Realpolitik auf Abwegen

Bild: Ramdlon auf Pixabay

Immer wieder ist zu lesen und zu hören, wer einen Waffenstillstand mit anschließenden Friedensverhandlungen in der Ukraine haben wolle, der müsse die Ukraine dazu bewegen, Realitäten anzuerkennen. Jüngst sagte der russische Präsident das. Er nannte als Bedingung für einen Waffenstillstand mit anschließender „Friedensregelung“ den Abzug der ukrainischen Streitkräfte aus den kompletten Regionen Donezk, Luhansk, Kherson und Zaporizhzhia. Komplett bedeutet: Auch die Teile, die von der ukrainischen Armee seit Anfang 2022 zurückerobert worden waren, sollen geräumt und der russischen Armee übergeben werden. Von der Krim redete Putin schon nicht mehr. Ähnliches ist, als Realpolitik verbrämt, in der Bundesrepublik zu lesen.

In der Südwestpresse wurde  vor wenigen Tagen über Vorstellungen einer Reihe bekannter Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten informiert: „Es ist daher allerhöchste Zeit, die Maximalforderung der Ukraine, dass Friedensgespräche erst nach einem russischen Rückzug möglich seien, aufzugeben.“ Zu den Befürwortenden zählen die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, deren Ehemann Professor Wolfgang Däubler, ein Sohn Willy Brandts und andere.
Vielleicht ist hier ein kleine „Übersetzungshilfe“ erforderlich: Eine frühere Bundesjustizministerin, auf das Grundgesetz vereidigt, empfiehlt, Ergebnisse einer völkerrechtswidrigen Aggression mit entsetzlichen Folgen, Massenmorden, Entführung von Kindern etc. gedanklich und handlungsbezogen beiseite zu legen, um einer Friedenslösung näher zu kommen, die von einem notorischen Gesetzesbrecher favorisiert wird. Wiederherstellen einer Situation wie vor der Aggression nennt sie „Maximalforderung“ – als gehe es hier um Tarifverhandlungen.

Was treibt uns eigentlich zu so etwas?

Das Realpolitik-Motiv findet sich auch anderswo: Im Blog der Republik war schon resignierend zu lesen: „Niemand darf sich der Illusion hingeben, Russland würde einen Verlust der Krim und der eroberten und überwiegend russisch besiedelten Gebiete hinnehmen und dies zur Grundlage eines dauerhaften Friedens machen. …Es ist Zeit zur Ehrlichkeit.“ Niemand! Überwiegend russisch besiedelt? Seit wann sind die Oblaste Donezk oder Luhansk etc. mehrheitlich von russischstämmigen Menschen bewohnt? Der Autor meinte auch, das sei der Weg des Olaf Scholz: „In der militärischen Praxis heißt dies, weitere Gebietsverluste zu verhindern und den jetzigen Bestand des Staatsgebietes zu erhalten und die uneingeschränkte Souveränität des Landes zu garantieren…“

Wir hier in Deutschland geben im Kopf großzügig das Land anderer Leute her. Was treibt uns eigentlich zu so etwas? Mit welchem Recht legen wir anderen nahe, sie sollten bitteschön Verbrechen anerkennen? Wir streiten richtigerweise gegen Diskriminierung und Rechtsverletzung. Bis in Kleinlichkeiten hinein (Der hat die komisch, irgendwie herabsetzend angeguckt und die hat den gefragt, woher er denn komme. Das geht doch gar nicht!). Aber gegenüber Verbrechen der russischen Staatsspitze kommt eine Form der „Großzügigkeit“ ins Spiel, die nicht zu begreifen ist. Wissen wir wirklich besser als die Ukrainerinnen und Ukrainer, was für sie richtig, vernünftig, gar möglich ist?

Vom Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine an wurde bei uns in der Bundesrepublik eine seltsame „Tonlage“ angeschlagen. Auf der einen Seite die Moral: Sicher ehrenwert, weil einem angegriffenen Volk geholfen werden solle. Auf der anderen Seite die Realität, der Sinn für Wirklichkeit und eine Gewissheit, gegen Putin sei kein Kraut gewachsen. Das  wurde gewürzt mit Hinweisen, dass der russische Präsident nicht dämonisiert werden solle; dass man ihn nicht in die Ecke treiben möge; dass auf deutscher Seite Tabus zu beachten seien, und dass nicht vergessen werden dürfe: Die USA hätten ein gerüttelt Teil Schuld am Ausbruch des Kriegs.
Und wenn das nicht reichte, wurden Korruption in der Ukraine angeführt und die Behauptung, dort seien zumindest vor Jahren noch Nazis mit im Spiel gewesen, als es um die Macht in Kiew ging. So das frühere EU-Kommissionsmitglied Günter Verheugen: „Sie haben den rechtsradikalen, nationalistischen Geist aus der Flasche gelassen und bis heute haben sie ihn nicht wieder reingekriegt.“

Irgendwie weiß man nix Genaues

„Wir müssen“, forderte der medienaffine Politikwissenschaftler Johannes Varwick bereits am 11. März 2022, „unseren moralischen Kompass mit den realpolitischen Möglichkeiten abgleichen.“ Eine Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof „sollten wir aus dem politischen Diskurs streichen…“

Empörung über das „himmelschreiende Unrecht der russischen Invasion“, erklärte der Philosoph Richard David Precht, könne nicht groß genug ausfallen – aber: „Sie befreit nicht davon, realpolitisch alles dafür zu tun, um das Allerschlimmste zu verhüten.“ Einen europäischen Staat in einem Krieg „direkt mit Waffen zu beliefern ist und bleibt ein Tabubruch“, sagte er. Das war am 16. März 2022.

Realpolitik, um das Allerschlimmste zu verhüten, um Tabubrüche zu vermeiden, um einen Geist wieder  in die Flasche zu kriegen, um von Maximalforderungen weg zu kommen. Das scheint eine der Linien zu sein, die nun mitten durch die jüngste deutsche Geschichte gezogen werden. Irgendwie weiß man nix Genaues, aber Realpolitik soll´s sein und richten. Der im April 2018 verstorbene Bevölkerungswissenschaftler Josef Schmidt hatte eine eigene Auffassung der Sache. Er sagte mal über die Realpolitik: „Sie ist wie ein Geschäftsführer mit dem Riecher für die günstigsten Abschlüsse. Die Welt ist hier nicht eingeteilt in gut und schlecht, sondern in Besitzer und Habenichtse, in preisgünstige und teure Güter.“ Das erklärt so einiges im ehemaligen Wirtschafts-Wunder-Land.

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Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres.

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