Wohin treibt die Gesellschaft? Drei „Post-Corona-Szenarien“

Unter den unmittelbaren Eindrücken der Coronakrise sind nach einer repräsentativen Umfrage zwei Drittel der Bevölkerung der Ansicht, dass danach „nichts mehr so sein wird, wie es war“. Wohin wird sich unsere Gesellschaft aufgrund der Krisenerfahrungen entwickeln? Aus den öffentlichen Diskussionen in Print- und Online-Medien lassen sich drei Szenarien herausfiltern, wie es in den kommenden zwei bis drei Jahren weiter gehen könnte: Staatliche Autorität und nationale Autarkie werden gestärkt oder die neoliberalen Trends beschleunigen sich oder es findet ein Paradigmenwechsel statt hin zu einer sozial-ökologischen Transformation.

Die detaillierte Diskursanalyse mit ausführlichen Belegen kann hier abgerufen werden; dabei wird auch dargestellt, inwieweit jedes dieser Szenarien in verschiedenen sozialen Milieus anschlussfähig ist. Der folgende Text fasst Grundtendenzen der drei Szenarien zusammen, wie sie sich in Appellen und Forderungen, Hoffnungen oder Befürchtungen widerspiegeln.

Bild: geralt auf Pixabay

Szenario 1: „Stärkung staatlicher Autorität und nationaler Autarkie“

Die einschneidenden Maßnahmen, die dazu dienten, die Ausbreitung des Corona-Virus zu verlangsamen, haben sich in der Folgezeit verfestigt. Die Handlungsmacht der Exekutive wurde deutlich gestärkt. Demokratische Rechte bleiben auch nach der Krise eingeschränkt. Technologien zur Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung werden nicht nur zum Infektionsschutz, sondern auch zur Verbrechensbekämpfung, Terror-Abwehr etc. genutzt. Gleichzeitig sind nationale Interessen wieder in den Vordergrund gerückt. Der internationale Warenaustausch ist stark rückläufig; länderübergreifende Kooperation spielt nur noch eine marginale Rolle. Inländische Hersteller werden gezielt bevorzugt, beispielweise in der öffentlichen Beschaffung, aber auch bei den Konsumentscheidungen der Bevölkerung. Die Industrie setzt mehr auf sichere, krisenfeste Lieferketten als auf Kostenvorteile einer globalen Arbeitsteilung.

Die Menschen akzeptieren die neue Situation, weil sie sich darin sicherer fühlen. Der damit verbundene kollektive Wohlstandsverlust wird mit einem gestiegenen Nationalbewusstsein kompensiert. Als Vorsorge gegenüber weiteren Pandemien wird ‚Social Distancing‘ weitgehend beibehalten und hat einen verstärkten Rückzug ins Private zur Folge. Hierdurch wiederum erfahren traditionelle Geschlechtsrollen eine Renaissance. Umweltschutz bleibt eine langfristige Herausforderung, die zwar abstrakt anerkannt wird, aber politisch wenig handlungsrelevant ist. Insbesondere die Klimaproblematik gilt als im nationalen Rahmen ohnehin nicht lösbar und wird weitgehend ausgeblendet. Für den Umweltschutz vor Ort gibt es einige Programme, die nicht zuletzt einer Stärkung der ‚Volksgesundheit‘ und den biologischen Abwehrkräften im Land dienen sollen. Daneben konzentriert man sich aufs Energiesparen, die Luft- und Gewässerreinhaltung im Land und den Schutz der heimischen Flora und Fauna.


Photo by Charlotte Coneybeer on Unplash

Szenario 2: „Neoliberale Beschleunigung“

Um nach dem Corona-bedingten Lockdown die Wirtschaft zügig wiederzubeleben und das Wachstum anzukurbeln, wurden voluminöse Konjunkturprogramme aufgelegt. Davon profitierten vor allem die ohnehin starken und wettbewerbsfähigen Unternehmen. Ökologische und soziale Kriterien wurden dagegen bei der Vergabe von Fördermitteln hintangestellt, um die Wirtschaft nicht zusätzlich zu belasten. Zielvorgaben im Umwelt- und Klimaschutz wurden zeitlich gestreckt oder aufgehoben. Viele Genehmigungsverfahren sind entbürokratisiert und beschleunigt worden.

Vorangetrieben werden allem die Prozesse der Digitalisierung und Automatisierung. Home-Office wird zu einer Selbstverständlichkeit und führt zu einer weiteren Flexibilisierung und Entgrenzung der Arbeit. Online-Shopping löst den stationären Einzelhandel weitgehend ab. Innerstädtisch breiten sich große Kettenanbieter stark aus; kleinere Läden, Kneipen, Kinos und Clubs sind dagegen weitgehend verschwunden. Während einige ihre Einkommens- und Vermögensverluste während der Krise inzwischen mehr als kompensieren konnten, sind andere in den Niedriglohnbereich gedrängt worden. Die internationale Arbeitsteilung konnte noch ausgeweitet werden. Insgesamt wurde so ein beachtlicher Wachstumsschub hervorgerufen. Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft wie auf globaler Ebene haben sich allerdings verschärft.

Szenario 3: „Paradigmenwechsel zur sozial-ökologischen Transformation“

Im Bewusstsein der Öffentlichkeiten blieb auch während der Corona-Krise stets bewusst, dass der Klimawandel langfristig die größte Herausforderung darstellt. Gleichzeitig haben die Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie gezeigt, dass ambitioniertes politisches Handeln möglich und wirksam ist – und akzeptiert wird.

In der Folge werden staatliche und private Investitionen gezielt in nachhaltige Produktions- und Infrastrukturen gelenkt. Viele für die allgemeine Versorgung wichtige Wirtschaftsbereiche werden zu Gemeingütern erklärt oder unter besondere Regulierung gestellt. Weite Kreise der Bevölkerung wollen an der während der Krise erlebten ‚Entschleunigung‘ festhalten. Ein postmaterieller Wertewandel führte dazu, dass die Wirtschaft auf Post-Wachstums-Strategien umgeschwenkt. Um all dies aufzufangen, werden die sozialen Sicherungssysteme deutlich ausgebaut. Gemeinwohlorientierung und Nachhaltigkeitsprinzipien bestimmen inzwischen das wirtschaftliche Handeln. Wissenschaftliche Evidenz spielt bei politischen Entscheidungen eine wichtige Rolle.

Vielfalt moderner Milieus

In den sozialen Milieus finden diese drei möglichen Entwicklungspfade einen sehr unterschiedlichen Widerhall. Soziale Milieus fassen Gruppen von Menschen zusammen, die ähnliche Werthaltungen, Mentalitäten und Prinzipien der Lebensführung haben. Sie beschreiben die verschiedenen Lebenswelten und Alltagskulturen einer Gesellschaft. Wertorientierungen und Lebensstile, ebenso wie sozial-ökonomische Bedingungen und generationsspezifische Erfahrungen sind zentrale Elemente der Lebenswelt, in der Menschen ihre alltägliche Umwelt sinnhaft deuten und demgemäß in ihr handeln. All diese Aspekte werden in der Milieu- und Lebensweltforschung untersucht und gehen in die Modellbildung ein. In der politischen Auseinandersetzung schlägt sich die Vielfalt von Werten, Lebenszielen und Lebenstilen in Kontroversen undKonflikten, Koalitionen und Kompromissen nieder. Auch wie unterschiedlich sich die sozialen Milieus unter den verschiedenen Szenario-Bedingungen verhalten und fühlen, kann in der Langfassung der Studie nachgelesen werden.

Michael Schipperges
Michael Schipperges ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von sociodimensions, Institute for Socio-cultural Research in Heidelberg. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die nachhaltigkeitsbezogene Konsum- und Lebensstilforschung. In diesem Bereich hat er für öffentliche und private Auftraggeber zahlreiche qualitative und quantitative empirische Untersuchungen durchgeführt (u.a. Umweltbewusstsein in Deutschland).

5 Kommentare

  1. „Gute Arbeit“ zu bescheinigen, fällt spätestens nach der Lektür der materialreichen Langfassung nicht schwer. Sehr interessant ist auch, was fehlt: ein sozialdemokratisch-gewerkschaftliches Szenario. Spricht das gegen die Sorgfalt des Autors? Ich fürchte, nein. Es dürfte mehr dafür sprechen, dass sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Politik in dieser Krise bisher keine markante, profilierte eigene Perspektive entwickelt und artikuliert hat.

  2. Endlich Klartext, der erst einmal sortiert, was mental / strukturell /politisch vonstattengeht, statt sofort zu sagen, was zu tun ist.

    Anregend auch, dass hier ein differenziertes Milieumodell als Grundlage dient. Zu sehr wird in der öffentlichen Diskussion unterstellt, dass es nur die Machbarkeit-Weiter-so-Fraktion und den kritischen Rest gäbe.

    Die drei Szenarios haben klare Akzente.

    Aber ist in ausdifferenzierten Gesellschaften nicht auch eine Hybrid-Entwicklung möglich, ja sogar zu unterstellen:
    Also staatliche Eingriffe im Bereich der inneren Sicherheit – man könnte es „innengerichteten Nationalismus“ nennen. Dazu strategische Kooperationen, also eine Art austarierter Globalismus bei den Wirtschaftsbeziehungen. Und eine (partielle) Synthese zwischen High-Tech-Neo-Liberalität (samt Gen- und Agrartechnik, Data-Mining, Nano-Technologie) und ökologischen Zielen.

    Was auch interessant zu beobachten ist:
    Vielleicht entsteht auch eine Art „Gewöhnungs-Ökologismus“. Man hat ein paar Monate weniger Klamotten gekauft, und bleibt dabei. Man hatte weniger Staus und genießt auch weiterhin staufreie Wochenende durch Heimurlaub. Man backt jetzt das Brot selbst (scheint ein globaler Trend zu sein) und kauft weniger Fertigwaren.

  3. Natürlich ist die „Hybrid-Entwicklung“ nicht nur möglich, sondern das Wahrscheinlichste. Auch wenn wir die Zukunft nicht vorhersehen können, können wir doch versuchen, einen Möglichkeitenraum zu umschreiben. Für diesen bilden Szenarien die Eckpunkte – oder die denkbaren Extreme. Die tatsächliche Entwicklung wird irgendwo dazwischen (oder doch ganz außerhalb?) verlaufen. Wenn wir die tatsächliche Entwicklung weiter beobachten, können wir aber anhand der Szenarien (vielleicht) feststellen, welche Richtung sie genommen hat.

  4. Sehr detailreiche und fundierte Analyse des öffentlichen Diskurses zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie!
    Das Sortieren der Fakten, Argumente und Befindlichkeiten in die klar abgegrenzten Schablonen der Szenarien hilft, den Möglichkeitsraum zu verstehen, in dem wir uns bewegen.
    So wie unsere Gesellschaft nicht „aus einem Guss“ ist, sondern sich ausdifferenziert in verschiedene Milieus, die je ihre eigene und gemeinsam geteilte Sicht von Welt haben, so wird auch nicht eines der vorgestellten Szenarien in Reinform Realität werden. Widerstreitende Positionen sind Ausdruck dieser in den gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlichen Sicht auf und Interpretation der uns umgebenden „Wirklichkeit“.
    Ob die Entwicklung mehr in Richtung des einen oder des anderen Szenarios voranschreitet, hängt nicht nur davon ab, ob diese Entwicklung in bestimmten Milieus anschlussfähig ist, sondern auch davon, inwiefern es diesen Milieus gelingt, gesellschaftliche Treiber zu sein oder zu werden, d.h. die Deutungshoheit über die gegenwärtige Lage und möglicher Zukünfte zu erlangen.
    Hier stelle ich mir die Frage, welches Milieu es eigentlich sein könnte, das die Entwicklung mehr in Richtung Szenario 1 vorantreibt? Die Traditionellen Milieus sind es wahrscheinlich nicht, obwohl sie in einem solchen Szenario kaum Probleme haben würden. Auch der bürgerliche Mainstream ist es nicht, obgleich auch dieser es gern sicher und behaglich hat. Ich habe hier eher die Etablierten Milieus im Blick, zumindest Teile davon – obgleich diese im Text diesbezüglich nicht besonders pro-aktiv beschrieben werden. Wenn es aber keine gesellschaftlich einflussreichen Treiber in Richtung Szenario 1 gäbe, wäre dieses nicht sonderlich wahrscheinlich und all die Kritiker und Mahner, die auch in der Diskurs-Analyse zu Worte kommen, müssten nicht sonderlich besorgt sein, oder?

    Eine interessante Perspektive auf mögliche Entwicklungen wäre es auch zu beobachten, wie gesellschaftliche Milieus unter dem „Stress-Test“ der Corona-Krise ihre Positionen entwickeln, bzw. zuspitzen: Welche Milieus werden sich in Abhängigkeit vom jeweiligen Szenario wie radikalisieren? Welches Szenario bringt die einzelnen Milieus weiter auseinander, treibt also die gesellschaftliche Spaltung voran; mit welchen Konsequenzen? Welches Szenario verspricht die breiteste Anschlussfähigkeit – und damit das geringste Konfliktpotenzial? Letzteres wäre wohl am ehesten Szenario 3 (das im Übrigen auch das am ehesten „sozialdemokratische“ Szenario ist). Dieses Szenario hat einige Fürsprecher, Unterstützer und mit den Jungen Idealistischen klare Aktivisten. Aber auch hier gälte es, die gehobenen Milieus zu überzeugen, ihren Widerständen zu begegnen, um diesem Szenario zur Realisierung zu verhelfen.

    Das wünschenswerteste Szenario ist nicht gleichzeitig das realistischste. Die Zukunft bleibt spannend.

  5. Cornelia Appel stellt die Frage, „welches Milieu es sein könnte, das die Entwicklung in Richtung Szenario 1 vorantreibt?“ und überlegt, ob es Teile der Etablierten Milieus sein könnten. Hierzu gibt eine empirische Untersuchung Hinweise: Dennis Eversberg hat auf Basis einer Clusteranalyse von Daten aus der Umweltbewusstseinsstudie 2016 (Umweltbundesamt 2017) zehn „Transformationstypen“ identifiziert, einer davon wurde mit „Affirmativer Entfremdung“ bezeichnet (Affirmative Alienation – Eversberg, Dennis: Who can challenge the imperial mode of living? : The terrain of struggles for social-ecological transformation in the German population. In: Innovation: The European Journal of Social Science Research, online , 2019, 18f.). Aus der Beschreibung dieses Typs lässt sich schließen, dass sich dieser im Szenario 1 sicherlich wohl fühlen, wenn nicht gar dieses anstreben würde. Und eine Verortung des Typs im Modell der sozialen Milieus ergibt, dass dieser Typ ganz überwiegend in den Etablierten Milieus zu finden ist. So liegt Cornelia Appel mit ihrer Hypothese bezüglich der „Treiber“ von Szenario 1 durchaus richtig; wenn es aber derartige „Treiber“ gibt, ist Cornelia aber zu widersprechen, wenn sie dieses Szenario für unwahrscheinlich hält und meint, diesbezügliche Sorgen seien überflüssig.

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