
Es ist bemerkenswert und abgründig, dass einige führende SPD-Politiker, deren Wort in der SPD Gewicht hat, im direkten Vorfeld des SPD-Parteitages ein „Manifest“ vorlegen, das Gespräche mit Russland und Abrüstung fordert, einen völligen Kurswechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands und wohl auch Europas. Wer nach den vielen Verhandlungs- und Gesprächsinitiativen von mehreren Seiten, nach den fortgesetzten Vernichtungsangriffen Russlands auf die Ukraine die „militärische Alarmrethorik“ und „riesige Aufrüstungsprogramme“ in europäischen Staaten – Russland ist wohl ausgenommen – kritisiert, gibt zu erkennen, dass er für die Ukraine Befriedung statt Frieden, Unterwerfung statt Autonomie in Kauf nimmt und für Deutschland und Europa eine von Russland dominierte Sicherheits- und Befriedungs-Ordnung will.
Russland unter Wladimir Putin überzieht die Ukraine Tag für Tag mit neuen verheerenden Bomben- und Drohnenteppichen, die im ganzen Land Verwüstung, Zerstörung und Tod bringen. Die USA haben unter Trump genau das gemacht, was manche in Europa gefordert haben: Trump hat – unter dem Ausschluss Europas und der Ukraine – Gespräche gestartet, die weder Trump dem Nobelpreis noch die Ukraine einem gerechten un dauerhaften Frieden näher gebracht haben. Sie haben bislang nur zu einer Stärkung Russlands, einer Schwächung Europas und der Ukraine geführt. Putin führt Trump als Tanzbär durch die globale Arena.
Sogenannte Verhandlungen laufen. Aber das „Memorandum“, das Russland bei dem jüngsten Verhandlungstermin mit der Ukraine im Mai in Istanbul vorgelegt hat, ist nichts anderes als die Wiederholung der russischen Maxmalforderungen und konterkariert alle Verhandlungsimpulse. Zusätzliche Gebietsabtretungen sollen von der Ukraine akzeptiert, ihr Status auf “Neutralität” festlegt, ihre Streitkräfte quantitativ und qualitativ beschränkt, eine Stationierung ausländischer Streitkräfte ausgeschlossen und neue Wahlen, vermutlich unter russischer Kontrolle, sollen durchführt werden. Dimitri Medwedew, stellvertretender Vorsitztender des russischen Sicherheitsrates, kommentiert das noch so, dass das Interesse an der Zerstörung der Ukraine und der Angriff auf „den Westen“ für jeden, der lesen kann und will, unübersehbar sind:
“Unser Ziel in diesen Verhandlungen war nie ein Kompromiss, sondern der vollständige Sieg und die Vernichtung des neo-nazistischen Regimes in Kiew. Wir haben diese Gespräche geführt, um die schnellen Erfolge Russlands zu festigen.“
Offenkundig werden Medwedew und andere in friedensbewegten Kreisen immer nur als Pappkameraden der Propaganda gesehen, deren Worte nicht ernst zu nehmen sind. Das Handeln Russlands im zurückliegenden Jahrzehnt hat kriegstüchtig das genaue Gegenteil bewiesen. Wie kann man da noch auf Gesprächs- und Verhandlungswillen Russlands jenseits militärischer Stärke und wirtschaftlicher Sanktionen hoffen?
Wo ist der Appell an Russland?
Die verbale Absage an ein „Appeasement“, die Manifest-Freund Ralf Stegner im „Stern“ nachliefert, ist purer Hohn. Dieses „Manifest“ reiht sich ein in die Serie offener Briefe, Appelle und Resolutionen, die immer nur eine Änderung des Verhaltens und Handelns des Westens im Blick haben und darauf hinaus laufen, dass der status quo der rechtswidrigen militärischen Eroberungen Russlands zum Ausgangspunkt von Gesprächen gemacht wird und ein status quo ante weder am Beginn noch am Ende der Verhandlungen stehen soll. All diese Manifeste und Appelle, auch das der SPD-Politiker, sind nie an den Angreifer, sondern immer an den Angegriffenen und seine Unterstützer adressiert.
Setzt sich Putin heute in der Ukraine durch, so sind doch morgen „Grenzspiele“ im Osten Estlands oder Lettlands oder die Sicherung des „Suwalki-Korridors“ zwischen Kaliningrad und Belarus im Nordostzipfel Polens nicht ausgeschlossen. Gilt dann, dass Land gegen Frieden angesichts der unveränderten atomaren Drohung durch Russland durchaus sinnvoll ist, der Artikel 5 des NATO-Status außer Kraft gesetzt wird, weil ein kleiner Randstreifen am Ostrand der EU einen Krieg nicht lohnt?

Das Manifest der SPD-Politiker spricht sich gegen die Stationierung von „weitreichenden, hyperschnellen US-Raketen-Systemen in Deutschland“ aus. Aber den Autoren des Manifests kann doch nicht unbekannt sein, dass Russland seit 2018 in Kaliningrad dauerhaft atomar bestückbare Bodenraketen mittlerer Reichweite stationiert hat, die jederzeit Berlin, Warschau oder Kopenhagen erreichen können und seit 2022 auch luftgestützte hyperschallfähige Raketen mit einer Reichweite bis an die Grenze zu ca. 1000 Kilometern? Abrüstung ist gut, aber doch nur, wenn sie gleichgewichtig passiert. Wo ist der Appell an Russland, die Raketen von Kaliningrad zurückzuziehen?
Abrüstung wird zu Recht gefordert. Es wird aber so getan, als ob der Westen oder Europa in dreißig Jahren nach 1990 die Rüstungsspirale ständig nach oben geschraubt hätten. Fakt ist, dass Anfang der 1980er Jahre mutmaßlich der Höhepunkt an Rüstungsausgaben im Kalten Krieg erreicht worden war. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gingen bis 2000 die weltweiten Rüstungsausgaben um 30 bis 40% zurück und lagen Ende der 1990er Jahre nur noch bei der Hälfte des Volumens der frühen 1980er Jahre. Deutschland konnte die Wehrpflicht aussetzen, das schon seit Jahren vereinbarte Zwei-Prozent-Ziel der NATO wurde, trotz wiederholter Interventionen der USA, nie eingehalten. Die Jahrzehnte nach 1990 waren Jahrzehnte der globalen und vor allem auch der europäischen und deutschen Abrüstung. Deutschland konnte im Schutz der USA-geführten NATO die „Friedensdividende“ kassieren, der Friedensbewegung freien Lauf lassen und auf eine handlungsfähige Bundeswehr ebenso wie auf ein auch nur zur minimalen Verteidigung geeignetes militärisches Material verzichten.
Handfeste Bedrohung
Die Änderung dieses Zustandes ist nicht durch kriegslüsterne deutsche oder europäische Verteidigungsminister oder einen einflussreichen militärisch-industriellen Komplex erreicht worden, sondern durch äußere Ursachen. Einen ersten, noch mäßigen Anstieg der Rüstungsausgaben gab es nach dem 1. September 2001 im „Krieg gegen den Terror“, so fragwürdig die Begründung gewesen sein mag. Nach oben geschnellt sind die Rüstungsausgaben aber erst mit dem zu Recht als „Zeitenwende“ gebrandmarkten Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Seit der Annexion der Krim durch Russland und dem versteckten Krieg in der Ostukraine gibt es einen kontinuierlichen Anstieg der weltweiten Militärausgaben auf über 2,7 Milliarden Dollar im Jahr 2024. Wer die hohen Rüstungsausgaben zu Recht beklagt ohne Ursache und Wirkung klar zu benennen, streut den Menschen Sand in die Augen und lässt sich, so böse das klingen mag, auf das Spiel Russlands ein. Man darf nicht von denen allein und zuallererst Abrüstung fordern, die keinen Anlass zur Aufrüstung gegeben haben.
Nach 1990, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, gab es eine, wenn auch fragile, aber akzeptierte Sicherheitsordnung in Europa, auch mit völkerrechtlichen Verträgen. Dem ist durch das Handeln Russlands der Todesstoß versetzt worden, diese Ordnung ist dadurch „destabilisiert“ worden. Niemand hat eine Bedrohung durch Russland wahrgenommen, ganz im Gegenteil, Kommunikation, Handel und Investitionen wurden ausgebaut. Es war keine „Bedrohungswahrnehmung“, sondern allein die handfeste Bedrohung durch Russland selbst, zunächst im Jahr 2014 in der Ostukraine sowie durch Annexion der Krim und schließlich durch den Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine vom Februar 2022, die die Stimmung ins Gegenteil verkehrt haben. Gerade Deutschland hat lange an einer wirtschaftlich nützlichen und sicherheitspolitisch scheinbar völlig unbedenklichen Zusammenarbeit mit Russland festgehalten, auch nach Annexion der Krim. Von wechselseitiger „ Destabilisierung“ und von „Verstärkung der wechselseitigen Bedrohungswahrnehmung zwischen Nato und Russland“ als Folge einer militärischen Konfrontationsstrategie in den meisten europäischen Staaten zu sprechen, stellt die Realitäten auf den Kopf. Es klingt wie Hohn „eine schrittweise Rückkehr zur Entspannung der Beziehungen und einer Zusammenarbeit mit Russland“ für nötig zu erachten, ohne die tatsächlichen Gegebenheiten im Auge zu haben.
Putin und Trump gegen Europa

Dieses „Manifest“ ist kein Baustein zu einem gerechten Frieden für die Ukraine, ganz im Gegenteil, es fällt ihr in den Rücken. Russland kann sich in seinem Kurs bestärkt sehen, verschärfte Angriffe auf die Ukraine mit einem Verhandlungszinnober zu kombinieren, das den Westen zermürbt. Die SPD-Führung wird, egal welchen Einfluss dieses Papier auf den Parteitag nimmt, geschwächt sein. Das Bild einer zerrissenen SPD, die auch in dieser Koalition nicht regierungsfähig ist, wird sich festsetzen. Es ist ein Trauerspiel, dass die Dimension des Konflikts führenden SPD-Politikern so gar nicht bewusst ist.
Putin will nicht nur die Ukraine beherrschen, sondern Europa mit seinem politischen System der liberalen Demokratie sowie einer toleranten und emanzipierten Zivilgesellschaft, soll zumindest geschwächt, wenn nicht zerstört werden. Letzteres teilt er mit Trump. Europa steht, angesichts des Politik- und Wertewandels des Regimes Trump und des Angriffs Russlands, vor der Notwendigkeit und Chance, seine eigene Autonomie und seinen Zusammenhalt zu stärken – politisch, wirtschaftlich, technologisch und militärisch. Die Voraussetzungen dafür sind heute noch gegeben. Da sich einige Länder der Europäischen Union aufgrund der eigenen Vorliebe für autoritäre Herrschaft sowie der Absage an Gewaltenteilung und eine plurale Gesellschaft, gepaart mit ökonomischen Interessen, Russland nahe fühlen, wird das im Zeitablauf schwieriger, zumal Russland in allen Ländern die antidemokratischen und antiliberalen Kräfte auf allen Ebenen offen und verdeckt fördert. Anstatt für ein gestärktes Europa so rasch wie möglich einzutreten, ist dieses Manifest ein kleiner, aber verhängnisvoller Wegweiser in das Gegenteil. Dieser Weg wäre falsch für Deutschland und Europa. Dieses Manifest schadet der SPD.
Siehe auf Bruchstücke auch „Wer schützt Brands Ostpolitik vor der SPD?„