Beispielhaft: das AKW Monticello oder Risse naja, Hauptsache kein Bruch

Mülheim-Kärlich, Hamm-Uentrop, Niederaichbach, Krümmel, Gundremmingen-A, Lingen, Würgassen – deutsche Atomkraftwerke, die alle wegen Defekten vorzeitig vom Netz mussten oder wie im Fall von Kalkar gar nicht erst in Betrieb gingen. Es handelt sich national wie international um die gleiche anfällige Technik, im Folgenden um die Risse-Problematik, die es bekanntermaßen in Belgien, Schweiz, Frankreich, USA gibt, die aber auch in Russland, China, Japan, Südkorea, Finnland, Schweden, Ukraine usw. vorhanden sein muss: Weil die auch keine besseren Stähle haben. Aus den USA kommt die Nachricht, dass aus dem AKW Monticello – am Ufer des Mississippi gelegen, ungefähr 50 Kilometer nordwestlich von Minneapolis, der Hauptstadt des Bundesstaats Minnesota – 400.000 Gallonen Wasser ausgelaufen sind. Ein Leck im Kühlsystem, das jahrelang vertuscht wurde. Knapp zwei Wochen vor dem Abschalten (nicht nur die FDP stemmt sich dagegen) der letzten drei deutschen Atomkraftwerke sei dieses typische Beispiel aus der Nuklearwirtschaft beschrieben.

Screenshot: CBS News

Zu lesen und zu hören ist, dass beim AKW Monticello ein mehr oder weniger gewöhnlicher Störfall eingetreten sei, aber bei einer Hochrisikotechnologie ist nichts harmlos. Das ausgelaufene Wasser ist mit radioaktivem Tritium versetzt und im Boden versickert. Die Tritium-Kontaminierung des Grundwassers habe sich nicht über die Anlagengrenzen hinaus ausgebreitet, heißt es; sie habe weder den Fluss noch die nahen Trinkwasserreservoirs erreicht. Der Betreiber Xcel Energy versicherte, es bestehe kein Risiko für die Öffentlichkeit oder für die Umwelt und auch nicht für die Beschäftigten des Werks.

Weiter hieß es, man habe die undichte Stelle an einem Rohr zwischen zwei Gebäuden ausgemacht und eine provisorische Lösung eingerichtet: die Leckage werde abgepumpt und zur Wiederverwendung in die Anlage zurückgeleitet. Bei der nächsten Wartung, vorgesehen für April, werde man das Rohr reparieren. Bis dahin werde das Grundwasser mit Messbrunnen sorgfältig überwacht. Schon eine Woche nach dieser Meldung änderte sich die Situation. Am 23. März gab Xcel bekannt, den Reaktor nun doch herunterzufahren und die Reparaturarbeiten vorzuziehen. Die provisorische Lösung könne das austretende Wasser nicht mehr zu hundert Prozent auffangen. Manche Medien sprachen von einem neuen Leck, aber nach Darstellung des Betreibers hat sich das ursprüngliche Leck vergrößert. Der Bürgermeister von Monticello bedankte sich artig bei Xcel für seine Bemühungen.

„… würden wir alle nur schockieren“

Doch unter den Bürger*innen der Gemeinde gibt es Irritationen. Warum erfuhren sie erst Mitte März, also mit viermonatiger Verspätung, von einem Problem, das Xcel eigenen Angabe zufolge Ende November festgestellt hatte? Das Unternehmen wiederum behauptet, alles richtig gemacht zu haben. Am 22. November habe man die nationale Atomaufsicht NRC und die Umweltbehörde von Minnesota von dem Leck in Kenntnis gesetzt. Tatsächlich findet sich die Meldung für diejenigen, die wissen, wonach sie suchen, auf der Website von NRC. Dazu muss man auf der Homepage das Menu „NRC Library“ wählen, dann die „Document Collections“, anschließend „Events, Reports Associated with“, darunter die „Event Notification Reports“, von denen das Jahr 2022 und als Datum den 23.11.2022. Dort steht der „Nicht-Notfallbericht“ von Monticello als fünfte und letzte Tagesmeldung.

Wer will da noch meckern über eine dermaßen solide Öffentlichkeitsarbeit? Mütter, die es nicht gut finden, keine Information erhalten zu haben, während ihre Kinder zwei Kilometer stromabwärts vom AKW zur Schule gehen, sind selber schuld. Sie sollten täglich die Meldungen unter https://www.nrc.gov/reading-rm/doc-collections/event-status/event/2022/index.html aufrufen und auf Monticello achten.

Die Atomaufsicht erklärte, warum sie keine weiteren Initiativen für erforderlich hielt. Es habe ja keinen Grund zu Besorgnis gegeben, antwortete eine Sprecherin der NRC in Interviews, „wenn wir versuchen würden, die Öffentlichkeit über alles, was mit Kernkraft zu tun hat, zu informieren, weil alles, was mit Kernkraft zu tun hat, beängstigend ist, würden wir alle nur schockieren“.

Das ist eine Aussage von entwaffnender Ehrlichkeit. So lesen wir beispielsweise in den Ereignisberichten von NRC für den 29. März 2023:

  • Das AKW Browns Ferry, Alabama, meldet an fünf von acht Messleitungen, die durch das Containement in das Reaktorinnere verlaufen, Lecks in der Nähe von Schweißnähten. Das sei aber nicht sicherheitsrelevant.
  • In Arkansas erhielt eine Patientin eine massive Überdosis von Jod131 für eine nuklearmedizinische Schilddrüsen-Diagnose. Sie wurde nach einer falschen Vorschrift behandelt.
  • Das Gesundheitsministerium von Colorado vermisst zwölf selbstleuchtende Notausgangsschilder, die radioaktives Tritium enthalten.
  • Eine lokale Strahlenschutzbehörde in Pennsylvania gibt bekannt, dass der Verschluss eines Caesium-Behälters kaputt gegangen sei. Man habe einen Klebestreifen angebracht und das Gerät zur Reparatur an den Hersteller geschickt. „Keine übermäßige Belastung des Personals“.
  • An einer Universität von Georgia wurde ein undichter Caesium-Behälter entdeckt, mit Klebestreifen abgedichtet und sicher gelagert. Alle kontaminierten Gegenstände seien dreifach verpackt, versiegelt, etikettiert und in einem Schrank deponiert worden.
  • Im AKW Beaver Valley, Pennsylvania, erhielt ein Vorgesetzter Hausverbot. Er hatte „während eines unangemeldeten Eignungstests ein bestätigtes positives Ergebnis für eine kontrollierte Substanz“. Marihuana, Kokain, Ekstasy? Wikipedia zufolge sei das AKW bekannt für unangemessenes Verhalten in der Belegschaft.

Sollen wir noch ein paar andere Tage durchgehen? Am Vortag zum Beispiel Meldungen von zwei AKWs: Sturmschäden am Ventilationssystem, versehentliches Anspringen eines Notstromdiesels und ein weiteres Leck. Irgendwie verständlich, dass NRC dies alles nicht unbedingt einer breiten Öffentlichkeit mitteilen möchte. Es ist der Alltag in einem Atomstaat.

Screenshot: CBS News

Die Frage ist allerdings, ob das Ereignis von Monticello in diese Serie von Vorfällen passt, die unangenehm, auch gefährlich, aber mehr oder weniger alltäglich sind. 400.000 Gallonen entsprechen immerhin 1,5 Millionen Liter. Das ist achtmal so viel wie die Wassermenge, die der Druckbehälter dieses Reaktors enthält (siehe die Graphik unter diesem link). Wenn diese Menge an einem oder an wenigen Tagen des Novembers ausgetreten wäre, hätte man den Reaktor sofort herunterfahren müssen und das Notkühlsystem wäre in vollem Einsatz gewesen. Teile des Werksgeländes hätten unter Wasser gestanden und man hätte von einem Rohrbruch statt von einem Leck sprechen müssen, was einige Medien inzwischen tatsächlich tun.

Doch der Ablauf war ein anderer. Auf dem Werksgelände des AKW Monticello befindet sich ein Dutzend Messbrunnen zur Überwachung der Grundwasserqualität. In regelmäßigen Zeitabständen werden Proben entnommen und ausgewertet. Bei dieser Routine wies die Analyse am 22. November bei einem Brunnen eine Überschreitung der zulässigen Grenzwerte für Tritium auf. Das veranlasste Xcel zu seiner „freiwilligen“ Erstmeldung an NRC, wo man der Ansicht war, wenn’s weiter nichts ist… Später stellte sich heraus, dass der Grenzwert um das 250-fache überschritten war!

Den betreffenden Satz muss man genau lesen. Er besagt nicht, dass man an den anderen Messstellen kein Tritium gefunden hätte oder dass man Tritium zum ersten Mal nachgewiesen hätte. Sondern er besagt, dass die Tritiumkontamination, an die man sich schon gewöhnt hatte, den zulässigen Grenzwert unübersehbar überschritten hat, und diese Überschreitung passierte leider ein halbes Jahr vor dem nächsten Wartungstermin – zu lange, um das Problem weiter auszusitzen. Unter diesem Umständen kommt man aber nur auf 1,5 Millionen Liter, wenn das Leck schon jahrelang bestand. Und man kann diese Menge nur dann einigermaßen konkret beziffern, wenn man weiß, wie viel Wasser man über diesen langen Zeitraum zugeschossen hat, um den ständigen Verlust an Kühlmittel auszugleichen. Das wissen die Manager der Anlage, weil sie es von den Instrumenten ablesen können. So kommt der Betreiber auf die Angabe von 400.000 Gallonen, mit der er unfreiwillig verrät, wie lange er über das Leck schon bescheid weiß.

Das Reaktorkühlsystem leckt seit mindestens 27 Monaten

Das lässt sich belegen. Denn die Aufsichtsbehörde NRC präsentiert zu jedem Atomkraftwerk des Landes eine vierteljährliche Leistungsübersicht mit je 17 Indikatoren. Beim AKW Monticello sind sie alle im grünen Bereich. Doch im Abschnitt Reactor Coolant System Leakage finden sich konstante Abweichungen vom Nullwert seit Januar 2021. Die Bedeutung ist klar: Das Reaktorkühlsystem leckt seit mindestens 27 Monaten (von 2020 und vorher werden keine Werte angezeigt). Das Leck war dem Betreiber ebenso wie der Aufsicht bekannt, es wurde als tolerierbar (grün) eingestuft. Anfangs mag es klein gewesen sein, aber dabei blieb es nicht.

Man hat also lange Zeit zugesehen und geschwiegen, vor allem weil Xcel für das 52 Jahre alte Kraftwerk, dessen Lizenz im September 2030 ausläuft, gerade eine Laufzeitverlängerung um weitere 10 Jahre beantragt hat. Da wollte man Schlagzeilen über einen Kühlmittelverlust vermeiden. Also hat man das in der Öffentlichkeit oft beschworene Prinzip Leck-vor-Bruch (ein Bruch wird nicht passieren, weil wir vorher durch ein Leck gewarnt werden) ersetzt durch eine Praxis Leck-naja (Hauptsache kein Bruch). Sowas kann gar nicht gutgehen. Natürlich hat die Tritiumfahne den Mississippi erreicht – aber in dem Strom lässt sie sich kaum nachweisen.

Foto: flechtershauna auf Pixabay

Monticello führt noch einmal beispielhaft vor Augen: Die Information der Öffentlichkeit erfolgt, wenn überhaupt, viel zu spät. Die offizielle Darstellung des Sachverhalts bleibt vage und irreführend. Die Probleme werden immer verharmlost. Die Behörden lassen die Betreiber gewähren, die Belegschaften leider auch. Die Kommunalpolitiker bangen um Arbeitsplätze und Steuereinnahmen statt um die Gesundheit in ihrer Gemeinde. Und es finden sich stets ein paar rührende – oder auch rührend dämliche – Artikel in den Medien, die der Atomenergie etwas Positives abgewinnen wollen. In diesem Fall gebührt dem Minnesota Public Radio der erste Preis für seine Geschichte über Trompeterschwäne, die in jedem Winter das Atomkraftwerk aufsuchen, weil es dort eine eisfreie Stelle im Mississippi gibt, in der sich das Federvieh ein bisschen aufwärmen kann.

Eine Touristenattraktion! Das muss man unbedingt gesehen haben. Anschließend das Schuhwerk bitte dreifach verpacken, versiegeln, etikettieren und an einem sicheren Ort aufbewahren.

Detlef zum Winkel
Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation, aber leider auch Faschismus, weil es immer noch ein Thema ist.

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