Hinter dem Bindestrich steht -Economy, davor stellen kalifornische Kapitalismus-Groupies „Passion“, andere weniger enthusiastisch „Hustle“. Wo jene Liebe und Leidenschaft verorten, erkennen diese Hektik und Bedrängnis. Ob positiv benannt oder negativ, es geht um Wirtschaft und Arbeit. Die Coronakrise lässt zwar alternatives Denken aufblühen, aber sie treibt auch Entwicklungen auf den Trampelpfaden unserer Gesellschaft voran, in diesem Fall die Kommerzialisierung. Die modernen Megatrends, alle Tätigkeiten in Arbeit, Arbeit in Erwerbsarbeit und Freizeit in Konsumzeit zu verwandeln, erreichen auf Online-Plattformen gerade eine neue Stufe. Letzte wirtschaftsfreie Zonen werden auf Möglichkeiten des Gelderwerbs hin gecheckt. Noch mehr als gestern scheint heute und morgen zu gelten: „Beziehungen zwischen Menschen werden zu wahrgenommenen oder verpassten Gelegenheiten, Geld zu verdienen“ (Tilman Baumgärtel). Eine Reflexion unter fünf Perspektiven.
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Ist das dann noch Arbeit?
Geld zu verdienen mit allem, was man gerne macht, lautet die Einladung: Im Grunde genommen könne jetzt jedermann Nachfrage in größerem Maßstab für sich aufbauen und eigene Leidenschaften in Finanzierungsgrundlagen verwandeln. Aus der Corona-Not zwar nicht geboren, aber von ihr beflügelt, erleben Online-Plattformen wie Patreon, Substack, Skillshare, Etsy, Teachable bisher nicht gekannten User-Zuspruch, jedenfalls in den USA. „Die Passionswirtschaft ist die Zukunft der Arbeit“ verkündet die kalifornische Risikokapitalgesellschaft Andreessen Horowitz, auch a16z genannt. Eine ihrer Partnerinnen, die Harvard Absolventin Li Jin, gilt mit ihrem Artikel „The Passion Economy and the Future of Work” als die Wortschöpferin, die dieser schönen neuen Arbeitswelt den Namen gab.
Die Online-Plattformen bieten sich nicht aus Nächstenliebe an, sondern verlangen von den Anbietern zwischen fünf und 50 Prozent Anteil an jedem Verkauf. Ihr Geschäftsmodell ist es, Tauschverhältnisse zu ermöglichen, wo vorher freundschaftliche, bekanntschaftliche oder gar keine Beziehungen waren. Weshalb soll man nicht einfach froh sein über die neuen Möglichkeiten? Was kann problematisch daran sein, wenn eine 18jährige angehende Lehrerin via Internet mit Live-Kursen für Primarstufen-Schüler tausend Dollar pro Woche verdient; wenn ein Tanz-Paar erfolgreich Online-Ballettkurse anbietet; wenn Plattformen zu einem „Ad-hoc-Sicherheitsnetz“ werden für Lehrerinnen, Publizisten, Köche, Friseure, Bastlerinnen? Oder wenn die Eigentümerin eines Massage-Studios, das wegen der Pandemie schließen musste, „ein dreiminütiges Stretching-Video über das Off-Screen-Geklapper eines Geschirrspülers filmt und für den Zugang zu diesem Video und den 40 anderen, die sie seitdem in Patreon veröffentlicht hat“, monatlich auf fast 2.000 Dollar kommt? Die Beispiele finden sich in dem Artikel „The Gig Economy Is Failing. Say Hello to the Hustle Economy“ der Journalistin Caitlin Dewey Rainwater.
„Die Covid-19-Pandemie hat weite Teile der Wirtschaft zerschlagen, die Verbrauchernachfrage drastisch gesenkt, Unternehmen geschlossen und Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet. Aber es war gut für den aufkeimenden Splitter der digitalen Wirtschaft, der den Menschen hilft, ihre vorhandenen Fähigkeiten in verkaufsfähige Dienstleistungen und Produkte zu kanalisieren“, schreibt die amerikanische Journalistin und fügt hinzu: „Die Rhetorik, die diese Entwicklung begleitet, erinnert oft und ironischerweise an Karl Marx: Nur befreite Arbeiter, die die Kontrolle über die Produktion haben, können den vollen geistigen und finanziellen Nutzen aus ihrer Arbeit ziehen.“ Die Krise wirkt als Expansions-Beschleuniger instrumentell-kalkulierender sozialer Beziehungen und der Autor der „Kritik der politischen Ökonomie“ soll der Schirmherr sein?
Handelsblatt Kolumnist Tillmann Prüfer sagt nicht Passion-, sondern Hustle-Ökonomie, ist aber auch der Meinung, dass hier Leidenschaft zu Geld gemacht wird und fragt, „ist das dann noch Arbeit? Wenn man verkauft, was man gerne macht?“ Vielleicht dachte er an Bertolt Brechts Diktum, Arbeit sei alles, was keinen Spaß macht. Obwohl die Assoziation mit dem US-amerikanischen Männermagazin Hustler näher liegt, für dessen Name als Übersetzung unter anderem Stricher, Dränger, Abzocker angeboten werden. Die Hustle-Economy als Fortsetzung der Gig-Economy könne „einer verlorenen Generation von Arbeitern“ helfen, zitiert Caitlin Dewey den Investmentanalysten Erik Berg, der sagt, „die Augen der Menschen haben sich für alternative Optionen geöffnet. Man kann einen Weg finden, online Geld zu verdienen, wenn man kreativ und bereit ist, Arbeit hineinzustecken“.
Der Unterschied zur Gig Economy liege darin, „dass diese Passion Plattformen nicht von den Unternehmen (Crowdsourcing) oder Kunden beauftragt werden, eine Lösung für ihre Bedürfnisse/Anforderungen zu organisieren und zu finden, sondern, dass hier den freien Produzenten eine Möglichkeit gegeben wird, sich mit ihren Talenten selbst zu vermarkten oder zu präsentieren und Kunden zu finden“, erläutert der Transformationsexperte Ayad Al-Ani.
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Der Tausch und die Wahrscheinlichkeit seines Misslingens
Will man versuchen, systematisch zu begreifen, was hier abgeht, muss man dem Tausch und der Arbeit ihre quasi-natürliche Vorherrschaft über das irdische Dasein nehmen, wenn auch nur gedanklich. Etwas zu tun, wofür man nicht bezahlt wird, etwas zu geben, wofür man nichts bekommt, sind Verhaltensweisen, die in unserer durchkommerzialisierten Gesellschaft – als „Freiwilligenarbeit und als „Ehrenamt“ weit verbreitet sind: „In Deutschland engagieren sich rund 31 Millionen Menschen in ihrer Freizeit für das Gemeinwohl“, weiß das Bundesinnenministerium. Die andere Seite der Kommerzialisierung, auch hier sind die USA vorbildlich, sind die Volonteers, die sich um das kümmern, was der Kommerz wegen Zahlungsunfähigkeit unerledigt liegen lässt. Die freiwillig Arbeitenden geben dem geschäftlichen Tauschbetrieb das gute Gewissen, das in Festreden gefeiert wird. Aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive muss man der Freiwilligenarbeit bescheinigen, dass sie dem Kommerz das Geschäft erleichtert, eine Sichtweise, die den Motiven der Volonteers übel mitspielt.
Obwohl auch die Gabe in frühen Gesellschaften nach einer Gegengabe verlangte, wie es die einflussreichen Studien des französischen Ethnologen Marcel Mauss belegen, sollte sie nicht mit heutigen Tauschbeziehungen verwechselt werden. Der moderne Tausch setzt zwei freie Akteure und zwei Tauschobjekte voraus, als Transaktion vollzieht er ein doppeltes Geben und Nehmen. A gibt und nimmt, B nimmt und gibt. Die Dramaturgie dieser Transaktion liefert nicht nur Stoff für Kriminalfilme („erst das Geld, dann die Ware!“), sie verläuft auch im richtigen Leben spannend genug. Wie variations- und wie hindernisreich die Tauschtransaktion ist, wird leicht übersehen, weil das routinierte Abwickeln von Tauschbeziehungen – Frühstücksbrötchen einkaufen, Fahrkarten aus dem Automaten lassen, die Miete bezahlen, das Arbeitsentgelt auf dem Konto vorfinden – unter die ganz selbstverständlichen und laufend wiederkehrenden Vorgänge unseres Alltagslebens fällt. Routiniertes milliardenfaches Gelingen des Tauschs täuscht darüber hinweg, wie wahrscheinlich das Misslingen ist: Nicht mit diesem Gegenüber, nicht jetzt, nicht für diese Sache, nicht für dieses Geld.
Das soziale Leben auf Tauschbeziehungen auszurichten, Personen als Käufer und Verkäufer auftreten zu lassen, tendenziell alles käuflich zu machen, sei es rechtlich geregelt oder korruptiv getrickst, dürfte das markanteste Muster der Gegenwartsgesellschaft sein. Nicht Wasser in Wein, sondern Kommunitäres in Pekuniäres zu verwandeln, ist die große Transformation der Moderne. Sie wird am Tag der Arbeit mitgefeiert, auch wenn die Demonstrierenden das anders sehen.
Lange vor den Online-Zeiten war zu beobachten, wie Bildung, Gesundheit, Kunst, Öffentlichkeit, soziale Hilfe, Wissenschaft, wie immer mehr gesellschaftliche Felder ökonomisiert und auf Tauschgeschäfte ausgerichtet wurden. Mit der Digitalisierung haben sich vergleichbare Prozesse im Internet ereignet. Was als Bereitschaft zu teilen, Anteil zu nehmen und zu geben in vielen Variationen online an den Start ging, wo sich zunächst bunte Communities als soziale Netzwerke bildeten, witterten Investoren schon bald Anlagemöglichkeiten und Rentabilitätschancen. Sie verurteilen das Kommunitäre auch online zu einer Schattenexistenz.
Was jemand zu bieten hat, für welches Angebot mit welcher Nachfrage zu rechnen ist, darum dreht sich modernes Leben wie ein Kreisel um die eigene Achse. Gefeiert als Garant für Freiheit und Wohlstand (oder, ebenso einäugig, als Wurzel allen Übels gebrandmarkt), hat sich der Tausch/ Markt, ermöglicht und gefördert von der Politik, zum sozialen Verkehrsknotenpunkt der Weltgesellschaft entwickelt. Was man auch nehmen, woran man auch teilnehmen will, meistens muss man tauschen – Geld gegen Ware. Ziemlich sicher kann sich im Markt fühlen, wer hoch oben auf einem Geldberg wohnt. Schnell unter existentiellen Krisendruck gerät dagegen, wer nur sein tägliches Auskommen hat und sein Einkommen laufend neu verdienen muss.
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Es war einmal ein sogenanntes Normalarbeitsverhältnis
Zusammen mit dem persönlichen Eigentum an ihrer Arbeitskraft gewannen moderne Menschen die freie Wahl eines Berufs und die prinzipielle Entscheidungsfreiheit darüber, ob, wann, wie sie welche Arbeitsleistung erbringen wollen – es sei denn, sie vermieten ihre Arbeitskraft und müssen sich dann sagen lassen, was sie wann zu tun und zu lassen haben. Deshalb konnte Marx schreiben: „Die Arbeit ist frei in allen zivilisierten Ländern; es handelt sich nicht darum, die Arbeit zu befreien, sondern sie aufzuheben.“ Zur Kehrseite freier Erwerbsarbeit gehört soziale Unsicherheit, denn, siehe Tauschbeziehung, niemand ist verpflichtet, Arbeitskräfte oder Arbeitserzeugnisse zu kaufen. Und es herrscht Konkurrenz: Man will etwas arbeiten, ist aber zur Arbeitslosigkeit verurteilt, weil sich kein Arbeitgeber findet; man kann sogar schon etwas geleistet haben, findet aber keine Nachfrage dafür, weil andere vielleicht Besseres oder Billigeres anbieten. Die Logik der Erwerbsarbeit erschöpft sich ja nicht darin, dass man etwas leistet, sondern dass man Produkte oder Dienste zustande bringt, die andere brauchen können und zu bezahlen bereit sind. Vom Leistungswillen, auch von der vollbrachten Leistung alleine kann sich niemand etwas kaufen. Die großen Risiken des Tauschs/ des Marktes lassen sich bequem verschleiern mit dem Vorwurf, bekannt als Lieblingsbehauptung der Marktradikalen, zu vielen Leuten fehle der Leistungswille.
Kriminalität, Glücksspiel und Betteln ausgenommen, sehe ich fünf gangbare Wege an Geld zu kommen (Mischformen außen vor gelassen): 1.Selbständig zu arbeiten und ein Produkt oder einen Dienst erfolgreich zu vermarkten. 2. Eine Organisation/ ein Unternehmen zu gründen, also Technik und Arbeitskräfte zu bezahlen, und das Erzeugnis zu verkaufen. 3. Abhängig beschäftigt zu arbeiten, also seine Arbeitskraft zu vermieten. 4. Sein Geld, so man genug davon hat, „anzulegen“ und „arbeiten“ zu lassen. 5. Sich vom Staat, von der Familie, von Sponsoren (mit)finanzieren zu lassen.
Über den viel genutzten Weg Nr. 3, die abhängige Beschäftigung, ist heute festzustellen: Es war einmal – nicht lange, kein halbes Jahrhundert, längst nicht überall, auch nicht für alle, vor allem nicht für Frauen – ein sogenanntes Normalarbeitsverhältnis mit einem ziemlich sicheren Arbeitsplatz, einem ordentlichen Kündigungsschutz, einer anständigen Bezahlung und einer geregelten Arbeitszeit, nicht mehr als acht Stunden pro Tag und nicht mehr als fünf Tage pro Woche, plus mehrere Wochen Urlaub. Auf solche relativ stabilen Arbeitsverhältnisse lässt sich auch ein belastbarer Sozialstaat bauen, den nur länger andauernde Massenarbeitslosigkeit ins Wanken bringt. Solche sozial- und tarifrechtlich geschützten Arbeitnehmer haben die Möglichkeit, eine (hart umkämpfte) Grenze zu ziehen zwischen Arbeitszeit und freier Zeit. Sie können das Arbeiten temporär ausblenden, (freilich nur) weil sie als Konsumentin und Konsument vergessen dürfen und sollen, dass und wie viel Arbeitsleistungen in dem stecken, was sie gerade auswählen, kaufen und verbrauchen.
Freiberufler, kleine und mittlere Selbständige waren immer schon anderes gewohnt. Sie tun sich sehr viel schwerer damit, die Arbeit in den Hintergrund treten zu lassen, schon deshalb, weil ihre soziale Unsicherheit größer ist. Sie sind eigentlich laufend damit beschäftigt, soziale Kontakte daraufhin abzuklopfen, ob daraus vielleicht eine Tauschbeziehung werden könnte, weil sie ihre Geschäfte am Laufen halten müssen.
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Vorgeschmack auf die Veränderungsdynamik der Digitalisierung
Ende des 20. Jahrhunderts gerieten die arbeitsfreien Zonen des Denkens und des Tuns von mehreren Seiten her unter Druck. Zum einen herrschte mehrere Jahrzehnte lang Massenarbeitslosigkeit und immer mehr Mieter von Arbeitskräften (also Arbeitgeber) weigerten sich, unbefristete Mietverträge abzuschließen; sie wollten in den Turbulenzen der Globalisierung mehr Freiheiten haben, auf sich verändernde Marktverhältnisse flexibel reagieren zu können. Die Suche nach einem neuen Mieter (oder gleich nach mehreren Mietern) für ihre Arbeitskraft wurde für zunehmend mehr Menschen zu einem Dauerthema. Zum zweiten sagten Begriffe wie Arbeitskraftunternehmer und Ich-AG aus, dass das Normalarbeitsverhältnis seine Normalität einzubüßen beginnt, dass Formen von Selbständigkeit und Scheinselbständigkeit zunehmen. Zum Dritten drückte sich im Begriff der Subjektivierung der Arbeit die Beobachtung aus, dass die Bedeutung der gesamten Person für die Arbeitsausführung wuchs, die zeitliche, sachliche und soziale Inanspruchnahme der vermieteten Arbeitskraft stieg. Klaus Dörre spricht von „Landnahme“. Alles zusammen bot einen Vorgeschmack auf die Veränderungsdynamik der Digitalisierung, die Kommunikations- wie Arbeitsprozesse erfasst und für den Tausch neue Marktplätze schafft.
In der öffentlichen Kommunikation kann das vorher (am Kiosk, vor dem Radio, vor der Glotze) an die Empfänger-Rolle gefesselte Publikum auf Online-Plattformen jetzt selbst senden: „One-to-many-Kommunikation“ wird ergänzt mit oder ersetzt von Netzwerk-Kommunikation. Mit der Arbeit geschieht Vergleichbares. In der Wirtschaft können abhängig Beschäftigte, die vorher nur ihre Arbeitskraft vermieteten, sozusagen Viele-an-Einen (Arbeitgeber), jetzt zusätzlich oder stattdessen auf Online-Plattformen zu Anbietern selbsterzeugter Waren und eigener Dienstleistungen werden.
Unter die Anfänge fallen zum Beispiel Blogger und Kommunikationsprojekte wie Wikipedia, aber auch die Digitalisierung des Trödelmarktes. Ebay-Transaktionen erlauben es, nutzlos herumliegendes Zeug in Tauschobjekte zu verwandeln. Inzwischen bietet sich Airbnb jedermann als Marktplatz für das Vermieten und Buchen von Unterkünften ab, Uber funktioniert als Online-Vermittlung von Fahrdienstleistungen, Lieferando für Essenslieferungen. Die sogenannte Gig-Ökonomie löst den Arbeitsmarkt auf in eine Masse von Einzelauftritten, schnelles, oft billiges Tauschgeschäft statt langfristigem, ordentlich bezahltem Mietvertrag. Wie sollen sich darauf soziale Sicherheiten gründen lassen?
„In den USA wurde der Begriff [Gig-Economy] Anfang 2009 auf dem Höhepunkt der Finanzkrise geprägt. Für viele, die ihre Anstellung verloren, war eine Kombination aus vielen kleinen Jobs die einzige Alternative. Durch das Aufkommen von Onlineplattformen wie Uber (ebenfalls 2009 gegründet) oder Lyft (2012) in den folgenden Jahren etablierte sich der Begriff“, schreibt das Wirtschaftsmagazin brand eins.
Die Hustle-Ökonomie reagiert auf die Corona-Krise und macht einen weiteren Schritt. Die Leute sollen ihre Lieblingsbeschäftigungen in Leistungen zur Herstellung marktfähiger Waren umwandeln. Wenn man, wie in der Werbung üblich, alles ausblendet, was eine Sache in einem problematischen Licht erscheinen lassen könnte – das günstige Kreditangebot zeigt die Freude am Kauf, nicht den Stress der Rückzahlung, das potentielle neue Auto steht nicht im Stau, sondern fährt in prächtiger autofreier Landschaft, das beworbene Urlaubsziel liegt in strahlender Schönheit jenseits jeder sozialen oder ökologischen Frage –, kann man tatsächlich auf die Idee kommen, hier werde der Marxschen Utopie der Weg frei gemacht, „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“. Oder man kann (siehe oben) nachfragen, ob Arbeit noch das richtige Wort ist für ein solches selbst gewähltes Tun.
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Fallendes Minimum, expandierendes Maximum
Das aktuelle Geschehen auf den digitalisierten Märkten ist schwer einzuschätzen, ohne dem ziemlich blinden Optimismus des Risikokapitals zu folgen oder in das gestrige Gejammer des Arbeitstraditionalismus einzustimmen. Insassen und Pilgerreisende der kalifornischen Sunnyside behandeln den Unterschied zwischen individueller Selbstverwirklichung und sozialer Existenznot, als ob es ihn nicht gäbe. Für sie ist es Jacke wie Hose, ob jemand gut und gerne tanzt oder im Internet Tanzkurse anbietet, um seinen Lebensunterhalt finanzieren zu können. Aber die Investoren der Plattformen zur Vermarktung des Privatlebens versuchen genau davon zu profitieren, dass ordentlich bezahlte und sozial versicherte Jobs nicht zu bekommen sind.
Die Arbeiterbewegten wiederum sind glücklich, wenn alle ihre Arbeitskraft vermietet haben (sie nennen es Vollbeschäftigung); ob die abverlangten Tätigkeiten gesellschaftlich sinnvoll sind und als persönlich befriedigend erlebt werden, interessiert sie erst in zweiter und dritter Linie. Sie sehen ihre Hauptaufgabe darin, sich mit den Mietern der Arbeitskräfte darüber zu streiten, ob der Mietpreis stimmt und ob die Mietobjekte halbwegs anständig behandelt werden.
Ungewisser war die Zukunft der Arbeit lange nicht. Das betrifft die (hier nicht behandelten) technischen Veränderungen der Leistungsprozesse mit der Grundtendenz zur Robotisierung. Und es betrifft die Tauschprozesse, neue treten neben die alten oder an deren Stelle: Amazon beispielsweise bietet sich zunächst als Ersatz für die Buchhandlung an, inzwischen für die Shopping Mall. Die Digitalisierung vervielfacht für Arbeitskräfte, Produkte und Dienste die Möglichkeiten, Tauschbeziehungen zu realisieren. Entfernungen spielen kaum noch eine Rolle, die zeitliche Beschleunigung ist immens und soziale Schranken fallen, es genügt eine (Internet-)Adresse zu haben. In diesem Schlaraffenland des Tauschens ist Immaterielles, sind Information und Wissen klar im Vorteil, weil sie sich besonders leicht in Datenpakete packen und um die Welt schicken lassen. Aber auch Bilder haben Vorteile gegenüber Texten, weil sie in diesem erbitterten Kampf um Aufmerksamkeit auf entgrenzten Märkten stärker sind. Vielleicht ist die Pornographie als (quantitativ an Angebot und Nachfrage gemessen) attraktivstes Netzangebot für die Favoritenrolle der Bilder der beste Beleg. Verdiente sie nicht als erste den Namen Passion-Economy?
Jedenfalls rätselt auch die Wissenschaft, wohin die digitalisierte Wirtschaft treibt. Der Management-Professor Thomas W. Malone prognostiziert zum Beispiel in seinem Buch „The future of work: how the new order of business will shape your organization, your management style, and your life„, dass die Unternehmen als zentrale Einheiten der Wirtschaft abgelöst würden durch flexible, temporäre Netzwerke von Individuen, die ihre Arbeit selbst auswählen. Wie verträgt sich eine solche Prognose mit digitalen Großkonzernen wie Apple, Microsoft, Amazon, Google (bzw. Alphabet, u. a. mit Youtube) und Facebook, zu dem auch Instagram, WhatsApp und Oculus VR gehören?
Für den Berliner Wirtschaftssoziologen Philipp Staab bilden Macht und Kontrolle den Kern des kommerziellen Internets. In seinem Buch „Digitaler Kapitalismus“ heißt es:
„Im Grunde stellt es sich so dar, dass aus der Diffusion digitaler Technologien in alle Arbeits-,Wirtschafts- und Lebensbereiche eben gerade keine Dezentralisierung oder Demokratisierung ökonomischer oder politischer Macht resultiert, sondern deren Konzentration. Im konsumentenzentrierten kommerziellen Internet kontrolliert eine sehr kleine Zahl sehr großer Unternehmen den Zugang zu Gütern, Dienstleistungen und Infrastruktur.“
Trotzdem kann nicht ignoriert werden: Die Arbeitsverhältnisse bekommen auf der Leistungs- wie auf der Konsumseite entbindende, befreiende Komponenten. Statt nur Vorgaben und Anweisungen zu folgen, verlangen dezentralisierte Entscheidungsnotwendigkeiten, enthierarchisierende Kommunikationsinstrumente und überbordende Informationsmöglichkeiten neue Verhaltensweisen. Die Wirklichkeit hat kein Problem mit widersprüchlichen Entwicklungen. Widersprüche wegzuschreiben, macht nicht realitätstüchtiger. Weniger Hierarchie und weniger Zentralismus, mehr Macht und mehr Kontrolle sind gleichzeitig möglich. Was nicht gleichzeitig möglich ist, sind punktuelle, flüchtige Arbeitsverhältnisse und soziale Sicherheit – es sei denn, man gehört zu den Bestverdienenden oder es findet sich eine Lösung wie zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen.
Das Marxsche Postulat, die Arbeit aufzuheben, scheint allerdings trotz eines Höchststandes der Produktivität mit den Realitäten immer weniger zu tun zu haben. Bruchstücke-Autor Rudolf Walther formulierte in einem (unveröffentlichten) Vortrag (im Februar 2018 in Wien) prägnant: „Marx war, und das macht seine Kritik einmalig, weder ein kapitalistisch inspirierter Prediger der Wachstumsreligion noch ein Apologet der christlich-kommunistischen Arbeitsphilosophie.“ Der Philosoph Karl Marx wollte die Arbeitszeit „auf ein fallendes Minimum reduzieren“. Der digitale Kapitalismus scheint die Arbeit, die Arbeitstätigkeit selbst und die Beschäftigung mit der Suche nach, der Qualifikation für und den Konditionen von bezahlte(r) Arbeit, bis in die letzten Nischen des täglichen Lebens hinein auf ein Maximum zu expandieren.
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