
Ab 2027 werden junge Männer wieder verpflichtend “gemustert”, die Bundeswehr soll auf 260.000 aktive Soldaten (und zusätzlich 200.000 Reservisten) aufgestockt werden. Wenn das nicht auf freiwilliger Basis klappt, droht Zwang, die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht. Der Berliner Rechtsanwalt Udo Grönheit hat Jahrzehnte lang Mandanten vertreten, die sich in der einstigen Mauerstadt dem Dienst mit der Waffe entzogen. „Wenn weibliche Emanzipation bedeuten soll, dass Frauen sich an dem männlich geprägten Verhalten der „Konfliktbewältigung“ mit Gewalt beteiligen können, stößt das auf meine entschiedene Ablehnung“, sagt er im Interview mit Thomas Gesterkamp.
Thomas Gesterkamp: Rund 50.000 Westdeutsche gingen während des Kalten Krieges nach (West)Berlin, um nicht zum Kriegsdienst einberufen zu werden. Sie waren einer von ihnen – war das eine Art Fahnenflucht?
Udo Grönheit: Als Fahnenflucht im rechtlichen Sinne galt das nur in einer geringen Zahl der Fälle. Wer vor der Zustellung eines Einberufungsbescheides in Westberlin ankam, war vor der Bundeswehr sicher. Bedroht waren nur diejenigen, die in den Augen der Alliierten schon Soldaten waren, also bereits einberufene Wehrpflichtige. Die Verlegung des Wohnsitzes, um dem Kriegsdienst zu entgehen, war allein nicht strafbar. Wer aber nicht rechtzeitig aktiv wurde, dem konnte es passieren, notfalls sogar mit dem Charterflugzeug aus Westberlin ausgeflogen zu werden.
Die Berlin-Migranten vermieden damit ja auch den Zivildienst…
Udo Grönheit: Ja, dieser von anerkannten Verweigerern zu leistende Dienst fiel dann ebenfalls aus. Die besonders konsequenten Kriegsgegner, so genannte Totalverweigerer, lehnten und lehnen auch die Ableistung des Zivildienstes ab – weil sie das Zwangssystem nicht durch ihre Teilnahme legitimieren wollen. Etwas Verwerfliches kann ich daran nicht erkennen.

Udo Grönheit, geboren 1943, wuchs in Schleswig-Holstein und im Ruhrgebiet auf. 1969 ging er nach (West)Berlin, um keinen Kriegsdienst leisten zu müssen. Er ist studierter Jurist und arbeitete im “Sozialistischen Anwaltskollektiv” unter anderem mit dem späteren Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele zusammen. Danach gründete er seine eigene Kanzlei in Berlin-Kreuzberg. Zunächst wegen des großen Bedarfs auf “wehrrechtliche” Themen spezialisiert, kümmert sich Grönheit heute vorwiegend um ausländer- und strafrechtliche Verfahren.
Die derzeitige Debatte um Sicherheitsgarantien für die Ukraine wird verknüpft mit der Stationierung von ausländischen Truppen. Deutsche, die wieder gegen Russen kämpfen – schon aus historischen Gründen ein Schreckensszenario?
Udo Grönheit: Vor dem Hintergrund unserer Geschichte sollten wir uns daran nicht beteiligen. Ohnehin gilt: Niemand muss sich bewaffnen, der in Frieden mit seinen Nachbarn leben will. Trotz der unglaublichen Perversität der russischen Führung ist es notwendig, diplomatisch auf sie zuzugehen. Das wäre nicht das Drohen mit Gegengewalt, sondern die Aufnahme von Gesprächen über wechselseitige Abrüstung. Allein die Militärausgaben der NATO-Staaten ohne die USA betragen in europäischer Währung das Dreifache der russischen. Auch in der Denkweise der Militärs hätten wir also Spielraum zum Nachgeben, ohne die Sicherheit des Westens zu gefährden.
Wegen des Personalmangels der Bundeswehr will Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) die 2011 ausgesetzte Wehrpflicht wieder einführen. Zunächst auf freiwilliger Basis, wenn das nicht klappt aber auch mit Zwang. Was halten Sie davon?
Udo Grönheit: Als Kriegsdienstgegner bin ich gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht und auch gegen jeden staatlichen Zwangsdienst, der als Dienst an der Gesellschaft schöngeredet wird. Was ist das für eine Gemeinwesen, das es nicht schafft, junge Menschen ohne Androhung von Gewalt oder gar Gefängnis zu motivieren? Der Versuch, das Mitmachen in der Armee zu einem quasi normalen Beruf umzudeuten, ist zum Scheitern verurteilt.
Soldaten sind Mörder, so lautete der juristisch einst umstrittene Satz Kurt Tucholskys…
Udo Grönheit: Es ist gar nicht nötig, bis zu Tucholsky und bis zum Weltbühne-Prozess zurückzugehen. Heute kann man sich auf die Einstellungsverfügung der Generalbundesanwältin in dem Ermittlungserfahren gegen Oberst Georg Klein wegen der Tötung von mindestens 91 Menschen im afghanischen Kunduz, fast alle waren Zivilisten, beziehen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es sich um einen Mord gehandelt habe. Eine demokratische Gesellschaft, die sich in weiten Teilen immer noch auf christliche Werte beruft, zu denen zentral die Bergpredigt gehört, darf Menschen nicht zum Morden erziehen oder gar zwingen.
Verbrechen und Leiden eines Krieges
Nach Pistorius’ Wehrpflicht-Plänen müssen sich Männer verbindlich äußern, ob sie zum Dienst bei der Bundeswehr bereit sind. Für Frauen bleibt das unverbindlich – eine Diskriminierung des angeblich starken Geschlechts?
Udo Grönheit: Wenn weibliche Emanzipation bedeuten soll, dass Frauen sich an dem männlich geprägten Verhalten der „Konfliktbewältigung“ mit Gewalt beteiligen können, stößt das auf meine entschiedene Ablehnung. Es sollten vielmehr erst mal die Männer lernen, Konflikte ohne Gewalt oder Androhung derselben zu lösen. Die weltweiten Militärausgaben erreichten im Jahr 2024 einen neuen Höchststand und beliefen sich auf etwa 2,7 Billionen US-Dollar, wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI berichtet.
In der Vergangenheit wurde das männliche Soldatentum auf merkwürdige Weise mit der Mehrbelastung von Frauen durch Gebären und Care-Arbeit verrechnet – und so moralisch legitimiert…
Udo Grönheit: Wer wie ich den erzwungenen Kriegsdienst für Männer ablehnt, hält eine Diskussion über die Einbeziehung von Frauen in das militärische Zwangskorsett von Befehl und Gehorsam bis hin zum Mord für vollkommen überflüssig. Das Übel, das man den Männern zufügt, wird nicht dadurch besser, dass die Frauen ihren Anteil daran haben sollen.
Es gibt inzwischen wieder eine ganze Alterskohorte junger Männer, die man früher “weiße Jahrgänge” genannt hätte. Wer nach 1992 geboren wurde, bekam keinen Musterungsbescheid mehr, musste sich mit dem Thema Militärdienst gar nicht erst auseinander setzen. Sollten sich diese Männer, heute zwischen 20 und 35 Jahre alt, Sorgen machen? Würden Sie ihnen raten, vorsorglich zu verweigern? Rechtlich ist das weiterhin möglich.
Udo Grönheit: Ja, aber nicht unbedingt, weil die konkrete Gefahr einer Einberufung bevorsteht. Sondern um denjenigen, die wie Pistorius die Notwendigkeit der „Kriegstüchtigkeit“ von Staat und Gesellschaft herbeireden wollen, deutlich zu machen, dass sie mit Widerstand rechnen müssen.
Sie waren Ihr ganzes Leben lang Pazifist und Antimilitarist. Was halten Sie von prominenten einstigen Kriegsdienstverweigerern, die seit dem russischen Angriff zum Kampf in den Schützengräben aufrufen?
Udo Grönheit: Bei denen habe ich manchmal den Eindruck, dass sie sich das wahre Ausmaß der Verbrechen und Leiden, die ein Krieg bedeutet, nicht richtig vergegenwärtigen. Die Abertausenden von Toten, ob in Gaza oder der Ukraine, die Verstümmelung vieler Menschen und die Zerstörungen sind durch nichts zu rechtfertigen.
Unter dem Titel „Udo Grönheit über Wehrpflichtgesetz: ‚Wir dürfen Menschen nicht zum Morden erziehen‚“ erschien das Interview zuerst in der Freitag.