Gemeinsame Sicherheit oder keine

Helsinki,1. August 1975, „gute alte Zeit“?
US-Präsident Gerald R. Ford und der sowjetische Generalsekretär Leonid Breschnew prosten sich zu nach der Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)
(Foto: Unbekannt auf wikimedia commons)

„Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor“ – ob das die neue deutsche und europäische Sicherheitspolitik sei, fragt Gernot Erler kritisch im Interview mit Wolfgang Storz und plädiert für „eine neue Generation von ‚Gemeinsamer Sicherheit'“. Erler war rund 20 Jahre lang einer der einflussreichsten Außen- und Sicherheitspolitiker der SPD. „Endlich wieder aufrüsten“ für einen Krieg mit Russland könne nicht das politische Ziel sein, sagt er heute. „Anstrengungen zur Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit, begleitet von Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie von politischen Verständigungsbemühungen, verdienen Unterstützung.“

Wolfgang Storz: Die westlichen Demokratien setzten die letzten 20, 30 Jahre gegenüber anderen Systemen, auch gegenüber Diktaturen auf diese Strategie: Wir treiben mit ihnen Handel, binden sie mit UNO, WTO, IWF und weiteren internationalen Organisationen in ein Regelwerk ein — und dann werden sich diese Systeme, schon aus wirtschaftlichen Interessen, nach und nach in friedliche kooperative Partner wandeln. Russland und China kooperierten viele Jahre und sind doch, wie es sich heute zeigt, aggressive bis kriegsführende Gegner geblieben. Ist diese Strategie in diesen beiden Fällen gescheitert?

Gernot Erler: Wir reden gerne von der “Regelbasierten Weltordnung“, die sich auf die “Schlussakte von Helsinki“(1975) und auf die “Charta von Paris für ein neues Europa“(1990) stützt. Wichtigstes Ergebnis des KSZE-Prozesses war die Anerkennung des Prinzips der “Gemeinsamen Sicherheit“ und des Gewaltverzichts. Gegen diese Regeln ist zuletzt aber immer wieder verstoßen worden, beispielsweise mit dem Irak-Krieg der USA von 2003 oder mit der russischen Annexion der Krim von 2014. Die Schwächung der Bindungen und Selbstbindungen, das ist das Gefährliche.

Ist sie grundsätzlich gescheitert?

Erler: Die gesamten Regelwerke sind derzeit damit konfrontiert, dass die Androhung und die Anwendung von Gewalt hoffähig geworden ist. Präsident Trump leitete seine zweite Amtszeit mit dem Anspruch auf Kanada, Grönland und auf den Panama-Kanal ein und schließt dabei Gewaltanwendung nicht aus. Präsident Putin verzichtet beim Ukrainekrieg auf jegliche Legitimationsversuche, sondern er erklärt, er werde die gesamte Ukraine erobern, wobei er erneut die Existenz eines ukrainischen Staates und Volkes infrage stellt. Beides zeigt, wie weit wir gegenwärtig von einer regelbasierten Ordnung entfernt sind.

Foto, 2013: Heinrich Böll Stiftung auf wikimedia commons

Gernot Erler, 1944 geboren, lebt in Freiburg. Er hat Examen in Geschichte, Slawische Sprachen und Politik abgelegt. Erler, der russisch spricht, war an der Universität Freiburg auch am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte tätig. Er saß, bis Oktober 2017, für die SPD 30 Jahre im Bundestag; mehrfach gewann er seinen Wahlkreis direkt. In dieser Zeit wurde er zu einem der einflussreichsten und erfahrensten Außen- und Russlandpolitiker der SPD. Von 1994 bis 1998 war er Vorsitzender des Unterausschusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Von 1998 bis Ende 2013 konzentrierte er sich als Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion auf Außen- und Sicherheitspolitik, unterbrochen von seiner Tätigkeit als Staatsminister im Auswärtigen Amt von 2005 bis Oktober 2009. Von 2003 bis 2006 und von 2014 bis Mitte 2018 war Gernot Erler Russland-Beauftragter der Bundesregierung.

Zum Konflikt um das Atomwaffenprogramm des Iran: Darüber wurde endlos verhandelt. Wir reden über Jahrzehnte. Zeigt nicht die heutige Situation: Diplomatie, sei sie noch so klug und hartnäckig, bringt nur handfeste Ergebnisse, wenn sie auf dem Fundament von glaubhafter militärischer Drohung steht?

Erler: Die Verhandlungen über das iranische Atomprogramm sind nicht an Zweifeln über das amerikanische militärische Drohpotential gescheitert, sondern an Zweifeln an der Glaubwürdigkeit Teherans.

Moskau wie Kiew erheben Maximalforderungen

Kennen Sie in den vergangenen zehn Jahren einen Konflikt, der anhaltend allein mit diplomatischen Mitteln befriedet worden ist?

Erler: Es liegt nahe, hier auf das “Peacekeeping“ und “Peacebuilding“ der Vereinten Nationen zu verweisen. Ich nenne einen Fall, an dem ich selber mitgewirkt habe. In Kenia drohte nach gefälschten Wahlen 2008 ein Bürgerkrieg. Kofi Annan, der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, wurde um Vermittlung gebeten. Als Lösung warb er für eine “Große Koalition“. Ich wurde vom damaligen Außenminister Steinmeier nach Nairobi geschickt, um den Streitparteien die Arbeitsweise von Großen Koalitionen zu erklären. Die Mission war erfolgreich, der Bürgerkrieg konnte gestoppt werden.

Boris Pistorius, Verteidigungsminister, sagte eben auf dem Parteitag seiner SPD: Man müsse zur Kenntnis nehmen, „der Imperialist in Moskau“ wolle keinen Frieden. Stimmen Sie dieser Analyse zu?

Erler: Jemanden als “Imperialisten“ zu bezeichnen, ist aus meiner Sicht noch keine Analyse. Was wir feststellen müssen ist, dass beide Seiten, Moskau wie Kiew, Maximalforderungen als Vorbedingung für Friedensgespräche erheben. In der jetzigen Phase wäre es hilfreich, wenn im Rahmen der Kontakte versucht wird, auf beide Seiten einzuwirken, schrittweise von diesen Maximalforderungen abzurücken.

Welche Chance hat bezüglich des Ukraine-Krieges in diesen Wochen, Monaten das Instrument der Diplomatie?

Erler: Es gibt schon Ergebnisse der bilateralen Kontakte, beispielsweise der zuletzt erfolgreiche Gefangenenaustausch und die Vereinbarung, die ukrainischen Atomkraftwerke nicht in die Kampfhandlungen einzubeziehen. Es macht Sinn, hier in Richtung weiterer Verhandlungsziele anzuknüpfen. Man fragt sich, was denn die Alternative zu Verhandeln wäre?

Vor allem Oppositionsparteien, aber auch Teile der SPD sind sich bei allen Unterschieden einig: Deutschland und EU setzten zu wenig auf Diplomatie und zu sehr auf Waffen. Wo haben Deutschland und EU gute Gelegenheiten vertan, um mit Putin zu verhandeln?

Erler: Wenn man die Öffentlichkeit in Deutschland beobachtet, kann man das Gefühl bekommen , unser Land befände sich auf einer Einbahnstraße in den Krieg. Putin werde uns angreifen, wenn nicht 2028, dann 2029. Die Antwort heißt: Maximale Aufrüstung, Herstellung von Kriegstüchtigkeit, Rückkehr zur Allgemeinen Wehrpflicht und ab 2026 die Aufstellung neuer amerikanischer nuklearfähiger Mittelstreckenwaffen, und das allein in Deutschland. Si vis pacem para bellum: Ist das die neue deutsche und europäische Sicherheitspolitik? Gab es nicht mal eine Politik, deren Aufgabe es war, Wege aus der Gefahr zu finden, durch Deeskalation und Abrüstung Kriege zu vermeiden und für das Prinzip der “Gemeinsamen Sicherheit“ zu werben?

„Endlich wieder aufrüsten“ kann nicht das Ziel sein

1970, zu der Hochzeit der Friedenspolitik von Willy Brandt, lagen die Militärausgaben Deutschlands bei drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). 2017 wurden gerade noch 1,13 Prozent des BIP für Militär ausgegeben. Viele andere EU-Staaten eiferten Deutschland nach. Warum hat diese enorme Abrüstung Putin nicht abgehalten, die Ukraine zu überfallen?

Erler: Der Erfolg von Willy Brandts Ost- und Entspannungspolitik beruhte darauf, dass er Vertrauen schuf: durch die Anerkennung der DDR und der bestehenden Grenzen, einschließlich der Oder-Neiße-Grenze. Die Bundestagswahlen von 1972 zeigten, dass die große Mehrheit der Deutschen diesen Weg befürwortete. Die Ostverträge waren es, die über die Einsicht in das Prinzip der “Gemeinsamen Sicherheit“ den Weg zur deutschen Einheit ebneten.

Ist es vor diesem Hintergrund dieser Zahlen nicht naheliegend, endlich wieder aufzurüsten?

Erler: „Endlich wieder aufrüsten“ für einen Krieg mit Russland kann nicht unser Ziel sein. Anstrengungen zur Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit, begleitet von Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie von politischen Verständigungsbemühungen, verdienen Unterstützung.

Wie weit ist eine Wiederaufrüstung der Bundeswehr Ihres Erachtens geboten?

Erler: Eine Bedarfsanalyse muss aufzeigen, wo, in welchem Umfang, in welchem Zeitrahmen und für welche Fähigkeiten die Bundeswehr Investitionen braucht. Dagegen ist es höchst fragwürdig, bestimmte Anteile am BIP pauschal der Bundeswehr zur Verfügung zu stellen. Das führt in die Beliebigkeit der Haushaltsausgaben für Sicherheit und Verteidigung. Die jedes Jahr fortzuschreibende Bedarfsanalyse bleibt unverzichtbar für eine parlamentarisch kontrollierte Sicherheitspolitik.

Wie muss sich die SPD, will sie Friedenspartei bleiben, neu positionieren?

Erler: Die SPD muss sich als Partei der Kriegsverhinderung profilieren und denen entgegentreten, die eine militärische Auseinandersetzung mit Russland für unvermeidbar erklären. Dafür gilt es, die Zusammenarbeit mit den Friedensinitiativen zu bündeln und einen substanziellen Dialog zu Frieden und Sicherheit zu organisieren. Die SPD muss sich dabei für eine neue Generation von “Gemeinsamer Sicherheit “ einsetzen.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

1 Kommentar

  1. Am Ende muss sicher eine „gemeinsame Sicherheit“ stehen. Aber sie wird nicht darauf basieren können, dass Gewalt als Mittel der Politik, dass der Bruch des Völkerrechts zunächst einmal hingenommen wird. Drei gleichsetzende Gegenüberstellungen finde ich in G. Erlers Aussagen höchst problematisch: 1. Der Irakkrieg, so problematisch seine Legitimation war, ist Folge von 9/11, eines Terrorangriffs auf die USA . Die Annexion der Krim erfolgte völlig grundlos nach den olympischen „Friedensspielen“ in Russland. Keinerlei Bedrohung Russlands war dem vorausgegangen. 2. Nicht verständlich ist für mich auch, das legitime und legale Beharren der Ukraine auf seine zunächst auch von Russland mehrfach völkerrechtlich anerkannten Grenzen, mit den Zielen Russlands, die Ukraine zu zerstückeln und sie ihrer Souveränität zu berauben, von der Fortgesetzten Tötung und Zerstörung ganz zu schweigen, als „Maximalforderungen“, von denen beide Seiten abrücken müssten, gleichzusetzen. 3. Trumps Politik ist in vieler Hinsicht zerstörerisch, auch für eine regelbasierte Weltordnung. Aber bei Panama und Grönland droht Trump bislang nur mit Worten. Putin dagegen hat die Krim und andere Teile der Ukraine annektiert und vollzieht tagtäglich die Vernichtung der Ukraine.
    Das für 2035 angestrebte 5% Ziel ist ja kein zwangsweiser Automatismus, sondern fordert jährliche Analysen und Prognosen. Entscheidend wird sein, wie der Angriffskrieg auf die Ukraine endet: Der Grad der Zerstörung der Ukraine als souveräner Staat wird der Maßstab für das Wollen der europäischen Staaten aufzurüsten sein. Momentan scheint es leider so, dass der Grad der Zerstörung der Ukraine durch Russland, selbst durch Verhandlungsangebote und extreme Zurückhaltung in der militärischen Unterstützung des wichtigsten Akteurs, der USA, nicht gemindert sondern eher angestachelt wird. Es wird immer darauf verwiesen, dass Kriege durch Diplomatie, nicht durch militärische Siege oder Niederlagen beendet werden. Bislang rücken die verstärkten diplomatischen Bemühungen doch nur die militärische Niederlage der Ukraine näher. Wer für den Erfolg der Diplomatie den Verzicht der Ukraine auf die Krim und die Ostukraine, auf NATO- und vielleicht auch auf EU-Mitgliedschaft als essentiell ansieht, soll das auch so sagen. Aber wo unterscheidet sich Erfolg dann noch von Niederlage? Aber wir wissen dann, dass die Anerkennung der von Russland selbst definierten Sicherheitsinteressen, die Grundlage einer neuen Sicherheitsordnung in Europa wären.

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