Impfnationalisten, schwer gekränkt

Da Deutschland sich auf fast allen Gebieten meist weit vorne wähnt, komme so etwas einer „großen Kränkung“ gleich, vermutet Harald Welzer, Sozialpsychologe. Dieses „etwas“ fasste die selbsternannte Volksstimme Bild Anfang Februar in diese Headline: „Briten-Häme über unser Impfdebakel“; und die dortigen Boulevardblätter komplettieren die Schmach und titeln „Thank God we left“, „Gott sei Dank, sind wir draußen“. Die Bild-Schlagzeile findet sich, sprachlich kaum variiert, auch im Spiegel, im heute-journal, in weiteren Medien und in den Reden der Opposition. Die Klage wird so harsch vorgetragen, dass es schon verwundert, warum nicht noch drastischer von Impfschande, gar den zahllosen Impfschande-Toten die Rede ist. Eine konsumverwöhnte Gesellschaft und ihre Journalisten-Elite kennt keinen Mangel. Und duldet ihn auch nicht.   

Eine knappe Erinnerung, wie entschieden wird: Schon lange gehen Manager, Politiker, Verantwortungsträger generell davon aus, sie handeln und entscheiden unter VUCA-Bedingungen: volatil, unsicher, komplex, mehrdeutig — so sei die Welt eben bereits seit vielen Jahren, heißt es weithin, in hohem Maße unberechenbar. Und das die Welt durchdringende mutantenreiche Corona-Virus toppt das alles noch. Als die EU-Kommission also vor gut sechs Monaten entscheiden musste: Wie viel Impfstoff bestellen wir von welchem Hersteller zu welchem Preis, und wer haftet, wenn irgendetwas mit dieser Impfung schief geht, da wusste sie über die Impfstoffe und deren Wirkung nicht viel mehr als über das Virus, also so gut wie nichts.

Zwei Eckpfeiler gegen die VUCA-Welt

Zwei Konstanten setzte die Politik in dieser Zeit überwältigender Unsicherheiten: Wir, die EU, also 27 Staaten, kaufen erstens gemeinsam ein und zweitens hat Sicherheit Vorrang; also keine Notzulassungen wie in England. Dass beide Konstanten (kostbare) Zeit kosten, musste jedem klar sein. Denn sie bedeuten: Nach den Vorverhandlungen mit verschiedenen Herstellern wird jeder Mitgliedsstaat an jeder Entscheidung beteiligt und am Ende müssen 27 Staaten zustimmen, sonst geht gar nichts; das Einstimmigkeitsprinzip ist idiotisch, aber darüber heute zu klagen, hilft auch nicht. Wie in Medien zu lesen ist, haben vor allem die in Polen und Ungarn regierenden Populisten eine Deckelung der Finanzmittel durchgesetzt; deshalb investierte die EU `nur` knapp drei Milliarden Euro. Die Folge: Die EU hinkt im Vergleich zu weltweit drei, vier anderen Staaten — die den Pharmakonzernen die zigfache Summe bezahlten und die Stoffe nicht regulär prüften, sondern mit Notzulassungen arbeiteten — mit dem Impfen hinterher; Notzulassung bedeutet Zeitgewinn um den Preis, dass im Zweifel der Staat für alles haftet, der Produzent für nichts.

Verdammt in alle Ewigkeit

In Angesicht dieser Zwickmühlen entschied sich die EU für Sicherheit und Gemeinsamkeit, damit für etwas mehr Langsamkeit. Zurecht. Denn diese gemeinsame Entscheidung in der Not ist für die EU und ihre Zukunft vermutlich von historischer Dimension. Das kann aber auch gegenteilig gesehen werden. Nein, das ist falsch, zu Unrecht wurde Langsamkeit statt Geschwindigkeit gewählt. Ein Streit darüber lohnt.

In Deutschland jedoch verdammt seit Wochen eine Einheit aus führenden Medien und politischer Opposition — das Zwitterwesen SPD als oppositionelle Regierungspartei inklusive —, die Entscheiderinnen, namentlich Ursula von der Leyen („größter Fehlschlag ihrer Karriere“) und Angela Merkel, in Grund und Boden: Alles sei völlig schief gelaufen. Boulevardbrüllerin Bild, Hatespeech praktizierend und Fakenews produzierend lange bevor es die beiden Wörter gab, schreibt durchweg von „einem desaströsen Impfstoff-Mangel“. Und verbittet sich via Kommentar vorsorglich, dass „jegliche Kritik an der langsamen, geizigen und schlecht koordinierten Impfstoff-Beschaffung der EU“ von eben dieser EU wiederum als „Impfstoff-Nationalismus“ gebrandmarkt werde.
Die FAZ-Wirtschaftsredaktion beklagt in einem Kommentar „den todbergenden Mangel“. Der Leitartikler des Spiegel analysiert unter der Kriegswirtschaft-Headline: „Baut Fabriken!“, die EU-Kommission hätte bei allen Entscheidungen immer den worst case annehmen müssen. Alles andere sei „ebenso blauäugig wie unverständlich“. Was meint er mit worst case? Die EU-Kommission hätte, so der Leitartikler, konkret annehmen müssen, „dass immer wieder ganze Chargen mit Millionen Impfdosen ausfallen werden, sei es wegen Produktionsfehlern, weil die Rohmaterialien fehlen oder Fabriken nicht rundlaufen“. Sie hätte auch annehmen müssen, „dass die Impfstoffe nicht richtig gegen eine der vielen Virusvarianten ankommen und deswegen eine verstärkende dritte Dosis nötig wird. Oder dass die nächste Mutante einen ganz neuen Impfstoff erfordern könnte.“

Kriegswirtschaft

Wirklich schlimm, denn das alles hat die Politik nicht gemacht, aber es kommt noch schlimmer: Sie habe sich sogar darauf verlassen, „dass die Hersteller schon selbst dafür sorgen werden, riesige Industriekapazitäten aufzubauen“. Auch das hätte sie nicht tun dürfen; weshalb der Leitartikel auch mit Baut Fabriken! überschrieben ist. Ganz schön viel, was die Politik bereits vor gut sechs Monaten — als das Heute noch Zukunft hieß — hätte vorsehen sollen. 

Verglichen mit dem Spiegel bleibt Marietta Slomka, heute-journal, im Interview mit der Bundeskanzlerin sehr bescheiden: Warum denn die EU oder die Kanzlerin nicht „richtig viel Geld“ in die Hand genommen habe; die Gestik der Interviewerin spricht von ihrer  Fassungslosigkeit, Verzweiflung und signalisiert, also ich denke da schon an so 20, 30 Milliarden Euro, Sie nicht … . Lars Klingbeil, SPD-Generalsekretär, ist „fassungslos“, SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig „total enttäuscht“. Und auch Olaf Scholz, Vizekanzler, reiht sich ein: „Es hätte mehr Impfstoff bestellt werden können und müssen.“ Und als Herr über die Steuergelder teilt er mit: „Am Geld wird die schnellere Beschaffung von Impfstoff jedenfalls nicht scheitern.“

Kritiker-Nationale Slomkaspiegelbildetc

Übrigens wusste Stephan Pusch, CDU-Landrat von Heinsberg — bekannt als erste Corona-Quelle in Deutschland —, dass jeder Landwirt im Kreis Heinsberg den Impfstoff-Vertrag besser verhandelt hätte als die EU; wenn sich die Unbedeutenden in nationalen Fernsehsendungen wie „Hart aber Fair“ mit solchen Äußerungen so weit raushängen, ohne ausgelacht zu werden, dann ist klar, wie der Wind weht.

Die Kritiker-Nationale Slomkaspiegelbildetc. setzt damit eine Linie fort, an der sie sich seit Anfang des Jahres in Empörungs-Endlosschleifen entlang hangelt. Nur der grüne Bundespolitiker Konstantin von Notz mag als einer von Wenigen gar nicht mitmachen: „Der billige Impf-Populismus und Impf-Nationalismus der SPD ist unterirdisch.“

Siehe auf bruchstücke auch „Grobes Versagen der Verantwortlichen – grober Unfug der Unverantwortlichen

Was wäre wenn? Was wäre heute, wenn EU-Kommission und Kanzlerin Merkel vor Monaten alles so gemacht hätten, wie es die Kritiker mit ihrem Wissen von heute für damals verlangen? Dann hätte Deutschland sich vermutlich mit viel Geld und Notzulassungen um sich allein gekümmert. Das ist keine Unterstellung, sondern naheliegend, halten doch die genannten Kritiker der EU unaufhörlich Israel als Vorbild vor die Nase. Wenn dieser Vergleich nicht nur lächerlich sein soll — ein Bund von 27 Nationen mit 450 Millionen Einwohnern unterscheidet sich grundsätzlich von einem Land mit knapp neun Millionen —, dann hat er die Absicht zu illustrieren, wie schnell und weit ein Land alleine kommen kann. 

Impfdesaster in Zahlen

Und weil das so ist, deshalb stimmt derjenige, der auf Schnelligkeit setzt, gegen Gemeinsamkeit. Was wäre die Konsequenz? Berlin, Paris, Madrid, Athen, Rom, Sofia, Vilnius, Ljubljana, Warschau und andere hätten sich einzeln (oder in kleinen Verbünden) als Konkurrenten vor den Pharma-Konzernen um Vakzime gebalgt. Die Großen und Starken hätten abgeräumt. Die Folgen: Spannungen, Konflikte, erst-, zweit- und drittklassige Impfgesellschaften auch innerhalb der EU, Preistreibereien. Denn derjenige hätte zuerst am meisten erhalten, der den höchsten Preis und die besten Bedingungen für die Konzerne bietet; beispielsweise ein Verzicht auf Haftungsregeln. Kaja Kallas, neue Ministerpräsidentin von Estland, hat dazu in einem FAZ-Interview gesagt: „Gerade für ein kleines Land ist die Bestellung von Impfstoff über die EU von riesiger Bedeutung, auch finanziell.“

Googel-Snapshot 17. 02. 2021, 20.03h: 190.000 Treffer für „Impfdebakel“

Und worin besteht nun das Impfdesaster? Die EU-Komplett-Versager sorgten dafür, dass die EU-Staaten bereits im zweiten Quartal über insgesamt etwa 400 Millionen Impf-Dosen verfügen. Im ersten Quartal hat Deutschland gut 18 Millionen Dosen, im zweiten Quartal kommen noch einmal knapp 80 Millionen hinzu, im dritten noch einmal 126 Millionen. Und bis Ende des Jahres wird Deutschland über etwa 320 Millionen Impfdosen verfügen. Der impfnationalistischen Kritiker-Phalanx ist das zu wenig und zu spät, denn so wird das Ziel „Deutschland first“ nie und nimmer erreicht. Linn Selle, Präsidentin der „Europäischen Bewegung Deutschlands“, pariert mit dieser Zahl gegen die ärgsten EU-Kritiker: Obwohl die EU nur fünf Prozent der Weltbevölkerung repräsentiere, habe sie sich schon jetzt 25 Prozent des in diesem Jahr weltweit verfügbaren Impfstoffs gesichert; vielsagend, dass solche Raubzüge bei uns als Argument nützen, um die EU aus dem Schussfeld zu nehmen.

Geld? Nicht das Problem

Die ausschlaggebende Frage: Wäre früher deutlich mehr Geld eingesetzt worden, hätten wir dann heute in der EU und Deutschland mehr Impfstoff, ohne ihn den Israelis und England wegnehmen zu müssen? Die Antwort der Kritiker: ja. So plädiert beispielsweise die FAZ zusammen mit Ifo-Präsident Clemens Fuest für „markbasierte Anreize“. Die Idee: Die Pharmakonzerne erhalten für jede früher gelieferte Dosis noch mehr Geld, als vertraglich vereinbart.

Die Antwort der Fachleute: nein. Denn in Sachen Impfdosen leben wir für Wochen und Monate in einer Mangelwirtschaft; Politiker haben im vergangenen Herbst übrigens laut und rechtzeitig auf diesen vorhersehbaren Engpass aufmerksam gemacht, nur hörte da niemand hin, nur will sich daran niemand mehr erinnern. Mangel, wo gibt es denn so etwas, wir sind doch nicht in der DDR.

In den Tagesthemen interviewt Ingo Zamperoni den Biontech-Chef Ugur Sahin. Der sagt: Es könne da immer zu Verzögerungen und Problemen kommen, das liege in den „inhärenten“ Gesetzmäßigkeiten der Produktion, denn man betrete mit der Produktion eines neuartigen Impfstoffes Neuland, so dass auch kleine technische Probleme nennenswerte Folgen haben könnten. Es handle sich um die Massenproduktion eines höchstkomplexen Produktes mit anschließender anspruchsvollster Logistik. Zamperoni kann es fast nicht glauben: Probleme, Verzögerungen, das ist ja ein Ding … . Ugur Sahin setzt noch eins drauf: Kooperationspartner von Biontech bräuchten Monate, um ihre Hallen technisch so umzurüsten, dass sie abfüllen könnten. Genügend Geld, das sei gar nicht das Problem, so der Erfinder und Produzent.

Endlose Hinterherhinkerei!

Und der Vorstandschef des Darmstädter Pharma-Konzerns Merck, Stefan Oschmann, sagte Mitte Februar in einem FAZ-Interview: „Biontech-Vorstand Sierk Poetting hat vollkommen richtig gesagt, dass vor kurzem selbst Milliarden nichts geändert hätten. Der Prozess musste erst aufgebaut werden… .“ Und die vor allem von Merck produzierten Lipide, fettartige Moleküle, die Biontech jetzt in rauen Mengen benötigt, deren Herstellung sei übrigens „ziemlich kompliziert“, so Oschmann. Weltweit gebe es „nur ungefähr eine Handvoll Unternehmen“, die sie überhaupt produzieren könnten, in Deutschland seien es gerade zwei: Merck und der Spezialchemie-Konzern Evonik. 

Übrigens: Die Impf-Populisten haben seit ein, zwei Wochen ein neues Thema und mutieren zu Selbsttest-Populisten. In Österreich sind Selbsttests nämlich schon lange auf dem Markt, Skandal, Deutschland hinkt auch da rettungslos hinterher, Skandal. Was sie nur am Rande erwähnen oder gar nicht: In Österreich wurden weder Sicherheit noch Wirksamkeit noch  Anwendungstauglichkeit dieser Selbsttests von unabhängigen Instituten untersucht und danach vom Staat zertifiziert. Das Land verlässt sich allein auf die Angaben der Hersteller. Und: Diese Angaben werden nicht überprüft. 

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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