“Manche freilich…”

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Cher ami,

hier meine coronakonformen herzlichen Weihnachtsgrüße und die Empfehlung für einen  angemessenen leisen Übertritt ins nächste Jahr. Wir werden vermutlich alle 2020 markant in Erinnerung halten. Nicht weil, wie Arminius Laschet glaubt, dieses Weihnachten das schlimmste Fest seit Kriegszeiten wird. Mir fällt es schwer, die Kriegserlebnisse meiner Eltern und Großeltern zu vergleichen mit den beklagenswerten Ereignissen in meinem Leben oder in diesem Jahr. Aber das Corona-Jahr ist immerhin ein Jahr der Vergleiche oder besser: des Vergleichens.

Wie die meisten leben wir seit Monaten entlang der täglichen Statistiken, Inzidenzen, Fallzahlen und Prognosen, die wir zusammen mit unseren Freunden kommentieren. Dabei empfinden wir unser Leben in Frankreich, bereits ein gutes Stück dem Arbeitsleben und den üblichen Verpflichtungen entrückt, als privilegiert. Es fällt uns leichter, gelassen zu bleiben, und sicher müssen wir uns auch weniger dem Risiko der Infektion aussetzen wie etwa unsere Freunde an der Schulfront.

Hugo von Hofmannsthal (1874-1929)
Bild: Karl Bauer /wikimedia commons

Dies ist auch der Grund, warum ich in diesem Jahr das Gedicht von Hugo von Hofmannsthal ausgewählt habe. Das Gedicht „Manche freilich“ – von dem ein altes Tondokument existiert, in dem Hofmannsthal es mit viel Pathos vorträgt – ist im alten Wien kurz vor der Jahrhundertwende entstanden, in einer Stadt, die Hermann Broch als das „Zentrum des europäischen Wert-Vakuums“ beschreibt (welche Stadt verdiente wohl heute diesen Titel?). Hofmannsthal war 20 Jahre alt: Ist das nicht ungeheuerlich, dass ein Zwanzigjähriger solche barocken Zeilen erschafft? Und sind sie nicht zeitlos? Jedenfalls haben sie mich zu einem Gedanken über das aktuelle Pandämonium geführt.

Die Drunten, die Droben. Die Leichten und die Schweren. Und die Gebundenheit beider. Woran ich dabei denke ist einer meiner Lieblingsbegriffe: Kompensation. Er stammt ursprünglich aus dem römischen Recht, und auch heute nutzen Juristen ihn noch. Der Grundgedanke ist: Für etwas, das fehlt, genommen oder als Mangel erkannt wurde, sollte es einen Ausgleich geben. Und da für sehr Vieles kein gleichwertiger oder entsprechender Ausgleich geleistet werden kann, ist die Kernfrage der Kompensation: Quid pro quo? Oder, um mit Neil Young zu reden: They give you this and you pay for that.

Mein Freund Sturmius könnte an dieser Stelle etwas zur christlichen Kompensation erzählen: Wie Gott als Ausgleich für die menschlichen Sünden seinen Sohn schickte und opferte. Oder dass man als den Ausgleich für das Böse in der Welt die Willensfreiheit verstehen könnte. Wir können die große Welt und unser kleines Leben in dieser Weise deklinieren.

Was wäre ein Ausgleich für das, was uns Corona abverlangt? Meine Antwort: Corona hat uns Räume geschaffen, die wir nutzen können, Räume für uns ganz persönlich und Räume für uns und die, die uns wichtig sind. Ich verbinde diese Grüße mit meiner Hoffnung, dass diese Räume, nur manche freilich, genutzt werden.

Meilleures salutations, Achim

Manche freilich

Manche freilich müssen drunten sterben
wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
andere wohnen bei dem Steuer droben,
kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

Manche liegen mit immer schweren Gliedern
bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
anderen sind die Stühle gerichtet
bei den Sibyllen, den Königinnen,
und da sitzen sie wie zu Hause,
leichten Hauptes und leichter Hände.

Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
in die anderen Leben hinüber,
und die leichten sind an die schweren
wie an Luft und Erde gebunden.

Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
noch weghalten von der erschrockenen Seele
stummes Niederfallen ferner Sterne.

Viele Geschicke weben neben dem meinen,
durcheinander spielt sie all das Dasein,
und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
schlanke Flamme oder schmale Leier.

Hugo von Hofmannsthal
Achim Kinter
Dr. Achim Kinter berät, nach journalistischen Anfängen, seit fast 20 Jahren Unternehmen, primär aus den Branchen Finanzdienstleistungen und Health Care.

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