Sobald ein neues Wort im allgemeinen Sprachgebrauch auftaucht, ist ein Unterschied wichtig geworden, der vorher keine Rolle spielte oder gar nicht wahrgenommen wurde. Sagt jemand Himbeereis, weiß ich sofort Zweierlei: Erstens es gibt noch anderes Eis, zweitens es gibt auch noch etwas anderes als Eis; welches Andere gemeint ist, kann erst einmal offen bleiben. Ist von Krise die Rede, wird der Unterschied gerne Normalität genannt. Allerdings behaupten kluge Leute, seit dem 18. Jahrhundert, also seit wir „in der Moderne“ leben, seien Krisen normal. Das spräche dafür, dass die Normalität in der Krise ist. Ein Versuch zu sortieren.
Normalität ist ein Sehnsuchtsthema. In Krisen wird Normalitätsverlust beklagt und neue Normalität heraufbeschworen. Am liebsten hätte man einen V-förmigen Verlauf: Wenn schon ein bedauerlicher Tiefpunkt, dann möglichst schnelle Erholung und zurück zu alter Größe. Der Normalismus-Forscher Jürgen Link hebt hervor, dass sich ein kollektives Normalitätsbewusstsein erst in der Moderne entwickelt. Das leuchtet ein, denn solange sich nichts oder nur wenig verändert, solange von der Wiege bis zur Bahre Gewohnheiten und ihre Wiederkehr das Lebensgefühl bestimmen, braucht man sich der Normalität nicht zu vergewissern. Bricht trotzdem ein Unglück herein, geschieht ein Wunder, ereignet sich eine Katastrophe, haben die Götter oder das Schicksal es so gewollt – auch kein Grund zu grübeln, hier sei etwas nicht normal.
Linien, Kurven, Balken, Torten
Darüber nachzudenken, was normal und was nicht normal ist, drängt sich erst auf, wenn laufend Neues in die Welt kommt und die Menschen überzeugt sind, dass dieses Neue ihr eigenes „innovatives“ Werk ist. Jetzt wird es interessant, die Welt zu vermessen. Normalität und Statistik sind Zwillinge. Das aus dem Französischen entlehnte Wort Statistik bezeichnete ursprünglich eine Staatswissenschaft der „Verdatung“, sagt Link. Die Dominanz von statistischen Auswertungen mit ihren Diagrammen hat heute nahezu alle Bereiche des Lebens durchdrungen und längst auch die Privatsphäre erfasst.
Normal ist für viele inzwischen sogar der spielerische Umgang mit Herzfrequenz- und Bewegungsmessung etc. am Handgelenk. Die Ergebnisse kann man sich dann als Leistungskurven anschauen oder ausdrucken. Von solchen individuellen Auswüchsen des normal gewordenen Datenfetischismus ist die Vermessung der Bürgerinnen und Bürger zu unterscheiden. Häufigkeitsverteilungen, Mittelwerte, Streuungs- und Verteilungsmaße etc. gehören zum Handwerkszeug der Statistik und verraten bereits durch die Bezeichnung ihre Intention. Ihr Interesse galt und gilt dem Normalen, nicht zuletzt, um Abweichung vom Normalen zu identifizieren und möglicherweise zu beheben. Die berühmte Glockenkurve der Normalverteilung geht zurück auf den Göttinger Mathematiker, Physiker und Astronom Carl Friedrich Gauß. Ursprünglich als Verteilungsgesetz für zufällige Beobachtungsfehler ersonnen, ist die Glockenkurve zum populären Bild der Normalität geworden.
Angesichts der aufbereiteten Daten und Statistiken zu Corona frage ich mich, was diese Bilder, was die Kurven und Diagramme mit uns machen. Welche Normalität entsteht durch die Präsentation der Coronadaten, die an Finanzauswertungen und Sporttabellen erinnern? Was macht es mit uns, wenn Qualitäten, wenn Freude und Leid, Luxus und Elend, Liebe und Gewalt, vorrangig als Quantitäten wahrgenommen werden? Ursprünglich dienten die Linien, Kurven, Balken und Torten der Verständlichkeit. Längst ist aus dem Versuch, Wirklichkeiten abzubilden, die Herstellung eigener Normalitäten geworden.
Dumme und flexible Normalität
Im Umgang mit Normalität sieht Jürgen Link zwei verschiedene Typen, die er (es gibt schönere Wörter) „Protonormalismus“ und „flexiblem Normalismus“ nennt. Ich spreche lieber von dummer und flexibler Normalität. Ein Verfechter dummer Normalität ist der ehemalige Berliner Senator und Bankier Thilo Sarrazin. Er sammelt in seinen populären Büchern so akribisch Anormalitäten wie die als Treppenterrier bezeichneten Blockwarte des Nationalsozialismus. Dumm-Normale wie Sarrazin sind Populisten, die Normalität eng und eindeutig auslegen – ein Volk, eine Identität, eine Rasse, ein Raum und vielleicht auch demnächst eine Gesundheit. Intelligenzquotienten und Body Mass Index gibt es schon. Mit der Definition von Anormalität lässt sich Gewinn zu machen, wie die Pharmaindustrie zum Beispiel mit dem Cholesteringrenzwert beweist.
Statistische Normalität zum Richter zu machen, kann zu abstrusen Entscheidungen führen: Eine Mutter von Zwillingen erzählte mir jüngst, dass ihr Ärzte während der Schwangerschaft eine Abtreibung des einen Fötus nahelegten, um die normale Entwicklung des anderen Kindes nicht zu gefährden. Die Eltern, in der Einordnung von Jürgen Link „flexible Subjekt-Typen“, entschieden sich zum Glück für beide Kinder, die gesund und munter auf die Welt kamen. Toleranz und Pluralismus sind Kennzeichen des flexiblen Normalismus. Auffällig geworden ist dieser Normalismus vorwiegend pittoresk in der inflationären Zunahme von Tätowierungen und Piercings der „Otto Normalabweicher“ (Jürgen Kaube) oder als paradoxer Modetrend Normcore, der Unisex und Unauffälligkeit favorisiert.
Denunzianten als dumme Normalisten
Denunziantentum ist dagegen eine Lebensform des dummen Normalismus, bei dem sich der Mensch in seinem festen Weltbild durch Abweichlerinnen gestört fühlt. So grassiert auch in Corona-Zeiten das Denunziantentum. Die latente Fremdenfeindlichkeit wird und wurde an fremden Autokennzeichen ausgelebt. Endlich kann man im eigenen Land die Normalität des Ausländerseins am eigenen Leib erleben. Politisch erweist es sich als gefährlich, Normalität durch Verordnungen einzuschränken. Der dadurch entstehende enge Korridor der Normalität provoziert geradezu Verstöße und gießt Öl ins Feuer des Denunziantentums. Auch die sich im Netz und auf Hygienedemos artikulierenden Minderheiten argumentieren dumm-normal. Sie bestehen auf simplen Ursachen für schwer durchschaubare Ereignisse; ihnen fällt es leichter, Strippen ziehende Bösewichter am Werk zu sehen, als einzusehen, dass in Krisen niemand so recht weiß, was vor sich geht. Die anstehenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen bräuchten aber eine flexible und damit pluralistische Konzeption von Normalität. Stattdessen droht eine Konfrontation der verschiedenen dumm-normalen Lager mit ihren ebenso einfachen wie absoluten Wahrheiten.
Normalität ist in unserer Gesellschaft ein umkämpftes Gebiet, wie drei Beispiele verdeutlichen.
Normale Infektionen: Normal ist, dass in der Grippewelle 2017/18 nach Berichten des Robert-Koch-Instituts in Deutschland über 25.000 Menschen an der Influenza gestorben sind, darunter Kinder und Schwangere. Neun Millionen Arztbesuche wurden gezählt. Das Gesundheitssystem war überlastet und Krankenhäuser im Grenzbereich.
Normale Einsamkeit: Jedes Jahr sterben allein in Berlin Hunderte arm und vereinsamt. Weniger als 50 Gäste nahmen im November 2019 an einer Trauerfeier für 54 von ihnen in der St. Marienkirche in Berlin-Mitte Anteil. Für die Erhebung von Einsamkeit zu Lebzeiten gibt es keine Verdatung. Dass Einsamkeit in Deutschland ein lebensbedrohendes Massenphänomen ist, bestreitet niemand.
Normale Familien: Bereits in dem 1970 erschienenen Bestseller zur Sexualaufklärung „Sex-Front“ berichtet Günter Amendt von normalem „Elternsex“: „Pro Jahr werden in der Bundesrepublik Deutschland ca. 100 Kinder von ihren Eltern totgeschlagen. Nur 5 % der Kindesmißhandlungen werden bekannt. […] Man schätzt, daß pro Jahr 100.000 Kinder mißhandelt werden.“
Die Sucheingabe Normalität ergibt bei Google Ende Mai 2020 fünfeinhalb Millionen Treffer. Das Wort Banalität verzeichnet dagegen weniger als 400 Tausend Einträge; die meisten in Zusammenhang mit Hannah Arendts berühmtem Diktum von der „Banalität des Bösen“. Normalität des Bösen wäre angemessener und treffender. Kurt Tucholsky hat die Schwundstufen der Normalität 1925 in einem Gedicht über „Ruhe und Ordnung“ weise vorausblickend paraphrasiert.
Ruhe und Ordnung
Wenn Millionen arbeiten, ohne zu leben,
wenn Mütter den Kindern nur Milchwasser geben –
das ist Ordnung.
Wenn Werkleute rufen: »Lasst uns ans Licht!
Wer Arbeit stiehlt, der muss vors Gericht!«
Das ist Unordnung.
Wenn Tuberkulöse zur Drehbank rennen,
wenn dreizehn in einer Stube pennen –
das ist Ordnung.
Wenn einer ausbricht mit Gebrüll,
weil er sein Alter sichern will –
das ist Unordnung.
Wenn reiche Erben im Schweizer Schnee
jubeln – und sommers am Comer See –
dann herrscht Ruhe.
Wenn Gefahr besteht, dass sich Dinge wandeln,
wenn verboten wird, mit dem Boden zu handeln –
dann herrscht Unordnung.
Die Hauptsache ist: Nicht auf Hungernde hören.
Die Hauptsache ist: Nicht das Straßenbild stören.
Nur nicht schrein.
Mit der Zeit wird das schon.
Alles bringt euch die Evolution.
So hats euer Volksvertreter entdeckt.
Seid ihr bis dahin alle verreckt?
So wird man auf euern Gräbern doch lesen:
sie sind immer ruhig und ordentlich gewesen.
Theobald Tiger, Die Weltbühne, 13.01.1925, Nr. 2, S. 68
Darf ich diesen Beitrag rebloggen?
Liebe Grüße, Hiltrud
Selbstverständlich.
Herzliche Grüße
Jürgen Schulz
AUCH ZAHLEN HABEN QUALITÄTEN
Der Autor fragt „was es mit uns macht, wenn Qualitäten als Quantitäten wahrgenommen werden“. Er nennt Leid, Luxus, Elend, Liebe und Gewalt. Argumentationskarten mit hoher emotionaler Spielstärke. Er reizt damit die Betroffenheitsperspektive gegen die Distanzperspektive aus. Eine rhetorische Figur, die seit den 1970er Jahren vor allem in Deutschland genutzt wird, um emotional unterfütterte Rechte von Individuen gegen Versachlichungsstrategien moderner Gesellschaften auszuspielen. Sie ist hoch erfolgreich. Ihre Verwendung vor allem in Krisenzeiten ist immer wirksam. (So wenn Fotos von isolierten alten Menschen in Pflegeheimen gegen Corona-Risikostatistiken ausgespielt werden.)
Eine gefährliche Tabuzone. Zweifelt einer an, dass es auf dem Terrain von Betroffenheit (gesteigert als Empörung, institutionalisiert als moderner Aktivismus), Empfindsamkeit, Gemeinschaft, Solidarität, Opfer-Schuld-Relationen immer mit aufgeklärten Dingen zugeht, hat der schon verloren, wenn er sich auf diesem Terrain verirrt. (Meist wird er auch sofort in sein „Lager“ – eben das der automatisch „inhumanen“ Quantifizierung – zurückgeschickt.)
Emotionalisierung gegen Rationalisierung (hier: Industrialisierung & Mechanisierung) auszuspielen, ist nebenbei gut deutsche Tradition seit der Verbiedermeierung romantischen Gedankengutes im frühen 19. Jahrhundert.
Was ist mit dieser Haltung gewonnen? Auf jeden Fall reflexhafte, modern habitualisierte Zustimmung bei all denen, die zum Betroffenheits-Milieu gehören. Dass moderne Staaten mittels Volkszählung, Alterungspyramiden, Demenzhäufigkeiten Planungszahlen für Schulneubauten, Rentensystemkorrekturen und Sozialsystem gewinnen müssen, um vom „Volk“ nicht für mangelnde Planungsvernunft abgestraft zu werden, darf im hiesigen „Qualitäten“-Klima nicht gesagt sein.
Nebenbei müsste, wenn Quantifizierung gebannt oder gar verbannt sein soll, Geschichte „zurückgespult“ werden auf einen Zustand vor der Entstehung von Stadtkultur, also gut 8.000 Jahre. Denn hier hebt die Kunst (oder techne) der Quantifizierung an: „Hier entstand eine neue Art von Wissenschaft (…); sie basierte auf einer abstrakten, unpersönlichen Ordnung, auf Zählen, Messen und exakter Aufzeichnung“, ohne die weder der Pyramidenbau noch der Kalender zur Systematisierung des Nil-Ackerbaus entstanden wären (Lewis Mumford: Der Mythos der Maschine, S. 203)
Die Quantifizierung von Qualitäten abzuqualifizieren ist leicht, wenn beide Perspektiven auf / Konstruktionen von Wirklichkeit als konträr und nicht als komplementär angesehen werden. Das Leid eines Einzelnen macht betroffen, wenn es erfahren wird. Politik hat zu fragen: Haben wir es mit einem Einzelfall, einem vorübergehenden Gruppenphänomen oder einem Krisensymptom des Systems zu tun? Um das festzustellen, bedarf es der Erhebung, also Quantifizierung (und auch Temporalisierung, also der Beobachtung der Zeitachse und des Blicks auf evolutionäre Trends). Dass der Einzelne dabei aus dem Blick gerät, ist nicht per se inhuman, sondern der Perspektive geschuldet. Dass Varianten einer professionellen Deformation bei denen beobachtet werden können, die den Anonymisierungsvorteil von Quantifizierung (Betroffenheitsvermeidung) zu lange genossen haben, sollte dennoch im Blick behalten werden.
Zwischen den Perspektiven sollte unterschieden werden können, wenn der Blick auf Einzelne und Gesellschaft strukturell nicht unterkomplex – dafür aber emotional „dicht“ – ausfallen soll. Die Chancen zu einer klareren Sicht stehen aber schlecht. Da Wirklichkeit über Medien erfahren wird (und nicht über „Wirklichkeit“) und Medien Betroffenheit als Lockmittel nutzen, werden Mehrheiten permanent auf Empörungsreflexe hin konditioniert. Wissenschaft sollte nicht auf solche Reflexe aufsatteln.
Ich weiß gar nicht, ob mein Bruchstück gemeint ist. Normalität erwähnt Leser gar nicht.
Meine zugegeben bruchstückhafte Kritik gilt nicht den Zahlen, die z.B. auf Konten, Steuererklärungen und Zeugnissen etc. Qualitäten haben.
Meine Kritik gilt der bornierten Hinnahme determinierter „Normalität“. Nicht einmal in Tankstellen findet sich noch Normal. Das Kompliment der Emotionalisierung nehme ich gerne.
Bezüglich Lesers Gedanken aus Luhmanns „Realität der Massenmedien“ sollte man dessen nachgeschobene Einschränkung nicht unerwähnt lassen: „Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können.“ Die Konditionierung der Massenpsyche ist nun wirklich alter Café au Lait.
Alle Kommunikation ist riskant!