Vorbild Österreich — Land der politischen Innovationen?

Von Österreichs Fortschritten könnte die deutsche Politik profitieren. Ob im Wohnungsbau, der Verkehrspolitik oder Rentenversorgung. Könnte. Will sie aber nicht. Sie pumpt lieber zig Milliarden in alte Strukturen. Und verliert zu interessanten Alternativen der Nachbarn nicht ein Wort. Auch dann nicht, wenn in Österreich innovative Wege in Sachen Pflege eingeschlagen werden.

Screenshot: „Pflegemodell Burgendland: Wegbereiter für ganz Österreich?

Wird in Deutschland über Innovationen geredet, dann denken (fast) alle an neue Techniken; oder noch primitiver an das neueste VW- oder BMW-Modell. Mindestens genauso wichtig sind jedoch Innovationen in der Politik. Ein Blick zurück: Das Bafög einzuführen, das war 1971 eine weitreichende Innovation; nicht der Geldbeutel der Eltern, sondern Neigung, Eignung und Leistung sollten künftig darüber entscheiden, ob ein junger Erwachsener studiert oder nicht. Oder die Künstlersozialkasse, eingeführt 1983, mit der freischaffende Künstler sich seither mit Hilfe des Staates eine halbwegs sichere Altersversorgung verschaffen können; ein sozialer und kultureller Fortschritt erster Güte.

Die deutsche Politik — es scheint: parteiübergreifend — konzentriert sich seit Jahrzehnten nur noch darauf: entweder in veraltete Strukturen immer mehr Milliarden zu pumpen: siehe zuletzt das so hoch gelobte einfallslose „Wumms“-Programm (für Lufthansa, TUI) von Finanzminister Olaf Scholz anlässlich der Corona-Pandemie, mit dem allerorten der Status Quo zementiert wurde; oder es werden im privatkapitalistischen Überschwang erprobte traditionelle Regeln zugunsten von waghalsigen, sogenannten modernen Lösungen abgeschafft; siehe die Teil-Privatisierung der Rente. „Teuer und unrentabel“ für die Versicherten ist heute das häufigste Urteil über die Riester-Rente.

Wer sich Anregungen für politische Innovationen holen will, dem ist also meist nur zu helfen, wenn er ins Ausland schaut, in diesem Fall nach Österreich.

Dort sieht Fortschritt so aus: Der Staat beschäftigt und bezahlt Menschen, die ihre Angehörigen, ob die alten Eltern oder ihre Kinder, pflegen. Inspiriert von Modellen in Dänemark gibt es im kleinen Burgenland (knapp 300.000 Einwohner) seit zwei Jahren diesen Modellversuch: Eine landeseigene Pflege Service Burgenland GmbH stellt ab der Pflegestufe 3 Angehörige als Pflegekräfte ein. Beispiel: Pflegt der Sohn, meist ist es die Tochter, die 82jährige stark gehbehinderte Mutter, eingestuft als Pflegefall 3, dann werden Sohn oder Tochter bei dieser landeseigenen Gesellschaft halbtags angestellt, was gut 20 Wochenstunden Pflegearbeit entspricht. Dafür erhält der pflegende Angehörige etwa 1000 Euro netto; bezahlt wird nach dem national geltenden Mindestlohn. Ein zweites Beispiel: Ist die zu pflegende Person in Stufe 5 eingruppiert, dann gibt es eine Vollzeitstelle mit 40 Stunden, für die der oder die pflegende Angehörige 1700 Euro netto erhält. Zu den Details: Die Angehörigen, die angestellt werden, erhalten eine Basisschulung in Sachen Pflege im Umfang von etwa 15 Tagen; medizinische Arbeiten übernehmen sie nicht. Ihre tägliche Arbeit muss anhand einer Checkliste dokumentiert werden, die überprüft wird, um beispielsweise Missbrauch auszuschließen.

Mit einem kleinen Modell das ganz große Rad drehen

Zwei wesentliche Ziele dieses Modells: Die Pflegebedürftigen sollen möglichst lange in der eigenen Wohnung weiterleben können; zum einen wollen das fast alle, zum anderen ist diese Variante für alle Beteiligten, auch für die Gesellschaft, am günstigsten. Das andere Ziel: In Zeiten des Pflegenotstandes werden mit den Familienangehörigen, die ihre Eltern oder Geschwister pflegen, meist sehr verlässliche und engagierte Pflegekräfte mobilisiert, ohne dass diese ihre eigene Altersversorgung riskieren; denn, wenn bisher Angehörige ihre Familienmitglieder pflegen, müssen sie nicht selten ihre (Teilzeit-)Arbeit aufgeben, haben kein Einkommen mehr, zahlen deshalb auch nicht mehr in die eigene Rente ein. Übrigens wurde im Rahmen dieses zweijährigen Modells bereits dieser Effekt registriert: Die festangestellten pflegenden Angehörigen bleiben manchmal auch im Pflegedienst, wenn ihr pflegebedürftiger Verwandter gestorben ist. Es könnte sich mit diesem Modell also auch um ein sehr intelligentes Instrument handeln, um generell geeignetes Pflegepersonal zu gewinnen.

Und so ganz nebenbei dreht das kleine Burgenland mit diesem Modell an einem ganz großen gesellschaftspolitischen Vorhaben: Es ist eine alte gut begründete Forderung vor allem feministischer Bewegungen, Haus-, Erziehungs- und eben auch Pflegearbeit, die bisher meist von weiblichen Angehörigen unbezahlt geleistet wird, solle endlich honoriert werden.

Resonanz: hervorragend

Die Resonanz des Modells: weitgehend hervorragend. Das Burgenland wird, weil alles so gut läuft, dieses Modell verlängern. Und es läuft bisher so gut, dass mehrere andere Bundesländer dieses Modell ebenfalls erproben wollen; Oberösterreich ist damit schon gestartet. Die oppositionelle SPÖ verlangt, dieses Modell auf Bundesebene zu übernehmen, die mitregierenden Grünen, so ihr Gesundheitsminister, sind ebenfalls sehr angetan.

Und nun zur Erinnerung noch weitere politische Innovationen unseres ‚kleinen‘ Nachbarn in Kürze:

Neurentner, die 35 Jahre lang gearbeitet haben, bekommen in Österreich im Monat durchschnittlich knapp 1900 Euro; in Deutschland etwas mehr als 1000 Euro, also gravierend weniger. Die Nachbarn dürfen ihre Rente zudem länger genießen: Männer ab 65 und Frauen (noch) ab 60 Jahren. Wie kann das gehen? Die wichtigsten Antworten: So gut wie alle Österreicher zahlen in die gesetzliche Rentenkasse ein, auch Beamte und Selbstständige.

Und wie ist es in Österreich mit der Rente …

Steuermittel werden eingesetzt, um beispielsweise Kleinstrentnern eine Mindestsicherung von 845 Euro zu garantieren und Frauen Kindererziehungsjahre anzurechnen. Allerdings: Österreich gehört im europäischen Vergleich zu den Ländern mit den höchsten Rentenzahlungen im Verhältnis zur Wirtschaftskraft. Ein Vergleich mit Deutschland: 2019 lagen die gesamten Staatsausgaben für Rentenleistungen gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei 14,1 Prozent, in Deutschland bei 12,7 Prozent. Und: Der Beitragssatz zur Rentenversicherung liegt in Österreich um mehr als vier Prozentpunkte über dem deutschen. Keine Frage: SPD, Union und FDP würden einen politischen Schlaganfall erleiden, so müssten sie sich über einen solch` dramatisch hohen, geradezu unverantwortlichen und ruinösen Beitragssatz aufregen, der natürlich gaaarrr nicht geht! Sicher: Über diese Fragen gibt es auch im Nachbarland stets heftigen politischen Streit. Aber bisher hat Österreich diese Belastungen offensichtlich auch wirtschaftlich gut verkraftet. Die österreichische Wirtschaft, die ähnlich stark wie die deutsche vom Export abhängig ist, gilt trotz dieser Rentenbelastungen im internationalen Ranking unverändert als sehr wettbewerbsfähig.

… mit der Krankenversicherung …

Deutsche Gewerkschaften fordern seit Jahrzehnten vergeblich und mit guten Gründen eine „allgemeine Bürgerversicherung“. In Österreich ist sie Realität: Auch Hochverdiener, Beamte und Selbstständige sind Pflichtmitglieder einer Krankenkasse. Es gibt keine Wahlfreiheit zwischen den Kassen und entsprechend auch keine Konkurrenz. Erstaunlich: Der Beitragssatz liegt deutlich niedriger als der durchschnittliche in Deutschland. Wesentlich höher ist dafür vergleichsweise der Zuschuss des Staates an den Gesundheitskosten. Der Haken: Das Leistungsspektrum ist schlechter als in Deutschland. Weil Kassenärzte rar sind, müssen auch immer mehr Österreicher auf privat praktizierende Mediziner ausweichen. Dabei zahlen sie dann kräftig zu.

Und dann noch diese Innovation: In Wien ist bis heute jede vierte Wohnung im Besitz der Stadt; in Wien (1,9 Millionen Einwohner) und Umgebung lebt jeder Vierte der etwa 8,7 Millionen Österreicher. Hinzu kommen Wohnungen, die öffentlich gefördert, aber von Genossenschaften und privaten Firmen errichtet wurden, den „gemeinnützigen Bauvereinigungen“; deren Gewinne sind gedeckelt und müssen in neue Projekte investiert werden.

… und dem sozialen Wohnungsbau?

Karl-Marx-Hof,1926-1930 erbaut und 1988-1992 saniert, bekanntester Gemeindebau mit 1.272 Wohnungen, über 1 km lang mit Kindergärten, Bädern, Jugendheim, Bibliothek. (Screenshot: Wohnservice Wien)

Mit anderen Worten: Der soziale Wohnungsbau spielt vor allem in Wien, aber auch in ganz Österreich eine sehr bedeutende Rolle, zumal die Sozialbindung einer Wohnung — im Gegensatz zu Deutschland — nie ausläuft; aufgrund dieses hohen Einflusses des sozialen Wohnungsbaus werden zwangsläufig auch die Mietpreise auf dem privatwirtschaftlichen Wohnungsmarkt gedämpft. Und wie ist die Entwicklung in Deutschland? Deprimierend. Nämlich so: 1987 gab es in der alten Bundesrepublik noch 3,9 Millionen Sozialwohnungen. Nach der Volks- und Gebäudezählung waren es Ende 2001, also im größeren wiedervereinigten Deutschland, noch bescheidene 1,8 Millionen Wohnungen. 2019 noch kümmerliche rund 1,1 Millionen.

Und zum Schluss noch diese Kleinstinnovation: Die Deutsche Bahn hat vor Jahren ihr Nachtzug-Angebot eingestellt, die Verluste seien zu hoch. Der Ärger vieler war groß. Bis Österreich das Heft in die Hand nahm. Die österreichische Bahn, komplett in Hand des Staates, offeriert mit ihrer Marke ÖBB Nightjet seit Ende 2016 ein ausgefeiltes attraktives Nachtzug-Angebot, inzwischen auch auf dem deutschen Markt — übrigens mit Gewinn.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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