Woher stammt eigentlich die Geschichte von der verdorbenen Spaßjugend, die im Corona-Lockdown ihre Alten aufs Spiel setzt? Der einzig erzählenswerte Elternmord geht auf das Konto von Ödipus. Den Titel eines Kultfilms meiner Eltern zitierend, muss man über den tragischen Helden allerdings sagen, dass er nicht wusste, was er tat. Ansonsten sind Kinder immer die Leidtragenden. Hänsel und Gretel werden aus fadenscheinigen Gründen im Wald ausgesetzt, Schneewittchen wird von ihrer Stiefmutter malträtiert. Die Tötung und Aussetzung der Nachwachsenden ist überhaupt die Wurzel allen Übels. In jeder Gemeinde liest man auf den Kriegerdenkmälern von „Söhnen“, die ihr Leben ließen.
Michel Serres (1930-2019), der große französische Philosoph urteilt, dass in den »Kriegen, meist von Verantwortlichen reiferen Alters beschlossen und organisiert, die männliche Jugend getötet wurde. Mit anderen Worten: In den Ministerien, Botschaften und Hauptquartieren saßen Väter aus jener Elite, die sich mit Inbrunst einer im zweistelligen Millionenbereich betriebenen Ermordung ihrer Söhne widmeten. Den Söhnen und Töchtern, die überlebt hatten und zweifellos geblendet waren von der imponierenden Gräberzahl, wurde wenig später in den Hörsälen eine ganz andere Geschichte nahegebracht, die vom ›Vatermord‹.«
Lobenswert, wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im April 2020 im Berliner Tagesspiegel Partei ergreift für die Jüngeren: „Meine Angst ist aber begrenzt. Wir sterben alle. Und ich finde, Jüngere haben eigentlich ein viel größeres Risiko als ich. Mein natürliches Lebensende ist nämlich ein bisschen näher.“ Wer den Tod dabei allein auf die physische Existenz begrenzt, übersieht die ethische Verpflichtung, den Menschen eine Zukunft zu ermöglichen und keinesfalls zu entziehen. Die Erkenntnisse mehren sich, dass der Lockdown nicht nur Kindern die Zukunft versaut, sondern auch zu massiven seelischen Störungen führt. Ganz abgesehen davon, dass in ausweglosen sozialen und familiären Situationen tausend Tode gestorben werden.
Vom Ethikrat hört man dazu wenig. Was soll man auch von einem Gremium erwarten, in dem die kleinen Leute fehlen. „Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt“, heißt es im wirklichkeitsfernen Grundgesetzentwurf der Kinderrechte. Seit Monaten werden Verantwortungen hin und her geschoben, wissen Kitas und Schulen nicht, wie es weitergehen soll, sehen sich wie Kunst und Kneipen behandelt: Nicht wirklich systemrelevant.
In dieser Pandemie-Lage Antworten zu finden und zu geben, ist verdammt schwer. Aber die Politik ist dafür da, die Ver-Antwortung zu übernehmen, das ist ihr Privileg und ihre Schuldigkeit. Und wenn sie demokratisch sein will, hat sie auch keinen Grund, sich über Kritik an ihren Entscheidungen zu beschweren, sondern die Pflicht, sich offen und argumentativ mit den Kritikern auseinanderzusetzen. „Notwendigkeit“, „keine Alternative“, Basta“ sind keine Begründungen, sondern kleine Fluchten kommunikativer Hilflosigkeit.
Meinem greisen Vater gefielen die aufklärenden Worte Michel Serres’. Noch mehr amüsierte ihn, dass er den Altersrekord seiner garstigen Großmutter, die ihm in mageren Zeiten die Butter vom Brot gestohlen hatte, einstellen konnte. Seiner Ansicht nach hatte man nämlich das 11. Gebot vergessen: Du sollst Deine Kinder ehren!
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Schulz,
vielen Dank für Ihren Artikel.
Sie sprechen mir aus der Seele!
Beste Grüsse aus der Schweiz
Ihr Alumnus
Timo
Ich bin ganz deiner Meinung. Danke
Lieber Jürgen, herzlichen Dank für diesen Text!
„Vom Ethikrat hört man dazu wenig. Was soll man auch von einem Gremium erwarten, in dem die kleinen Leute fehlen.“
Wir sollten die Diskussion zur Frage führen: Wie ethisch ist der Etikrat? Ein Gremium ohne demokratische Legitimation, dass nicht berät, sondern Dogmen verhängt. Zuletzt durfte man die Aussage lesen, dass es ungehörig sei, sich selbst einen speziellen Impfstoff wünschen zu wollen.
https://rp-online.de/panorama/coronavirus/ethikrats-vorsitzende-alena-buyx-plaediert-gegen-freie-impfstoff-wahl_aid-56092937
Wir brauchen keinen Etikrat, sondern einen Bundestag und Landtage, die ihrer verfassungsmäßigen Rolle gerecht werden. Sie haben die Gesetzgebungskompetenz und sie kontrollieren die Regierungen. Sie sind dafür verantwortlich, dass alle Teile der Bevölkerung in der Pandemie diskriminierungsfrei Beachtung finden. Die schwächsten – unsere Kinder – besonders.
Und sollten die Parlamentarier zu dem Schluss kommen, dass die Regierungen diesem Anspruch nicht gerecht werden, können sie ihnen das Misstrauen aussprechen. Dann werden wir – die Bevölkerung – unserer Rolle als Souverän verantwortungsvoll gerecht und wählen neu.