Denkblockaden und Sprechverbote der Kurzschluss-Moral

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Sich empören zu können, ist wichtig. Weil es ohne Empörung keinen wirksamen Aufstand gegen zynische Machtanmaßung und dreiste Privilegien gibt. Empörung mobilisiert, auch weil sie eine starke Lustkomponente hat. Ohne die Lust sich zu empören, hätten wir wohl viel schlimmere politisch-gesellschaftliche Verhältnisse auf diesem Planeten. Moralische Empörung kann allerdings auch zum Gegenteil führen, zum gesellschaftlich Schlechteren. Empörung wird problematisch, wenn sie im Kurzschluss, im Reflex und ohne Abwägung der Zusammenhänge losbricht. Ich will diese Kurzschluss-Moral an zwei aktuellen Beispielen der Corona-Politik darstellen, an der Impf-Priorisierung und am Immunitätsausweis.

Beispiel eins: Impf-Priorisierung. Praktisch ist der Fall längst erledigt, weshalb sich mit ihm leidenschaftslos die Mechanismen der Kurzschluss-Moral gut aufzeigen lassen. Konkret: Nach Aussagen der Fachleute sterben etwa doppelt so viele Männer an Covid19 wie Frauen (jeweils jünger als 90 Jahre). Vermutlich gilt diese Geschlechter-Verteilung auch für die schweren Verläufe. Angesichts des zur Zeit knappen Impfstoffs wäre es sinnvoll, in dieser Anfangsphase in erster Linie Männer zu impfen (und natürlich Frauen mit spezifischen Risiken und über 90). Die Intensivstationen hätten so in dieser Phase anfänglicher Knappheit schneller entlastet werden können. Aber was für einen moralischen Aufschrei hätte eine solche „Bevorzugung der Männer“ ausgelöst!

Dass es bei der Impf-Priorisierung gar nicht so sehr um die Alten geht, sondern in erster Linie um die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems, gerät dabei außer Acht. Unbeachtet bleibt auch, dass die meisten übermäßig belasteten Beschäftigten im Gesundheitssystem Frauen sind. Und dass dessen mögliche Überlast alle Menschen in der Gesellschaft gefährdet, also auch die junge Frau oder den jungen Mann, die nach einem Unfall auf die Intensivstation eingeliefert werden. – Aber eine Priorisierung für ältere und alte Männer hätte eine solche Empörung aus Kurzschluss-Moral ausgelöst; nicht einmal eine offene Debatte über das Für und Wider wäre möglich gewesen. Darum wurde ein solches Vorgehen von den Verantwortlichen wahrscheinlich gar nicht erst erwogen – obwohl in der Konsequenz auch die meisten Frauen von einem solchen Vorgehen profitieren würden.

Beispiel zwei: Immunitätsausweise. Für dieses Beispiel gilt die Voraussetzung, dass Geimpfte das Virus nicht mehr übertragen, was wahrscheinlich ist, aber noch nicht als gesichert gilt. Welch’ einen Aufschrei gibt es jetzt allein schon über die Diskussion. Dürfen Geimpfte gastronomische, touristische und kulturelle Angebote wahrnehmen, Nicht-Geimpfte für eine Übergangszeit noch nicht? Die SPD wollte sogar schon die Diskussion darüber, also auch nur die Abwägung des Für und Wider, verbieten, was ein Paradebeispiel für Kurzschlussmoral ist.

Ich will hier gar nicht auf die verfassungsrechtliche Frage eingehen, ob Menschen Grundrechte ohne sachliche Begründung vorenthalten werden dürfen. Meine Frage: Ist diese Empörung über angebliche „Privilegien“ bei genauer Betrachtung überhaupt berechtigt? Ich lehne grundsätzlich Privilegien ab, die einer Teilgruppe der Gesellschaft Vorteile verschafft – auf Kosten der Gesamtheit! Bei Steuerprivilegien ist das der Fall, weil die Steuerentlastungen für eine Gruppe einer Mehrbelastung für alle anderen gleichkommen; beispielsweise war die Steuerbefreiung des Adels zulasten des leidenden dritten Standes ein entscheidender Grund für die Französische Revolution.

Immunitätsausweise sind im Interesse aller!

Genau andersherum als bei Steuerprivilegien dient es allen, wenn zumindest die Über-65jährigen (die wahrscheinlich im April durchgeimpft sein werden) bald in Restaurants, Hotels, Wellnessanlagen gehen können. Denn es gibt nicht nur einen Impf-Wettlauf gegen das Virus und seine möglichen Mutanten, sondern auch einen ums Überleben großer Teile der Gastronomie, der Kinos, Konzerte und Theater, der Innenstadtläden und des Tourismus; und damit in vielen Tourismus-Ländern ums wirtschaftliche und soziale Überleben und um sozialen Frieden oder unberechenbare Unruhen wie in Tunesien.

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Es geht heute um mindestens zwei, drei entscheidende Monate, in denen für große Teile der Wirtschaft über Zusammenbruch oder Weitermachen-Können entschieden wird. Ich frage alle diejenigen, die vehement sogar gegen die Debatte über Immunitätsausweise sind: Was nützt es euch, wenn erst nach Abschluss des kompletten Impfprozesses alle das Recht zum Besuch von Restaurants oder Hotels haben – die es dann aber nicht mehr gibt. 
Und diejenigen, die statt Immunitätsausweisen noch mehr staatliche Hilfen für die Wirtschaft verlangen: Werdet ihr widerspruchslos folgen und bereitwillig mitmachen, wenn noch höhere Abgaben, vielleicht sogar Einkommens- und Rentenkürzungen fällig werden?

Darum mein Appell:
Erst die Abwägung aller Argumente und dann meinetwegen die Empörung.

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Hendrik Auhagen
Hendrik Auhagen war in den 1980er Jahren für die Partei Bündnis 90/Die Grünen (Grüne) im Deutschen Bundestag. Er ist Mitglied der Expertengruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn und Mitgründer des Bündnisses Bahn für Alle. In den Jahren 1999 und 2000 unterrichtete er Deutsch an einem Kolleg in Legnica (Polen), von 2001 bis 2004 Deutsch und Gemeinschaftskunde in Bad Säckingen am Scheffel-Gymnasium, später am Friedrich-Wöhler-Gymnasium in Singen.

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