Wenn Demokratie die Selbstbeherrschung verliert

Dreifach beherrschtes Selbst © Andreas Galling-Stiehler 2020

(Liebes-)Verlust und Misslingen greifen unser Selbstwertgefühl an, sie schlagen unserer Selbstliebe Narben. Etwa so setzt Sigmund Freud 1920 in „Jenseits des Lustprinzips“ an, um unsere düsteren Gefühle zu ergründen. Hundert Jahre danach scheinen die düsteren Gefühle in eins zu gehen mit der politischen Agenda. Die Freud-Preisträgerin Ute Frevert spricht in ihrem Buch „Mächtige Gefühle“ von organisierter Gefühlsarbeit, die Gefühle von Bürgerinnen und Bürgern zu formen und kontrollieren versucht. Eine solche „Gefühlspolitik“ betrifft nicht nur die vielen Einzelnen, sie gehört auch „in die Sphäre der Staatskunst, der Medien oder des Kommerzes“, so Frevert. Nun macht der Kommerz eine Pause und die Medien geben der Staatskunst eine Bühne für ihre Auftritte in Dauerschleife, als sei Gefühlsarbeit kein geteiltes Geschäft mehr. Die Exekutive scheint den Bürger*innen unvermittelt gegenüber zu stehen: Bundeskanzlerin Angela Merkel stellt als personifizierte Staatskunst die Gefühle vor und der Souverän fühlt sie nach – so das desolate (Selbst-)Bild im Winter.

Nach Freud ist unser Ich als Sachwalter des Selbst nur eine von drei psychischen Instanzen neben Es und Über-Ich. Nimmt in einer Krise nun der Druck auf das Selbst zu, wird das Ich großspurig. Es hält große Rede über Verzicht und Verantwortung. Der Ton wird „paternalistisch“ – es spricht sozusagen der Vater (Pater) für alle Instanzen. Aus Merkel spricht nun schon eine ganze Weile die Mutter der Nation – nicht erst seit der Corona-Krise. Im Herbst 2019 klang das nach einer Sitzung des „Klimakabinetts“ in einer Pressekonferenz so: „Es ist nicht so, dass wir hier irgendetwas Ideologisches machen, sondern wir machen etwas, wofür es so massive Evidenzen gibt, dass wir dagegen handeln müssen. (…) Das unterscheidet Politik von Wissenschaft und auch von ungeduldigen jungen Menschen. Politik ist das, was möglich ist.“

Über massive Evidenzen lässt sich streiten. Doch von Streit war und ist in der Staatskunst wenig zu hören, von Protesten gleichwohl. Bei den „Corona-Protesten“ haben nun zum Jahresende einige die Selbstbeherrschung als Staatsbürger*innen verloren. Hygiene war denen so gleichgültig wie die Tatsache, dass sie sich zum Büttel von Nazis gemacht haben. Bei so manchen schien sich eine geradezu infantile Wut und Unlust Bahn zu brechen gegen das Gewissen und die rationale Stimme des Ich. Aber wie verliert Demokratie selbst die Beherrschung?

Es scheint umgekehrt: Wenn die machtvolle Stimme der Exekutive als Stimme der Vernunft die Judikative mit ihren Normen und Geboten und die Legislative mit ihren vielen streitbaren Impulsen dominiert, verliert Demokratie ihre Beherrschung. Das tut sie, wenn die Exekutive sich langfristig anmaßt festzulegen, „was möglich ist“ in der Politik. Auch wenn die Kanzlerin und so manche Landesfürsten und Landesfürstinnen ihre Umfragewerte als demokratische Liebesbeweise sehen mögen – für Demokratien ist die paternalistische Politik der Exekutive ohne wirksames parlamentarisches Korrektiv ein Misslingen.

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Andreas Galling-Stiehler
Dr. Andreas Galling-Stiehler unterrichtet seit 2005 an der UdK Berlin. Er studierte Sozialpädagogik an der Fachhochschule Darmstadt sowie Philosophie, Literaturwissenschaft und Pädagogik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Erwerbstätig war er als Sozialarbeiter, Lektor und PR-Redakteur. 2016 promovierte er über psychoanalytische Lesarten der Auftragskommunikation. Für die Zeitschrift „Ästhetik und Kommunikation“ arbeitet er als Redakteur.

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