Mit Hauptschulabschluss im Bundestag? Überhaupt erlaubt?

Gemälde von Johann Peter Hasenclever aus dem Jahr 1845: Ironische Darstellung des Unterrichts in einer preußischen Dorfschule (Foto: Van Ham Kunstauktionen, wikimedia commons)

Diversity ist in aller Munde, es geht um Hautfarbe, Religion, Geschlecht, Sexualität, Behinderung, um Diskriminierung von LGBT… . Die Linke Sarah Wagenknecht ärgert sich: Über diese sehr präsenten Identitäts-Debatten drohe das Problem sozialer Diskriminierung endgültig unterzugehen. Ein Beispiel für ihre These: Etwa 30 Prozent der hier lebenden BürgerInnen verfügen (nur?!) über einen Hauptschulabschluss. Rätselfrage: Wie viele Abgeordnete mit Hauptschulabschluss sitzen im Deutschen Bundestag?

Volker Riegger, ehemals Wahlforscher und Wahlkampfmanager, heute Professor für strategische Planung, hat jüngst in einem Interview — es ging unter anderem um den momentanen Umfrage-Siegeszug von Olaf Scholz — das Thema der Repräsentationslücke und des Wahlverhaltens von ärmeren und ausgegrenzten BürgerInnen aufgegriffen. Riegger diagnostiziert: Diese Gruppen hätten „im letzten Jahrzehnt immer mehr resigniert“ und gingen nicht mehr zur Wahl. „Das ist der Kern der wachsenden demokratischen Repräsentationslücke, übrigens nicht nur in Deutschland.“

Jedoch: Es gebe inzwischen laut Umfragen eine erhöhte Sensibilität für soziale Ungleichheiten. Da zahle es sich eben aus, dass Olaf Scholz und seine SPD einen Mindestlohn von 12 Euro und mehr Respekt für die Menschen forderten, die in schlecht bezahlten Berufen arbeiten; wozu vermutlich viele Hauptschulabsolventen gehören.

Man kann das so wie Volker Riegger sehen. Man kann auch fragen: Wer hat denn verantwortlich dafür gesorgt, dass es heute — laut Wahlplakat der SPD — etwa zehn Millionen Beschäftigte gibt, die nicht einmal 12 Euro die Stunde erhalten? Richtig: SPD und Grüne errichteten unter Kanzler Gerhard Schröder den größten Niedriglohnsektor unter den westlichen Industrieländern; Olaf Scholz war schon damals führend dabei, hat diese Herabwürdigung des Werts der Arbeit mitzuverantworten und dies ihm heute noch vorzuhalten, ist angemessen, da er die Agenda-Politik von damals immer noch schätzt und rechtfertigt.

Mit 12 Euro zurück zur Wahlurne?

Sicher: Seit 2015 gibt es immerhin einen Mindestlohn; nachdem ein Jahrzehnt darüber palavert wurde. Momentan beträgt er 9,60 Euro; in zwei weiteren Schritten soll er bis zum 1. Juli 2022 auf 10,45 Euro steigen. Ist das nicht armselig in einer der reichsten Wirtschaftsnationen der Welt? Und ist vor diesem Hintergrund eine Forderung von zwölf Euro Mindestlohn im Jahr 2021 tatsächlich geeignet, um Menschen für vermutlich harte Arbeitsleistungen Respekt zu zollen? Zumal diese Summe vermutlich auch mit einem Kanzler Olaf Scholz in halbjährlichen Zehn-Cent-Schritten angestrebt werden würde.

Horst Kahrs, Wahlforscher der Rosa-Luxemburg-Stiftung, macht ebenfalls wie Volker Riegger auf die oben erwähnte Repräsentationslücke aufmerksam und untermauert sie mit diesen Zahlen: Arbeiter und Angestellte in Produktion und Dienstleistungssektoren gingen zu 50 Prozent gar nicht mehr zur Wahl. Und nach seinen Befunden hat sich daran zumindest bis zur letzten Landtagswahl (der in Sachsen-Anhalt) nichts geändert: „Es gibt in der Tat keine Anzeichen dafür, dass bei der jüngsten Wahl in nennenswertem Umfang bisher nichtwählende Arbeiter und Angestellte mit einfacher und mittlerer Qualifikation neu wählen gegangen sind. Die Wahlbeteiligung ist sogar erneut leicht gesunken.“

Kahrs ist im Gegensatz zu Riegger allerdings sehr skeptisch, ob diese Schichten mit einem solchen 12 Euro-Respekt zurück an die Wahlurne gelockt werden könnten. Was gehe denn von Grundrente und Mindestlohn an solche BürgerInnen für eine Botschaft aus, „die sich mit harter Arbeit etwas aufbauen, sich aus ihrer proletarischen Lebenslage herausarbeiten wollen?“. Kahrs beantwortet seine Frage so: „Die Botschaft lautet doch: mehr als `das Mindeste` konnten wir für euch nicht herausholen.“ Das sei doch, so Kahrs, keine Perspektive „auf bessere Zeiten“.

Das „Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages“ dokumentiert in Statistiken und chronologischen Übersichten die Arbeit des Bundestages seit 1949. Über die aktuellen Kandidaten schreibt Spiegel Online: Das „Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages“ dokumentiert in Statistiken und chronologischen Übersichten die Arbeit des Bundestages seit 1949. Über die aktuellen 6211 KandidatInnen schreibt Spiegel Online, „nicht nur gefühlt dominiert der weiße, leicht angegraute Mann mit unauffälligem Vornamen“.   

Gerade mal neun Abgeordnete

Wenn es das Bestreben ist, diese Gruppen zur Wahl zu bewegen, dann sollte nicht nur deren Resignation im Mittelpunkt stehen. Zumal mit einer solchen Haltung dieser Unterton beim besten Willen nicht ganz vermieden werden kann: Jetzt gibt es doch einen Kanzlerkandidaten, der fordert 12 Euro für Dich, der will, dass Dir endlich Respekt gezollt wird, jetzt überwinde doch endlich Deine Resignation, jetzt geh` doch zur Wahl, das nützt Dir doch. Und wenn Du nicht (Olaf Scholz) wählst, dann schadest Du Dir selbst doch am meisten!

Es geht um beides: Was wird politisch geboten? Und wer bietet das an? Sind das Leute, also Politiker und Politikerinnen, denen diese Schichten vertrauen können? Sprechen die deren Sprache, bewegen die sich in deren kulturellen Welten?

Mit diesen Fragen kommen wir auf das Rätsel zu Beginn zurück. Also: 30 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben einen Hauptschulabschluss. 85 Prozent der Abgeordneten im Bundestag haben studiert. Neun Bundestagsabgeordnete haben einen Hauptschulabschluss.

Die entscheidende Frage: Was bringt ein Studierten-Bundestag an Gerechtem zustande? Armin Schäfer und Michael Zürn, beide Politikwissenschaftler, haben diese Form politischer Ungleichheit untersucht und in ihrem Buch „Die demokratische Regression“ die Ergebnisse präsentiert. Die Forscher bestätigen zunächst einmal die Resignations-Befunde von Riegger und Kahrs. Eines ihrer Beispiele: Bei der Bundestagswahl 2017 lagen in Köln zwischen dem Stadtteil mit der geringsten und dem mit der höchsten Wahlbeteiligung beinahe 45 Prozent; es geht also nicht um ein bisschen Unterschied, es geht um das Ganze. Schäfer und Zürn sehen diese direkten Zusammenhänge: Wo Arbeitslosigkeit und Armut hoch sind, ist die Wahlbeteiligung gering, in wohlhabenden Stadtteilen ist die Beteiligung dagegen hoch.

Verrutschte Maßstäbe

Die Forscher schauen jedoch nicht nur auf die wahl-resignierten BürgerInnen. Sie haben auch untersucht, welche Politik ein studierter Bundestag so produziert. Ihr Ergebnis: Projekte und Wünsche von BürgerInnen mit höherer Bildung und höherem sozialen Status werden vom Bundestag „viel häufiger politisch umgesetzt“ als die Wünsche von Menschen, die „weniger Ressourcen haben“. Bundestagsabgeordnete reagieren also auffallend stark auf Forderungen und Wünsche von Unternehmern, Beamten und Gebildeten — und deutlich weniger auf Wünsche einkommensschwacher Gruppen: „Es gibt eine Schieflage bei den politischen Entscheidungen zugunsten derjenigen, denen es ohnehin besser geht.“

Damit sind wir wieder bei dem Thema gesetzlicher Mindestlohn. Er wurde erst 2015 eingeführt; viel später als anderswo. Und dann mit 8,50 Euro auf einem, gemessen an der Wirtschaftskraft dieses Landes, läppisch geringen Niveau. Trotzdem gilt seine Einführung in der offiziellen Politik inzwischen weithin bei allen als großer Erfolg. Und die Forderung der SPD in diesem Wahlkampf, ihn auf 12 Euro zu erhöhen, als ehrgeiziges oder gar (so FDP, Union) zu ehrgeiziges fortschrittliches Projekt. Das zeigt, wie Maßstäbe in einer parlamentarischen Welt verrutschen, in denen gut situierte AkademikerInnen, darunter viele privilegierte Beamte, Debatten und Entscheidungen prägen.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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