„Natürlich fragen sich Viele, ob dieser opferreiche Krieg nicht ein Ende haben soll. Er ist auch schwer auszuhalten. Aber Wunschdenken führt gerade nicht zum Frieden, sichert ihn auch nicht in Deutschland“, urteilt der Osteuropa-Experte Andreas Wittkowsky im Interview mit Wolfgang Storz und betont: „Diplomatisch tut sich übrigens einiges. Westliche Regierungen reden nicht nur mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seiner Regierung. Hinter den Kulissen wird auch ausgelotet, ob sich Russland bewegt.“
Der Vernichtungskrieg von Putin-Russland gegen die Ukraine jährt sich. Wie deuten Sie, Stand Mitte März 2023, das Kriegsziel der Ukraine?
Andreas Wittkowsky: Die Kriegsziele der Ukraine sind relativ einfach zusammenzufassen: Die Herstellung der Souveränität über ihr völkerrechtlich anerkanntes Territorium, verlässliche Sicherheitsgarantien, Verfolgung der russischen Kriegsverbrechen und Reparationen. Ob dies die vollständige militärische Befreiung der besetzten Gebiete bedeutet oder ob ab einem bestimmten Punkt ein politischer Prozess greifen kann, das ist offen. Ohne den Erfolg auf dem Schlachtfeld ist es aber unmöglich, auch nur eines der Ziele zu erreichen.
Dr. Andreas Wittkowsky ist Wirtschaftswissenschaftler, arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als Osteuropaexperte, unter anderem mit mehrjährigen Aufenthalten im Kosovo und in der Ukraine. Seit 2011 ist er am Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF), dem Kompetenzzentrum des Auswärtigen Amtes für Friedenseinsätze. Twitter @Twittkowskyi
Deckt sich das mit dem Ziel des Westens? Oder hat der keines oder ganz verschiedene?
Andreas Wittkowsky: Auf die erste Frage ein grundsätzliches Ja. Der Westen hat aber auch weitergehende Interessen, die mit einem ukrainischen Erfolg erreicht wären. Zum einen, weitere Aggressionen Russlands gegen die Ukraine oder im übrigen Europa zu verhindern. Also die eigene Sicherheit zu stärken. Zum anderen, mögliche Nachahmer in anderen Teilen der Welt abzuschrecken, die auf die nukleare Karte setzen. Auch aus westlicher Sicht spricht dies gegen einen sofortigen Waffenstillstand, weil dieser die gegenwärtigen Eroberungen Russlands belohnen und Wiederholungstäter ermutigen würde.
Hat sich an den Kriegszielen von Russland in den letzten Monaten etwas geändert?
Andreas Wittkowsky: Das sehe ich nicht. Putin geht es weiterhin um die Unterwerfung der Ukraine und die Vernichtung der ukrainischen Nation. Da sich die Ukraine 2014, auf dem Euromaidan, erfolgreich gegen die schleichende Eingemeindung in die „russische Welt“ gewehrt hat — wie diese vonstattengeht, sehen wir gerade in Belarus —, soll sie militärisch bezwungen werden. Auch die jüngsten offiziellen Verlautbarungen lassen keine Zweifel daran, dass Russland weiterhin anstrebt, was als „Denazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine bemäntelt wird. In den besetzten Gebieten trägt das die Züge eines Genozids: Hier wird alles Ukrainische zerstört oder geraubt, die Bevölkerung gewaltsam russifiziert.
Aber damit nicht genug: Putins Ziel ist nicht nur die Wiedererrichtung eines russischen Imperiums. Er strebt auch eine russische Einflusssphäre und damit die Vorherrschaft in Europa an. Erinnert sei hier noch einmal an die Vertragsentwürfe, die den USA und der NATO im Dezember 2021 vorgelegt wurden. Sie zielten auf den Rückzug der USA als nukleare Schutzmacht und die Rückabwicklung der NATO-Osterweiterung.
Wie bewerten Sie die militärische Lage? Ein Patt mit der Folge eines fürchterlichen Abnutzungskrieges gleichermaßen für beide Seiten?
Andreas Wittkowsky: Ein Krieg besteht nicht nur aus dynamischen Phasen. Nach dem Scheitern des russischen Blitzkriegs im Frühjahr 2022 und den erfolgreichen ukrainischen Offensiven im Herbst ist das Frontgeschehen gerade relativ statisch — wobei die Betonung auf „relativ“ liegt. Denn das langsame Vordringen von russischer Armee und Söldnern an mehreren Abschnitten in der Ostukraine wird gemeinhin als die russische Winteroffensive bewertet. Unter sehr hohen Opfern erreicht diese nur wenige Geländegewinne, weil die Ukraine sich hartnäckig verteidigt.
Im ukrainischen Kalkül spielt es tatsächlich eine wichtige Rolle, die russischen Kräfte „abzunutzen“ — ja, diese militärische Sprache ist echt grauenvoll — und damit deren Fähigkeit für eine weitere Frühjahrsoffensive zu minimieren. Gleichzeitig plant die Ukraine selber weitere Vorstöße für die Zeit nach der „Wegelosigkeit“, der Schlammperiode nach dem Tauwetter.
Scholz telefoniert regelmäßig, aber fruchtlos mit Putin
Eine Initiative von Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht fordert einen sofortigen Waffenstillstand und den Stopp von Waffenlieferungen. Innerhalb weniger Tage wird ihr Manifest von einer halben Million BürgerInnen unterstützt, bis 10.März von knapp 750.000. Sie reüssieren auch mit der Behauptung, es werde nichts oder viel zu wenig Diplomatie unternommen. Kippt in Deutschland die öffentliche Meinung zulasten der Ukraine?
Andreas Wittkowsky: Ich hoffe nicht. Nach wie vor ist die Unterstützung bei uns breit. Natürlich fragen sich Viele, ob dieser opferreiche Krieg nicht ein Ende haben soll. Er ist auch schwer auszuhalten. Über Jahrzehnte ist uns Deutschen das Denken in Kategorien der „Wehrhaftigkeit“ abhanden gekommen. Aber Wunschdenken führt gerade nicht zum Frieden, sichert ihn auch nicht in Deutschland.
Diplomatisch tut sich übrigens einiges. Westliche Regierungen reden nicht nur mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seiner Regierung. Hinter den Kulissen wird auch ausgelotet, ob sich Russland bewegt. Bundeskanzler Olaf Scholz telefoniert regelmäßig, aber offensichtlich fruchtlos, mit Putin. Es stimmt: Gegenwärtig lehnen Angreifer und Angegriffene Verhandlungen ab. Putin möchte weiterhin die Kapitulation der Ukraine. Selenskyj weiß das und muss deshalb darauf setzen, dies auf dem Schlachtfeld zu vermeiden.
Ein Vorhalt gegen Schwarzer und Wagenknecht: Sie spielten Putin in die Hände. Ist dieser Vorhalt haltbar?
Andreas Wittkowsky: Die beiden Galionsfiguren des Manifests sind alles andere als die letzten Aufrechten der Friedensbewegung, als die sie sich in einem Gute-Laune-Video stilisiert haben. Die deutsche Öffentlichkeit pflegt einen starken Angstdiskurs und ist deshalb ein wichtiges Ziel der russischen Angstpropaganda, die unter anderem mit atomaren Erstschlagsphantasien spielt. Das Manifest nimmt diese Propaganda auf, verstärkt sie und schreibt der Bundesregierung eine mögliche Eskalation zu. Das ist Täter-Opfer-Umkehr zugunsten Putins. Eine Idee, wie man Russland zu ernst gemeinten Verhandlungen bewegt, fehlt dagegen völlig. Stattdessen leisten Schwarzer und Wagenknecht den Bestrebungen Vorschub, eine pro-russische Querfront zwischen radikalen Rechten und anti-amerikanischen Linken zu bilden – und ich glaube, sie wissen, was sie tun. All dies verkaufen sie als „Solidarität“ mit der Ukraine.
Russische Atomanlagen werden sehr genau beobachtet
Die Initiatoren argumentieren unter anderem: Wenn Deutschland auch noch moderne Panzer liefere, steige die Gefahr, dass Putin zumindest taktische Atomwaffen einsetze. Wie analysieren Sie das?
Andreas Wittkowsky: Die schlechte Nachricht zuerst: Seit es Nuklearwaffen gibt, existiert die Gefahr ihres Einsatzes. In der relativ entspannten Phase nach dem Kalten Krieg haben wir das verdrängt. Deshalb bleiben Rüstungsbegrenzung und -kontrolle wichtig. Die gegenwärtige geopolitische Auseinandersetzung erschwert sie. Russland hat den New-Start-Vertrag suspendiert, China rüstet nuklear auf, Nordkorea und Iran arbeiten an „der Bombe“. Daher das westliche Interesse, den Einsatz von Nuklearwaffen maximal abzuschrecken.
Allerdings sind Nuklearwaffen in erster Linie politische Waffen. Ein weltweiter Atomkrieg ist — bei Strafe des eigenen Untergangs — nicht führbar, wie sich die Nuklearmächte immer wieder gegenseitig versichern. Auch mit dem Einsatz begrenzt wirkender „taktischer“ Nuklearwaffen würde Russland eine rote Linie überschreiten, deren Auswirkungen es nicht kalkulieren kann. Und dies glaubwürdig klar zu machen, ist eine wichtige Aufgabe der internationalen Diplomatie. Auch militärisch wäre so ein Einsatz fragwürdig, weil er die Ukraine nicht automatisch wehrlos macht. Und: Ein Überraschungsangriff ist ausgeschlossen. Nukleare Einsatzvorbereitungen wären sichtbar — die russischen Anlagen werden sehr genau beobachtet.
Nach Gesprächen und Besuchen unter anderem von Kanzler Olaf Scholz und US-Präsident Biden mit und in Peking hieß es vor wenigen Monaten, sowohl China als auch Indien, zwei wichtige potenzielle Bündnispartner von Russland, hätten klar eine Grenze gezogen: Ein russischer Einsatz von Atomwaffen, auch nur von taktischen, sei nicht akzeptabel. Steht nach Ihren Informationen diese Positionierung noch?
Andreas Wittkowsky: Die Position steht. Keine der anderen Nuklearmächte hat Interesse, dass Russland die rote Linie überschreitet. Es ist eine der wenigen Fragen, in der sich die USA und China einig sind. Ansonsten sieht China Russland als seinen wichtigsten Verbündeten, um den amerikanischen Einfluss in der Welt zurückzudrängen. Es sucht auch sicherheitspolitisch den engen Schulterschluss mit Russland.
Und warum gibt es keine energische Initiative von USA, EU und China, um einen Waffenstillstand durchzusetzen?
Andreas Wittkowsky: Eben weil China in Russland einen wichtigen Bündnispartner im Ringen gegen den Einfluss der USA sieht, kommt es zu keiner konzertierten Verhandlungs-Initiative, wie Sie es ansprechen. Auch die von China im Februar angekündigte Initiative entpuppte sich als Positionspapier, nicht aber als Roadmap für Verhandlungen. Gegenwärtig geht es darum, China davon zu überzeugen, dass Waffenlieferungen an Russland harte Konsequenzen hätten. Da reichen keine guten Worte, sondern nur die glaubwürdige Androhung schmerzhafter Konsequenzen.
Aber: Auch wenn es keine Verhandlungen in dem Sinne gibt, dass alle Beteiligten an einem Ort zusammenkommen, gibt es permanent diplomatische Bemühungen, manchmal öffentlich, oft still. Dabei geht es aus den genannten Gründen nicht um einen sofortigen, womöglich bedingungslosen Waffenstillstand, sondern um ein Kriegsende, das dem Völkerrecht Geltung verschafft und der Welt mehr, nicht weniger Sicherheit bringt. Dass diese Bemühungen Erfolg haben, zeigt die Resolution der UN-Vollversammlung vom 23. Februar 2023, in der Russland erneut mit überwältigender Mehrheit aufgefordert wird, sich aus der Ukraine zurückzuziehen.
Befürchtungen eines Umsturzversuches in Moldau
Es gibt Gerüchte, Russland wolle die westlich ausgerichtete Regierung von Moldau stürzen. Hätte Russland überhaupt die Kraft, den Krieg, zumindest den Konflikt in diesem Sinne auch noch auszuweiten?
Andreas Wittkowsky: Russland destabilisiert in Moldau genauso wie auf dem Balkan und im Südkaukasus. Putin glaubt, die Einigkeit des Westens würde bröckeln. Deshalb auch die intensiven Desinformationskampagnen in den EU-Staaten. Moldau ist schon seit längerem ein Ziel. Bereits 2003 versuchte Russland, die Republik zur Neutralität zu verpflichten und das abtrünnige Transnistrien als föderale Einheit mit starken Mitsprache- und Vetorechte zu etablieren. Übrigens: Dieses Vorhaben war nach 2014 die Vorlage für die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk in der Ostukraine.
Wie wird Putin-Russland gegenüber der Moldau vermutlich weiter vorgehen?
Andreas Wittkowsky: Die starke Energieabhängigkeit von Russland macht die moldauische Politik anfällig für politische Erpressungen. Mit dem Amtsantritt einer pro-europäischen Regierung und dem 2022 gewährten Kandidatenstatus haben diese zugenommen. Vor kurzem hat Russland versucht, eine Bedrohung seiner „Friedenstruppen“ in Transnistrien zu konstruieren, die eine militärische Antwort rechtfertigen würde. Die russischen Truppen sind dort seit Anfang der 1990er Jahre stationiert und wollen nicht abziehen. Junge Russen nehmen — wie in der Ukraine 2014 — an den Demonstrationen der letzten Wochen teil, die sich gegen die hohen Energiepreise wenden und den Rücktritt der Regierung fordern. Während ein militärisches Eingreifen Russlands eher unwahrscheinlich ist, sind die Befürchtungen eines Umsturzversuchs sehr ernst zu nehmen. Deshalb gilt es, Moldau dabei zu unterstützen, sich dagegen zu wappnen.