das vergiftete Klima zeigt, an welchem Punkt die öffentliche Debatte heute ist, verschmutzt durch Hass“, sagte Finkielkraut in Le Monde. Es sei ein Kampf an vielen Fronten, dem sich die Juden stellen müssten: „Wir müssen den neuen Antisemitismus bekämpfen und die widerlichen Fanatiker anprangern, die Israel ins Verderben stürzen“, sagte er der Zeitung. Zu der Brutalität des Krieges dürften Juden nicht schweigen. Er spricht von Unversöhnlichkeiten, die sich sowohl in Israel selbst wie im Judentum der Diaspora gegenüber stünden: Nach einer kürzlich in der Zeitung „Haaretz“ veröffentlichten Umfrage befürworten 82 Prozent der Israelis die „ethnische Säuberung“ im Gazastreifen, das heißt die von der Regierung Netanjahu inzwischen offen geforderte militärische Eroberung des gesamten Gebiets und die Vertreibung der rund zwei Millionen Palästinenser aus dem Gazastreifen. Nach anderen Umfragen geht es den Israelis zu rund 60 Prozent um die Befreiung der Geiseln, nicht um eine Besetzung Gazas.
„In Loyalität, ohne Blindheit“
Reden oder Schweigen, das ist die zentrale Frage, mit der Delphine Horvilleur ihre Gemeinde in Frankreich konfrontiert hat. Sollen die Juden, die sich entschieden haben, nicht in Israel zu leben, sich jeder Kritik enthalten, wie es der Friedensnobelpreisträger Eli Wiesel einst (1986) den Juden in der Diaspora empfohlen hat? Yonathan Arfi, der Präsident des repräsentativen Rats der jüdischen Institutionen in Frankreich (CRIF) verteidigte in Le Monde eine gewisse Zurückhaltung in der Kritik, die Fragen müsste die „israelische Demokratie“ beantworten. Aber die Meinungsfreiheit einer Delphine Horvilleur verteidigt er, ohne sich jedoch klar von den Hassausbrüchen aus der eigenen Gemeinde zu distanzieren.
Nach Alain Finkielkraut entschieden sich in der Zeitschrift La Règle du Jeu der Historiker Marc Knobel, der Anwalt und frühere Präsident der jüdischen Studenten in Frankreich, Patrick Klugmann, und der Manager François Heilbronn, der gegenwärtig an der Hochschule Science Po Unternehmensstrategie lehrt, gegen das Schweigen und für eine Solidarität mit der Rabbinerin (La Règle du jeu vom 13. und 19. Mai). Innerlich zerrissen sind sie alle seit dem Terroranschlag der Hamas, ringen mit ihrem Judesein, ihrem Zionismus und ihrer Haltung. „Ja, ich bin Zionist“, schreibt Klugman, „in Loyalität ohne Blindheit.“ Er verteidigt das Recht des jüdischen Volkes auf einen Nationalstaat, „solange er demokratisch ist“. Im Gegensatz zu der Terrororganisation Hamas, die am 7. Oktober ein Verbrechen gegen die Menschheit begangen habe, verfüge Israel über eine demokratisch gewählte Regierung. Den Krieg in Gaza habe Israel nicht gewählt, aber die jetzige Begründung und Fortführung verurteile er auf das Härteste. Die Blockade der Hilfsleistungen sei weder legal noch akzeptabel. Und so fragt er selbstkritisch: Wer ist der wahre Freund Israels? Der, der schweigt, oder der, der redet? Er, der Zionist Patrick Klugmann, ist alarmiert: „Der Zionismus ist demokratisch oder ihn gibt es nicht mehr.“
Marc Knobel erklärt sein langes Schweigen mit dem in Frankreich nach dem 7. Oktober explodierten Antisemitismus und der extremen Polarisierung in der eigenen Gemeinschaft. Jetzt versteht sich dieser Intellektuelle als Mahner und Warner: „So dient man der Wahrheit und Gerechtigkeit mehr“, schreibt er in La Règle du Jeu.
Futuricide
Aber haben selbst prominente, stimmenmächtige Juden in Frankreich noch irgendeinen politischen oder intellektuellen Einfluss auf das Geschehen und die Entscheidungen in Israel? Unter französischen Nahostexperten und Wissenschaftlerinnen verbreitet sich ein neues Wort für das, was im Gazastreifen in diesen Tagen und Wochen passiert : „Futuricide“ (Le Monde vom 25./26. Mai), willentliche Zerstörung von Zukunft. Die linksliberale Tageszeitung listet dazu die Fakten auf: Von den 564 Schulen in Gaza sind 95 Prozent nicht benutzbar. Seit anderthalb Jahren gibt es für die Kinder und Jugendlichen keinen Schulunterricht mehr. Alle zwölf Universitäten sind zerstört, von den einst 36 Krankenhäusern arbeiten noch sieben oder acht, meist eingeschränkt. In den nächsten zwei Monaten soll nach der Anordnung der Regierung Netanjahu das israelische Militär Zweidrittel des Gazastreifens besetzen und für Zivilisten zur verbotenen Zone erklären.

Wer schweigt oder wer redet? Bemerkenswert ist, dass in dieser hass- und spannungsgeladenen Stimmung sich in Frankreich immer wieder israelische und palästinensische Politiker zu Wort melden mit Plänen zu einem Zusammenleben und einem dauerhaften Frieden. Vor wenigen Tagen beschrieb der ehemalige israelische Justizminister Yossi Beilin, der alle, letztlich gescheiterten Friedenspläne in den 1990er Jahren von Oslo bis Genf mitverhandelt hat, in Le Monde (am 14. Mai) seine Vision: „Zwischen Israel und Palästina sind Lösungen noch möglich, aber ohne die Koalition von Netanjahu.“ Doch wie lassen sich die (jüdische) Identität und Sicherheit des Staates Israel mit dem Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes vereinbaren? Für Yossi Beilin ist die gegenseitige staatliche Anerkennung eine Grundbedingung. Aber er kennt die Hindernisse nur zu genau: Was bedeuten „sichere Grenzen“ angesichts von Hamas in Gaza, von Hisbollah im Libanon, von palästinensischen Terroranschlägen in Israel? Was sind „sichere Grenzen“ für einen Staat Palästina, in dem sich rund 750 000 israelische Siedler mit massiver Unterstützung der gegenwärtigen Regierung (und des Militärs) ausbreiten, palästinensische Einwohner vertreiben und drangsalieren? Beilin räumt ein, dass die Siedler das größte Hindernis für eine Lösung seien. Er arbeite daran, schreibt er: Mit einer Gruppe von Palästinensern, die die Juristin Hiba Husseini leitet. Ihr gemeinsamer Plan heißt: „ Eine Konföderation der heiligen Erde.“ Eine Konföderation, für die Beilin den Geist der europäischen Union beschwört. Welch ein Plan, welch ein Traum! Delphine Hovilleur würde Yossi Beilin und seinen Mitdenkerinnen den mutmachenden Psalm 23 mit auf den Weg geben: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück.“ Alle Wege aus den finsteren Tälern müssten gegangen werden.