Nicht wahr haben wollen – ein mächtiges Verhaltensmuster

Foto: Clay Banks auf Unsplash

„Die Vereinigten Staaten von Amerika sind eine zerrissene Nation, als Abraham Lincoln 1846 ins US-Repräsentantenhaus in Washington gewählt wird. Im Süden der USA will man sich das Recht auf Sklavenhaltung nicht nehmen lassen. Denn die Besitzer der Tabak-, Zuckerrohr- und Baumwollplantagen wollen ihren luxuriösen Lebensstil nicht aufgeben, der auf der Ausbeutung der Sklaven als billige Arbeitskräfte basiert. […] Als Lincoln im November 1860 zum 16. Präsidenten der USA gewählt wird, verlässt der Bundesstaat South Carolina im Dezember die Union, andere Südstaaten folgen. Im April 1861, einen Monat nach Lincolns Vereidigung, attackieren Truppen der Südstaaten Garnisonen des Nordens. Es kommt zum Bürgerkrieg. (WDR)

Vor kurzem wurde mit aller wissenschaftlichen Sorgfalt nachgewiesen, was man schon lange wissen konnte, aber nicht wahrhaben wollte: Schweizer Banken sowie die Zürcher und St. Galler Textilwirtschaft waren vom 17. bis ins 19. Jahrhundert sehr eng in den internationalen Handel mit Sklaven und mit Produkten aus Sklavenarbeit verstrickt. Politisches Nicht-wahr-haben-wollen liegt nicht immer so klar und offen zutage wie in diesen Tagen bei Donald Trump. Dass ich mich dafür interessiere, wie sehr es auch die Geschichtswissenschaft pflegt, daran ist meine Sozialisation während des Kalten Krieges schuld.

Meine früheste politische Erinnerung ist eine Schulstunde Anfang März 1953. Ich war damals neun Jahre alt und wurde als einziges nicht-katholisches Kind von einer Nonne unterrichtet. Diese ließ die Klasse zum Beten aufstehen. Wofür oder wogegen, weiß ich nicht mehr so genau. Am wahrscheinlichsten ist, dass es eine Art Dankgebet gewesen sein muss, weil – und dessen bin ich sicher – „ein ganz böser Mann“ gestorben sei. Wann und von wem ich erfuhr, um wen es sich handelte bei dem „bösen Mann“, weiß ich nicht mehr. Es ging aber mit Sicherheit um Stalins Tod, der am 5. März 1953 verstorben ist.

Drei Jahre später war eine Demonstration („Fackelzug“ hieß das damals) angeordnet für einen Novemberabend. Während des Tages hatten wir im Städtchen Altpapier, Kleider und Spielsachen gesammelt – „für die Flüchtlingskinder aus Ungarn“. Warum das richtig und wichtig war, wusste ich so wenig wie und weshalb diese kamen. Und so ging das während der ganzen Schulzeit: Von Cäsars Vernichtungskrieg gegen Bevölkerungen, die Gallien bewohnten, blieb im Latein- und Geschichtsunterricht allenfalls, warum natürlich „die Guten“ siegten. Noch an der Universität galt es als normal, dass ein verdienter Historiker im Namen der Wissenschaft schlicht leugnete, dass es so etwas wie „Kolonialismus“ gegeben habe und gebe.

Auf Deck eines Sklavendampfers im Kongogebiet (um 1900). Aus Conrad Alberti-Sittenfeld: Die Eroberung der Erde. Ullstein Verlag | wikimedia commons

Erst in jüngster Zeit hat sich in der Geschichtswissenschaft und in den meisten Medien die Einsicht durchgesetzt, wie wichtig die transnationale Vernetzung von Wirtschaft und Banken – einschließlich des Sklavenhandels und der Sklavenwirtschaft und der damit verbundenen Gewalt – für die Industrialisierung und damit für die Wohlstandsentwicklung und damit auch für die kulturelle Blüte Europas und Nordamerikas seit rund 300 Jahren gewesen ist. Dass buchstäblich Blut an Wohlstand und Kultur kleben, ist keine neue Einsicht. Aber wie erfolgreich die Übermalung und Überschreibung diese Einsicht historisch war – besonders zu Zeiten des Kolonialismus und des Kalten Krieges – , wird erst Stück für Stück sichtbar. Und das gilt auch für Binnenländer wie die Schweiz, die direkt keine Kolonien besaß und im Inland keine Sklavenhaltung betrieb, wie das Gutachten von drei jungen Schweizer Historikern eindrücklich belegt.

 Den „Bericht zu Handen des Präsidialdepartements der Stadt Zürich“ über „Die Beteiligung der Stadt Zürich sowie der Zürcherinnen und Zürcher an Sklaverei und Sklavenhandel vom 17. bis ins 19. Jahrhundert“ haben drei wissenschaftliche Mitarbeiter – Marcel Brengard, Frank Schubert und Lukas Zürcher – am Historischen Seminar  bzw. dem Lehrstuhl der Professorin Gesine Krüger erarbeitet

Der Bericht hat eine längere, fast 20jährige Vorgeschichte, er ist gut 50 Seiten stark und beruht auf der Auswertung von Quellenbeständen im Zürcher Staatsarchiv, der neuesten  wissenschaftlichen Literatur, aber auch von studentischen Seminararbeiten, die im Rahmen eines Bachelor-Seminars zu „Zürich und die Sklaverei“ im Wintersemester 2019 entstanden sind. Ganz wichtig und außerordentlich ertragreich zu Sklavenhandel und Sklaventransport sind für die Autoren drei Datenbanken, die erst in jüngster Zeit zur Verfügung stehen und zum Beispiel über jeden einzelnen Sklaventransport Auskunft geben, was auf der Basis der alten  Zürcher Archivbestände bislang nicht möglich war. Insofern hatte die ältere Forschung einen ganz erheblichen Nachteil gegenüber der jüngeren. Es liegt in der Natur historischer Forschung, dass neue Quellen erschlossen werden. Aber das ist kein neues Problem, sondern selbstverständlich für Historiker.

Forschung mit ideologisch verklebten Augen

Das Problem liegt vielmehr bei einem bekannten Schweizer Historiker. Der erforschte zwar ebenso quellenkundig wie quellennah die wirtschaftliche Verflechtung Zürichs und der Schweiz mit Europa im 18. Jahrhundert, aber er ging mit kategorialen Vorentscheidungen und ideologischer Voreingenommenheit – gleichsam verklebten Augen ans Werk, sodass er Vieles gar nicht lesen konnte/wollte, was in den Akten stand.

Der Historiker Herbert Lüthy (1918-2002), der in Zürich und in Basel lehrte, aber lange Zeit in Frankreich lebte, legte 1959-1961 in zwei Bänden auf rund 1500 Seiten die Geschichte der „Banque protestante en France de la  révocation de l’édit de Nantes à la Révolution“ vor. Dieses Werk genießt in der Fachwelt bis heute hohe Anerkennung. Das ist einigermaßen erstaunlich, denn Lüthy näherte sich seinem Thema und den Quellen mit grobschlächtigen Vorurteilen. Damit setzte er sich gar nicht erst in Gefahr aus, wirklich erkennen zu können, was das Jahrhundert der Aufklärung unübersehbar mitprägte: Sklavenarbeit, Sklaventransporte, Sklavenhandel.

Lüthys Essay „Ruhm und Ende der Kolonisation“ erschien 1957 – zwei Jahre vor dem ersten Band über die „Banque protestante“, mitten im Kalten Krieg und noch während des Algerienkriegs – in der rabiat antikommunistischen Zeitschrift „Der Monat“, die der amerikanische Geheimdienst finanzierte, wie man heute weiß. Von Sklavenarbeit, Sklaventransporte und Sklavenhandel mochte Lüthy in den Quellen nichts entdecken, denn er ging gleich im ersten Satz des Essays von einer Differenz zwischen „Kolonisation und  ‘Kolonialismus‘“ aus. Die Differenz markierte er deutlich, indem er „Kolonialismus“ durchgehend in Anführungszeichen setzte, so als ob es den gar nicht gegeben hätte und das Faktum sich aus der Welt schaffen ließe, indem er den Begriff zum „Wortbastard“ erklärt. Dass die sprachliche Abhebung des Wortes keine bloße Marotte ist, sondern auf eine Unterscheidung in der Sache hinausläuft, wird schnell klar, wenn der Autor dogmatisch dekretiert: „Wo immer Kolonialpolitik über die reine Machtausübung hinaus eine innere Rechtfertigung suchte, hat sie die Kolonisation als Erziehungswerk verstanden, das sein Ende anstrebt: Emanzipation.“

Lüthy relativierte das zwar umgehend: „Wohl hat die Wirklichkeit nie ganz dieser verklärten Schau entsprochen; die Kolonisation war kein philantropisches Erziehungsinstitut“. Wie „innere Rechtfertigung“ funktioniert, demonstrierte der preußische Historiker Heinrich von Treitschke sechzig Jahre vor Lüthy: „Wenn die Engländer (…) die Hindus vor die Mündungen der Kanonen banden und sie ‘zerbliesen‘, dass ihre Körper in alle Winde zerstoben, so kann man das, da doch der Tod sofort eintrat, nicht tadeln. Dass in solcher Lage Mittel des Schreckens angewandt werden müssen, ist klar“.

„Gewiss nicht immer selbstlos“

Lüthy  aktualisiert diese Position mit seiner zeittypisch manichäisch, also antikommunistisch grundierten Unterscheidung der Wirklichkeit nach Gut/Böse, Schwarz/Weiß und geht dabei aufs Ganze: Er versteht sich 1957 (!) als „Advokat der letzten europäischen Kolonialmächte“ und verweist Kritiker des „Kolonialismus“ als „unbefugte Richter“ des Platzes. Für Lüthy reimt sich „Kolonisation“ auf „Erschließung, Erforschung und Besiedelung der Welt“; obendrein sei bei diesem Prozess „der Anteil der Gewalt  erstaunlich klein“ gewesen. Der Autor spricht – mitten im Algerienkrieg – von „widerstandsloser Kolonisierbarkeit der nichteuropäischen Welt“ und behauptet ernsthaft, 800 englische Polizeibeamte und 60 Mann englische Truppen hätten Indien in Schach gehalten. Dabei entsandte London im Jahr 1857  allein zwischen Juni und Oktober 40 000 Soldaten, um das Land wegen des ersten Aufstands zu „befrieden“. Daran knüpft Lüthy einen abenteuerlichen Schluss: „Wenn das Ziel der Kolonisation die Emanzipation ist, so hat England gewiss nicht immer selbstlos und ungeduldig dieses Ziel angestrebt; aber es hat nichts unternommen, was ihm zuwiderlief“.

In dieser Voreingenommenheit las Lüthy die Quellen und schrieb sein Buch über die „Banque protestante“. Daher überrascht es nicht, dass Sklaven und Sklavenhandel im Sachregister gar nicht vorkommen. Die sorgfältige Durchsicht des Textes ergab, dass Lüthy die Wörter ganz selten verwendet. Selbst an Stellen, wo es genau darum ging, fehlen sie. Die 1755 gegründete, halbstaatliche Bank Leu & Cie. in Zürich kaufte wie der Kanton Bern Anteile an der „Compagnie de la Mer sud“/“South Sea Company“, die nach heutigem Wissen mindesten 35 000 Sklavinnen und Sklaven einkaufte, transportierte und verkaufte,  aber nirgends wird bei Lüthy deutlich, wozu die Investitionen in Bern und Zürich dienten und womit bezahlt wurde: nämlich mit Produkten der Schweizer Textilindustrie sog. „Indiennes“, die einen regelrechten Boom erlebten. Grob verschleiernd ist bei Lüthy von „Überseehandel“ oder „sicheren Geschäften“ die Rede.

Der jüngste Bericht der Zürcher Historiker dagegen kann die Schweizer Beteiligung an immerhin 100 Sklaventransporten belegen und nennt die Geschäfte beim Namen. Die Monographie des Zürcher Historikers Hans Conrad Peyer, dem 1968 dieselben Quellen zur Verfügung standen wie Lüthy, verzeichnet für die Handelsfirma und Privatbank Usteri, Escher & Cie. mit ihrem Pariser Ableger Rougemont, Hottinguer & Cie. Investitionen in Sklavenschiffe mit Krediten von der halbstaatlichen Band Leu & Cie., was dem „Zürcher Staatsschatz einen schönen Erfolg“ (Peyer) bescherte. Davon und vom wirklichen Zweck der Schweizer Investitionen wollte die monumentale Studie Lüthys nichts wissen.

Sklavenhalter werden bei Lüthy zu „Händlern auf den Antillen“, „Eigentümern“ oder „Plantagenbewirtschaftern“ („exploitants de plantations“) aufgehübscht. Nur an einer Stelle fallen unter die „gehandelten Werte/Waren“ („valeurs réelles“) außer „Kaffee, Zucker und Textilien“ auch „Sklaven“. Das Buch von Leo Weisz, der schon von 1949 über Sklavenhandel und Sklavenbesitz von Schweizern berichtete, kommt dagegen bei Lüthy, der sich offensichtlich auskannte, aber nicht darüber schreiben wollte, ganz schlecht weg: „zahlreiche Fehler und ohne Quellenangaben“.

Während der jüngste Bericht aufgrund akribischer Forschung zum nuancierten Fazit kommt, dass Schweizer Banken und die Zürcher und St. Galler Textilwirtschaft sehr eng in den internationalen Handel mit Sklaven und mit Produkten aus Sklavenarbeit verbunden waren, insbesondere der Vater und der Großvater Alfred Eschers, präsentiert Lüthy nur die ebenso triviale wie verzerrende Einsicht: „Die Bank,  das ist der Finanzdienst des internationalen Handels“.

Rudolf Walther
Rudolf Walther ist Historiker und hat als Redakteur und Autor des Lexikons »Geschichtliche Grundbegriffe« gearbeitet. Seit 1994 ist er als freier Autor und Publizist für deutsche und schweizerische Zeitungen und Zeitschriften tätig. Seine Essays, Porträts und Kommentare liegen in vier Bänden unter dem Titel »Aufgreifen, begreifen, angreifen« vor.

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