Arbeit, ihre Zukunft und die Aktualität des Projekts Arbeitszeitverkürzung

Screenshot: Website IG Metall Krefeld

Der Anteil an Jobangeboten mit verkürzter Arbeitszeit bei voller Bezahlung sei in den vergangenen fünf Jahren um 848 Prozent gestiegen, analysiert laut Spiegel das Jobportal Indeed, die Nachfrage steige weiter. Aber “die Forderung der IG Metall nach einer Vier-Tage-Woche bei gleichem Lohn in der Stahlindustrie stößt bei der Arbeitgeberseite auf Ablehnung. Eine solche Vereinbarung würde ‘zu einer exorbitanten Kostensteigerung’ führen und somit ‘zu einer Verschlechterung der Wettbewerbsposition’, sagte der Vorstand des Arbeitgeberverbands Stahl, Gerhard Erdmann, der “Bild”-Zeitung”, schreibt das manager magazin. Auf Forderungen, Arbeits- und Lebensbedingungen von Beschäftigten unterhalb der Führungsebene zu verbessern, reagieren Arbeitgeber, solange es sie gibt, mit der Warnung vor Kostensteigerungen und einer Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit. Ingrid Kurz-Scherf, frühere Marburger Professorin für Politik und Geschlechterverhältnis, kommt im Gespräch mit Jutta Roitsch auf interessantere Gedanken.

Jutta Roitsch: Der Anstoß kommt aus der IG Metall in Nordrheinwestfalen. Soll die Gewerkschaft Ende dieses Jahres in die Tarifrunde der Stahlindustrie mit der Forderung gehen: 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich? Also: Eine Verkürzung der Arbeitszeit von bisher 35 auf 32 Stunden für alle Beschäftigten und ohne finanzielle Abstriche. Kommt Dir diese Forderung irgendwie bekannt vor und was löst sie heute bei dir aus?

Ingrid Kurz-Scherf: Eine weitere Verkürzung der tariflichen Arbeitszeit ist seit langem überfällig. Die Gewerkschaften sind die politische Kraft, die dieses Projekt praktisch befördern muss und kann, aber sie tun sich schwer damit. Nicht in erster Linie, weil ihnen die Einsicht fehlt, sondern weil sie sich mit der Forderung nach Wochenarbeitszeitverkürzungen von vorneherein auf harten Widerstand der Arbeitgeber, wahrscheinlich auf die Notwendigkeit von Streiks einstellen müssen. Und den müssen sie dann auch bestehen. Ich selbst plädiere zusammen mit vielen Gewerkschaftsfrauen schon seit Jahrzehnten für den 6-Stunden-Tag als langfristige Perspektive gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik. Ich habe dazu zusammen mit einer Kollegin in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Buch gemacht unter dem Titel „Wem gehört die Zeit? Ein Lesebuch zum 6-Stunden-Tag“. Es wurde viel gelesen und wird – so viel ich weiß – auch heute noch in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit und vor allem in der Frauenarbeit eingesetzt. Aber mit Büchern kann man leider die Wochenarbeitszeit nicht wirklich verkürzen – so dringlich das auch sein mag.

Der Kampf um die 35-Stunden-Woche in den 1980er Jahren war hart, erbittert und dauerte sieben Wochen. An den damaligen heftigen Debatten über die Umverteilung der Arbeit, über Vorruhestand oder eine kürzere Wochenarbeitszeit, über bezahlte Männerarbeit und unbezahlte (Haus-)Frauen hast du dich massiv beteiligt. Warum sind diese gesellschaftspolitischen Diskussionen ab 1990, letztlich mit der deutschen Vereinigung abrupt abgebrochen?

Ingrid Kurz-Scherf: Es gab im Vorfeld der Maueröffnung in Westdeutschland eine breite gesellschaftliche Debatte um die Zukunft der Arbeit. In diesem Kontext galt Arbeitszeitverkürzung – auch über 35 Stunden hinaus – als ein Schlüsselprojekt für einen – wie es damals hieß – „Gestaltwandel der Moderne“, für den Ausstieg aus dem Wachstumswahn, dem die modernen Gesellschaften auch damals längst nur noch auf Kosten der Umwelt und auf Kosten vom Rest der Welt frönen konnten. Für die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, für eine neue Balance und eine neue Qualität der Arbeits- und Lebensverhältnisse insbesondere auch unter dem Stichwort der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und nicht zuletzt auch für mehr Geschlechtergerechtigkeit.

Ingrid Kurz-Scherf

Es schien so, als ob die bräsige Ära Kohl endlich vorbei war; das SPD-Regierungsprogramm für die Bundestagswahl 1990 trug den Titel „Der neue Weg“; es warb u.a. mit dem Projekt einschneidender und kontinuierlicher Arbeitszeitverkürzungen für den sozialen, kulturellen und ökologischen „Umbau der Industriegesellschaft“. Und die Grünen repräsentierten damals noch die sog. „Neuen Sozialen Bewegungen“ mit ihren teilweise deutlich radikaleren Konzepten einer sozial-ökologisch-emanzipatorischen Transformation – ebenfalls u.a. über den Weg der Arbeitszeitverkürzung.
Der Fall der Mauer hätte die historische Chance eröffnen können, die Transformation als einen gesamtdeutschen Aufbruch voranzubringen. Tatsächlich ist er – und mit ihm die Arbeitszeitverkürzung – im westlichen Siegestaumel und in der östlichen Unterwerfung versandet, denn nur im Osten sollte sich alles, aber wirklich alles (nach westlichem Vorbild) verändern und im Westen sollte und konnte alles, aber auch wirklich alles beim Alten bleiben. Mit dieser Stimmung hat sich Helmut Kohl bekanntlich zwei weitere Wahlperioden verschafft.

In den 1990er Jahren ist die IG Metall noch einmal in neuen Bundesländern in eine Tarifrunde mit der Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung gegangen und auf ganzer Linie gescheitert. Danach war das Thema erst einmal erledigt: War das ein Fehler?

Ingrid Kurz-Scherf: Es war schon ein Fehler, sich in dieser Frage unter den gegebenen Umständen auf die Konfrontation mit den Arbeitgebern einzulassen. Gewerkschaften dürfen sich nur auf einen Streik einlassen, wenn sie einigermaßen sicher sind, dass sie die Dinge damit nach vorn bringen. Der Streik war schlecht vorbereitet, nicht wirklich eingebunden in die tatsächlich stattfindenden Transformationsprozesse und die sich dabei verfestigenden Machtverhältnisse in Ostdeutschland und in der Republik insgesamt. Wenn die IG Metall die Streikvorbereitungen in Ostdeutschland und vor allem auch in Westdeutschland eingebunden hätte in eine gesellschaftspolitische Mobilisierung, so wie dies beim Kampf um die 35-Stunden-Woche der Fall war, hätte sich m.E. eine andere Dynamik entwickeln können als diese peinliche Niederlage.

Die „Zukunft der Arbeit“, die Aufwertung von sozialer, gesellschaftspolitischer oder generell unbezahlter Arbeit war dann eigentlich zwanzig Jahre lang kein zentrales gewerkschaftliches Thema mehr. Du hast als Professorin in Marburg dazu geforscht und ein umfangreiches Projekt zur Zukunft der Arbeit betreut. Erkennst du in der jetzigen Diskussion Ergebnisse deiner Forschung wieder?

Ingrid Kurz-Scherf: Wir haben mit unseren Forschungsergebnissen, mit den Tagungen und den Büchern, mit der Ausbildung von jungen PolitikwissenschaftlerInnen, die dann in den Gewerkschaftsapparat, in die Bildungseinrichtungen und die Basisstrukturen eingestiegen sind oder sich auch einfach nur in einem undogmatischen linken Milieu engagiert haben, vielleicht schon ein kleines bisschen dazu beitragen können, dass die Verkürzung der Wochenarbeitszeit überhaupt wieder auf die Tagesordnung zurück gekehrt ist. Vielleicht konnten wir auch bei der Bearbeitung, teilweise Überwindung von gewerkschaftlichen Macho-Perspektiven auf die Welt Anstöße geben – beispielsweise was gewerkschaftliche Konzepte zum Zusammenhang von Arbeit und Leben oder auch im Hinblick auf Teilzeitarbeit und unbezahlte Arbeit anbelangt. Ich denke auch, dass die Gewerkschaften heute weiter sind als vor 30/40 Jahren in Bezug auf das Verhältnis zwischen Arbeitszeitverkürzung und Arbeitszeitflexibilisierung. Bei der 35-Stunden-Woche haben sie sich noch von den Arbeitgebern und einem pseudoliberalen Zeitgeist diesbezüglich in eine falsche Konfrontation treiben lassen. Inzwischen sind die Arbeitszeiten mit gewerkschaftlicher Mitwirkung so weit flexibilisiert, dass der Wirrwarr auf ein neues Gravitationszentrum bezogen werden muss und die Gewerkschaften Arbeitszeitverkürzung und -flexibilisierung in einem Verhältnis von wechselseitiger Ermöglichung begreifen und gestalten können.

Knut Giesler

In den ersten Erklärungen der IG Metall zur Begründung der Forderung verweisen Knut Giesler, Bezirksleiter der IGM in NRW, aber auch der Erste Vorsitzende Jörg Hoffmann auf den Fachkräftemangel: Im Wettbewerb um die knappen Werktätigen müsse die industrielle Arbeitswelt eben attraktiv werden und „work-life-balance“ bieten. Reicht das als Begründung? Gab es da nicht einmal die Forderung nach einer 32-Stunden-Woche, in der zwei Stunden soziale oder gesellschaftspolitische Arbeit enthalten sein sollten?

Ingrid Kurz-Scherf: Insgesamt ist die Begründung für die Initiative schon breiter und tiefgehender. Es stimmt ja, dass „work-life-balance“ längst nicht mehr „nur“ ein Frauenthema und attraktiv für Yuppie-Beschäftigte in exotischen Milieus ist, dass Industriebetriebe gut beraten sind, ihren Leuten Angebote zu machen, die ihnen neben der Arbeit auch Zeit und Kraft zum Leben lassen. Den Gewerkschaften sollte aber jenseits des Geredes vom Facharbeitermangel und den damit tatsächlich verbundenen Problemen klar sein, dass in vielen Bereichen neue Rationalisierungsschübe – u.a. unter dem Stichwort „Digitalisierung“ noch bevor stehen, die einen mindestens so starken Abbau der Beschäftigung zur Folge haben, wie die Eisen- und Stahlindustrie schon erlebt hat.

Die alten „drei guten Gründe“ für die 35-Stunden-Woche gelten heutzutage eher noch dringlicher als einst: Arbeitsplätze erhalten und schaffen, Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern, Gesellschaft und Zukunft gestalten. Im Argumentationsmaterial finden sich diese guten Gründe auch wieder: „Beschäftigte arbeiten motivierter, produktiver und gesünder – und können Arbeit und Leben besser vereinbaren, Stichwort „Work-Life-Balance“. Betriebe werden durch die 4-Tage-Woche attraktiver für Fachkräfte – und können damit in Krisen Arbeitsplätze sichern. Und schließlich ist die 4-Tage-Woche auch gut fürs Klima, spart Arbeitswege und Energie“. Es geht darum, die säkulare Tendenz nicht nur zur Flexibilisierung sondern auch und v.a. zu Verkürzung der Arbeitszeiten wieder in Gang zu setzen. Das wird den Gewerkschaften nur im Rahmen einer groß angelegten, international vernetzten gesellschaftspolitischen Mobilisierung gelingen. Und dazu brauchen sie ein umfassendes arbeitspolitisches Konzept, das Arbeit und ihre Zukunft in ihren verschiedenen Ausprägungen – Erwerbsarbeit, politische und kulturelle Arbeit, soziale Arbeit, unentgeltliche Arbeit – als ein Schlüsselelement von Zukunft schlechthin zusammendenkt.

Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke