Die Europawahl als Klimawahl

Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg während einer Sitzung im Jahr 2014 (Foto: Diliff auf wikimedia commons)

#1 Wo stehen wir an einem Wahlsonntag, von dem nicht viel Gutes erwartet wird? Der Europarechtler Alberto Alemanno meint in einer ohnehin skeptischen Einschätzung des EU-Projekts, die Abstimmung werde »einen Rechtsruck beschleunigen, der innerhalb der EU bereits großflächig stattgefunden hat, und ihn auf ein neues Niveau heben«. Dabei stehe »die breitere, traditionell integrationsorientierte Agenda« mit auf dem Spiel, die EU-Klimaambitionen, fürchtet Alemanno, werden ein »Kollateralschaden« sein. Es könnte hilfreicher sein, diese drei Momente noch etwas deutlicher als miteinander verwoben anzusehen, als Einheit: die Krise der europäischen Integration als Folge des Aufstiegs nationalistischer Parteien, deren Kerngeschäft heute die wohlstandschauvinistische Abwehr von Veränderungen ist.

Veränderungen werden aufgrund der Planetaren Krise immer dringender, was den Lösungsdruck der Transformationskonflikte erhöht, damit zugleich aber auch Verlusterwartungen und Verunsicherung. Und diese stärken wiederum die Attraktivität von Parolen, die ein Weiter-so in der nationalen Wagenburg versprechen. Dabei treiben sich Parteien gegenseitig voran: die Transformationskonflikte als Kulturkämpfe aufladend und so blockierend, die technologisch angetriebene Affektisierung immer weiter verstärkend, den politischen Wettbewerb in eine Konkurrenz der Bewirtschaftung von Wut verwandelnd, die öffentlich in einer von Konkurrenzdruck geprägten Aufmerksamkeitsökonomie selbst immer weiter entfacht wird, um mit lautstarken Parolen die komplexen Umsetzungsprobleme klimapolitischer Notwendigkeiten zu übertönen.

Die so immer weiter um sich greifende »Veränderungserschöpfung« (Steffen Mau) erfasst dabei auch jene, die den Graben zwischen (individuellem) Ändern-Wollen und (gesellschaftlich ermöglichtem) Ändern-Können gern überwinden wollen; die also eine »planetare Erwartung« an »die Politik« haben, aber zusehends mit widersprüchlichem oder unzureichendem Klimahandeln der Regierenden sowie der dröhnenden Kulisse der wohlstandschauvinistischen und so offenkundig schiefen Weiter-so-Versprechen konfrontiert sind, was zu mangelnder Planbarkeit des eigenen Lebens führt, soziale, aber auch kulturelle Unsicherheit schürt und so individuelle Verdrängung bestärkt. Dies umso mehr, als dass es in den Auseinandersetzungen – »Aus für das Verbrenner-Aus!«, »Grüne wollen uns Bratwurst verbieten!«, »Heizungsdiktat!« – nicht nur abstrakt um Produktions- und Konsumverhältnisse geht, sondern um den eigenen Alltag, das Gewöhnte, das Selbst: Mobilität, Ernährung, Wohnen. Die Tendenz zur Individualisierung in modernen, kapitalistischen Gesellschaften, in denen Selbstausdruck und Freiheitserfahrung viel mit symbolischem Konsum, materieller Distinktion zu tun haben, gehört zu den Faktoren, die das subjektive Erleben der blockierten Transformationskonflikte beeinflussen.

Was jetzt auf dem Spiel steht

#2 taz-Chefredakteurin Barbara Junge hat die wahlpolitische Gemengelage beschrieben, in der es eben keineswegs nur eine »rechtsextreme Erzählung« ist, dass da irgendwelche Eliten, abgehobenen Großstadtbewohnerinnen, woke Grüne usw. usf. »dem Volk fossilen Wohlstand und kulturelle Identität stehlen« wollen. Wissenschaftsverbände aus ganz Europa haben in einem Offenen Brief »ihre tiefe Besorgnis« darüber zum Ausdruck gebracht, wie laut und zahlreich die Stimmen geworden sind, die »die Umweltagenda der EU und ihre internationalen Verpflichtungen untergraben« wollen; hier geht es speziell um die »Angriffe auf den Green Deal« der EU.
Auch der Klimaforscher Stefan Rahmstorf hat auf den Charakter der Europawahl als Klimawahl hingewiesen und mit Fakten aus der Klimaforschung deren Bedeutung untermauert. Susanne Schwarz, taz-Klimaredakteurin, hat ein paar Punkte zur EU-Klimapolitik zusammengetragen, die geeignet sind zu zeigen, was jetzt auf dem Spiel steht – auch Unzureichendes, Unfertiges kann zerstört werden. »Der Klimapolitik drohen fünf verlorene Jahre«, schreibt Junge. In einer Zeit, in der später heißer bedeutet, wäre das nicht nur eine Verschiebung, Verzögerung. (Wo Deutschland steht und wie plausibel das Erreichen der Klimaziele ist, steht hier.) So viel man an der politischen Ökonomie des Green Deals der EU, an unzureichender sozialer Flankierung oder mangelnder Bereitschaft zu strukturverändernder Klimapolitik kritisieren kann – jeder Rückschritt heißt, es werden deshalb Menschen sterben, Zerstörungen großen Ausmaßes angerichtet und die Bedingungen für wirksame Klimapolitik anhaltend verschlechtert, was selbst wieder negative Folgen in der Zukunft hat. Nicht zuletzt für die politischen Formen und Verfahren, in denen »wir« darüber entscheiden, welche Zumutungen wie und wem zugewiesen werden.

Das dauert, das knirscht

#3 Willkommen in der längst angebrochenen, neuen verteilungspolitischen Ära, in der nicht mehr die Allokation von Zuwächsen im Zentrum steht, sondern die »Verteilung des Weniger«. Immerhin nimmt die Debatte darüber Fahrt auf, was das für die Demokratie, Politik unter Bedingungen eines andauernden Ausnahmezustands bedeutet (siehe dazu etwa hier). Die Diskussion verläuft ein wenig zerstreut, was mit Fragmentierungen des Öffentlichen zu tun haben mag. Möglicherweise liegt es aber auch daran, dass etwas (noch) fehlt, was Bruno Latour und Nikolaj Schultz mit ihrer »ökologischen Klasse« im Sinn gehabt haben mögen: Diese wird ja weniger durch ihren Charakter »an sich« bestimmt, also durch irgendwelche objektiven Kriterien der Zugehörigkeit, als durch das »für sich«, ein gemeinsames Bewusstsein vom Handeln im Planetaren Paradigma.
So verstanden tritt diese »ökologischen Klasse« immer noch in ihrem langen, seit den 1970er Jahren anhaltenden Entwicklungsprozess aus den Strukturen, Organisationen und Denkweisen heraus, welche »der alten Welt« zugehörig waren. Das dauert, das knirscht, das führt dazu, dass an der einen Stelle der RichterUlrichKaube-Strang der Diskussion verfolgt wird, an anderen die Beckert-Debatte, weitere Fragen hier und andere dort besprochen werden – ein häufigeres Zusammenführen der Fäden, um es so zu formulieren, könnte hilfreich sein; wobei man dann allerdings auch schnell bei zu recht unbeliebten Fragen des »kollektiven Organisators« landet.

Bringt ja eh nichts

#4 Wolfgang Storz hat zu Jens Beckerts »Plädoyer für eine realistische Klimapolitik« (siehe auch hierdie Frage gestellt, ob eine Soziologie, die sich schon mit Befunds-Debatten über das Scheitern von Klimapolitik beschäftigt, nicht »zwangsläufig auch den Zement liefern« würde, »den interessierte Kreise brauchen, um den Stillstand endgültig zu befestigen — da Gegner wie Befürworter der Transformation damit den Rat erhalten: bringt ja eh nichts.« Auch Petra Pinzler betont, Beckert übersehe »in seinem Rundumschlag gegen den Kapitalismus etwas Konkretes, das er im Abstrakten fast bewundernd anerkennt: Die Fähigkeit der Menschen, das System doch noch ein Stück in die richtige Richtung zu verändern.« Das seien zwar kleine, wohl wenig wirksame Maßnahmen, aber »die Revolution oder auch nur ein umweltschonenderes und menschenfreundliches Wirtschaftssystem« würden »auch nicht gerade an der nächsten Ecke warten«. Im Grunde geht es ihr wie Storz um die Frage, wie es gelingen könnte, den Pessimismus zu organisieren, der sich aus der nüchternen Beobachtung der Situation ergibt, wie das Beckert formuliert hat.
Bei Leon Wansleben taucht dasselbe Motiv in der Unterscheidung eines Zielaktivismus von einem Implementierungsaktivismus wieder auf, also einer Priorität für die komplexen Umsetzungsfragen, siehe oben: »Damit wäre mehr gewonnen als durch die Ausrufung immer neuer, ungedeckter Versprechen auf die Beseitigung unserer sich zusehends verschärfenden ökologischen Krise, die nicht einmal mehr diejenigen überzeugen, die sie verkünden.« Das rückt die vielfältigen Umsetzungsprobleme ins Zentrum, mit denen alle Veränderungen konfrontiert sind – was eben nicht nur eine Frage des politischen Willens der Regierenden ist, sondern auch von materiellen (wer kann auf die für gelingende Transformation nötigen stofflichen Ressourcen zugreifen und wer dann also ob deren Begrenztheit nicht) und personalen »Angebotsfragen«, die pro Zeiteinheit auch nur einmal eingesetzt werden können (wir haben ja noch andere Probleme, siehe Pflege, Wohnungsbau, Daseinsvorsorge, Arbeitskräftemangel).
Es geht zudem um einen »Kulturwandel«, für den Wolfgang Streek in seiner Diskussion von Beckerts »Verkaufte Zukunft« den »Übergang vom Heiden- zum Christentum in der Spätantike« als vergleichbar ansieht. Beckert selbst hat hier noch einmal bekräftigt, warum er sich einem »Solutionismus verweigert«, denn er glaubt, »dass der oft bemühte Verweis auf vermeintlich einfache Lösungen (Post-Wachstum, CO2-Bepreisung, Ende des Kapitalismus, Reduktion des persönlichen CO2-Fußabdrucks, etc.) vornehmlich dazu dient, die LeserInnen (und möglicherweise auch die AutorInnen) der Bücher zu beruhigen – und sich der eigentlichen Herausforderung damit letztendlich entzieht.« Das ist gewissermaßen die spiegelbildliche Variante zu Storz’ Befürchtung: Wie man es auch anstellt, die Gefahr, dass hinten klimapolitischer Stillstand herauskommt, besteht immer – mal von oben, mal von unten.

Es steht in den Sternen

#5 Beckert hat an anderer Stelle noch einmal »daran erinnert, dass der Klimawandel keine Entweder-oder-Angelegenheit ist, sondern eine des Mehr-oder-Weniger. Eine Verlangsamung des Klimawandels verschafft lediglich mehr Zeit, in der aber gesellschaftliche und technische Entwicklungen stattfinden könnten, die neue politische Optionen eröffnen«. So wird die häufig anzutreffende Entgegensetzung von Klimapolitik und Klimaanpassung aufgehoben; im Grunde handelt es sich bei beidem um Formen der Anpassung von Gesellschaften an sich verändernde Bedingungen innerhalb des Planetaren Paradigmas, die untereinander in enger, konflikthafter Beziehung stehen. Philipp Staab hat Anpassung übergreifend als das »Leitmotiv der nächsten Gesellschaft« beschrieben:

Auch er knüpft an die Vermutung an, »dass es grundsätzlich sehr schwierig ist«, gegenüber »spätmodernen« Risiken wie der Klimakrise in die Offensive zu kommen: »Selbst wer sich die Entwicklung des Kapitalismus noch als prinzipiell steuerbar vorstellen kann und dementsprechend nach dem großen Umschwenken ruft, das dessen destruktive Logik durch gesellschaftliche Einbettung abdämpfen soll, ist in aller Regel wenig optimistisch hinsichtlich der Realisierungschancen einer solchen ›Great Transformation‹. Noch deutlicher wird diese gesellschaftliche Stimmung im Hinblick auf den Klimawandel, wo sich die Spielräume endgültig auf die abmildernde (Mitigation) und bewahrende (Resilienz) Antizipation von Sachzwängen, also auf adaptive Reaktionen begrenzen.«

Aber was heißt schon begrenzen? Auch wenn dies der Begriff der Anpassung nahelegt, ist damit nicht die Bearbeitung eines Problems beschrieben, das der Gesellschaft sozusagen von außen gegenübertritt. Nein, weil die ökologische längst zu einer sozialen, die Möglichkeiten gesellschaftlicher Ordnung infrage stellenden Krise geworden ist, wird auch hier, im Kernbereich gesellschaftlicher Integration »Anpassung« nötig sein. Beckert hat ein Modell genutzt, »bei dem zwischen den Akteuren Wirtschaft, Politik und Bevölkerung (Bürger und Konsumenten) unterschieden wird. Alle Akteure handeln dabei zwar nach je eigenen Prinzipien, sie sind aber auch wechselseitig voneinander abhängig und nehmen aufeinander Einfluss. Daran schließt sich nun die These an, dass Maßnahmen zur Klimaanpassung und zum Klimaschutz nur dann eine realistische Chance auf Umsetzung haben, wenn ihre einzelnen Schritte so zugeschnitten werden, dass sie die jeweiligen Logiken der Handlungssphären und deren wechselseitige Einflusskanäle nutzen.«

Drei Integrationsprobleme

In ähnlicher Weise hat das zuvor auch schon Uwe Schimank beschrieben, der »drei Integrationsprobleme moderner Gesellschaften« unterscheidet: »Das erste dieser Probleme stellt die Sozialintegration dar: Die Mitglieder jeder Gesellschaft müssen sich in deren Ordnung fügen – also vor allem geltende Normen beachten, auch wo es schwerfällt, anstatt um des eigenen Vorteils willen rücksichtslos unmoralisch oder kriminell zu agieren oder gar am Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse zu arbeiten. Das zweite Problem ist die Systemintegration: Die Teilsysteme oder Sphären der modernen Gesellschaft wie Wissenschaft, Bildung, Gesundheitswesen, Recht und – im Weiteren vor allem von Bedeutung – Wirtschaft müssen in ihren jeweiligen Leistungsproduktionen funktionstüchtig sein und dürfen einander zugleich nicht unabgestimmt in die Quere kommen. Dazu kommt, als drittes Problemfeld, die ökologische Integration. Sie ist dann gegeben, wenn das gesellschaftliche Geschehen sich nachhaltig in die natürliche Umwelt einfügt, anstatt so auf diese einzuwirken, dass der gesellschaftliche Fortbestand etwa durch Umweltverschmutzung oder Übernutzung nicht erneuerbarer Ressourcen gefährdet wird.«

Dass es hierbei Trade-offs gibt, muss nicht lang und breit erläutert werden: »Der erste Typus liegt vor, wenn Umgangsweisen mit der ökologischen Problematik in sozialintegrativer Hinsicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu strapazieren drohen – oft deshalb, weil das, was sozialintegrativ wirkt, so aus ökologischen Rücksichten nicht mehr fortgeführt werden kann… Der zweite Typus von Trade-off besteht darin, dass ökologische Erfordernisse in systemintegrativer Hinsicht immer wieder mit Funktionserfordernissen der wirtschaftlichen Leistungsproduktion kollidieren… Die heutige Balanceproblematik der Trias von Sozial-, System- und ökologischer Integration ist also offenbar noch um einiges schwieriger als das, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als soziale Frage zu meistern war.«

Was Beckert und Schimank beschreiben, ist der Problemgrund, aus dem jene Konflikte hervortreten, die auch in der Richter-Ulrich-Kaube-Diskussion thematisiert werden (siehe etwa hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier), zu der zuletzt Miguel de la Riva Gedanken über Legitimationsprobleme in der ökologischen Krise beigetragen hat. »Was, wenn die Demokratie auch in den nächsten, entscheidenden Jahren so unzureichend gegen den Klimawandel vorgeht wie bislang?«, lautet seine pessimistische Frage, die darauf hinausläuft, dass die Demokratie »dann nicht mehr als Form einer immer weitere Kreise ziehenden Emanzipation und Partizipation« gesehen werden kann, sondern »sich als Mittel der Unterdrückung und Ausbeutung der Gegenwart durch die Vergangenheit, der Lebenden durch die Toten erwiesen« hätte.
Erfolgsgeschichte wie Legitimation von Demokratie wären infrage gestellt: »Was ist von einer Staatsform zu halten, die noch immer zu beweisen hat, dass sie die Lebensgrundlagen bewahren kann?« Miguel de la Riva stellt diese Frage nicht in der Absicht, sie schon für negativ beantwortet zu halten. Er beschreibt nur die dritte Seite der »Herausforderung Anpassung« – neben jener an die Notwendigkeiten der Klimapolitik und jener an die eintretenden Klimakrisenfolgen –, eben jene an die Probleme demokratischer Integration in der Transformation. Auch für die gilt, was Achim Truger mit Blick auf die Frage formuliert hat, wie und ob das alles ohne Wachstum zu realisieren ist: Dies »steht in den Sternen. Denn dafür gibt es keine Blaupause. Das hat noch niemand versucht.« 

Der Beitrag erschien zuerst als Klimanotizen 51 bei linksdings.

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Tom Strohschneider
Tom Strohschneider ist Journalist und Historiker, war Redakteur des Freitag und der TAZ, 2012-2017 Chefredakteur Neues Deutschland und arbeitete federführend an der monatlich erscheinenden Wirtschaftszeitung OXI mit.

3 Kommentare

  1. Militärischer CO²-Ausstoß kommt übrigens in Klimaschutzabkommen nicht vor. Dass die Grünen trotzdem auf Krieg und Aufrüstung geil sind, macht mir die Piraten wesentlich sympathischer, denn die Piraten sind als Gegengewicht zu Kommissionspräsidentin (Zens)Ursula von der Leyen dringend nötig.

    1. … übrigens auch die immensen militärischen “Kollateralschaden” (über Jahrzehnte hinaus) an den bewirtschafteten Naturräumen (an den naturbelassenen sowieso) spielen da keine Rolle.

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