Ausnahmewahl: Mit Pandemie und ohne Merkel

Es reicht für SchwarzGrün unter Markus Söder und für RotRotGrün nicht einmal rechnerisch, geschweige denn politisch – “nur mal als Denkübung und nüchtern betrachtet: Wäre das nicht ein Ausgang aus der Merkel-Zeit, mit dem sich gar nicht so schlecht leben ließe”, fragt Horst Kahrs im bruchstücke-Interview, in dem er auch die Chancen für RotRotGrün analysiert. Der Sozialwissenschaftler, Jahrgang 1956, arbeitete von 1995 bis 2011 für die PDS und DIE LINKE, seit 2012 forscht und publiziert Kahrs am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Linkspartei wählt auf ihrem Parteitag am 26./ 27. Februar neue Vorsitzende.

Von Udo Brechtel, CC BY-SA 3.0/ wikimedia commons

Alle reden über Corona, dabei leben wir in einem Superwahljahr: Bundestagswahl, sechs Landtagswahlen. Mitten in einer Pandemie geht es um Leben, Tod, soziale Existenzen — haben da Diskussionen über eine andere Politik überhaupt eine Chance?

Kahrs: Selbstverständlich haben andere Themen eine Chance, gerade wegen Corona. Corona hat doch gezeigt, dass es andere Länder auf vielen Gebieten besser können und machen. Dass bei uns viele Schulen in einem wirklich schlechten Zustand sind. Dass das Fallpauschalen-System keine so gute Idee ist, wenn Krankenhäuser noch die finanzielle Kraft haben sollen, Reserven für Notfälle vorzuhalten.
Es gibt zudem Veränderungen, die weit über diese Einzelfälle hinausgehen. Ich beobachte ein neues Risiko-Bewusstsein in der Gesellschaft. Corona hat uns vor Augen geführt, dass unser vertrauter Alltag verwundbar ist, dass plötzlich alles anders sein kann. Daraus kann ein neues Bewusstsein zur Risikovorsorge entstehen. Und dieses neue Bewusstsein kann — wird es auf eine gute Weise ins politische Feld geholt — auch neue Chancen etwa in der Klimapolitik eröffnen. Es wird diejenigen geben, die schnellstens zu dem Vorigen zurückwollen. Aber es wird auch diejenigen geben, die sagen, wir müssen einiges ändern, damit uns die nächste Pandemie, der nächste Schlamassel, wie die bereits greifbare Klimakatastrophe nicht wieder so unvorbereitet und hart trifft. Das sind diejenigen, die für den Umbau zu einer resilienten Gesellschaft gewonnen werden können. 

Welcher Großkonflikt, welches Thema müsste Ihrer Meinung nach im Mittelpunkt der Wahlauseinandersetzung stehen?

Im Mittelpunkt: Sozial-ökologische Transformation

Kahrs: Es wird nicht den einen Großkonflikt geben, vielleicht als Ereignis in den Medien, die ja immer auf eine bipolare Zuspitzung angewiesen sind, um Aufmerksamkeit, Quoten und Klicks zu generieren. Klar ist, dass für alle Parteien bis auf die AfD die Rahmung gilt: Ohne Aussagen zur Klimapolitik und zur sozialen Gerechtigkeit geht nichts. Innerhalb dessen werden die Parteien sich erkennbar machen müssen. Ich sehe das Thema der sozialökologischen Transformation, das im Mittelpunkt stehen müsste. Denn nur damit können wir den Klimawandel mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in erträglichen und beherrschbaren Bahnen halten. Und dafür haben wir nur noch wenige Jahre Zeit. Deshalb muss meines Erachtens der Wahlkampf genau das zum Thema haben. Es geht nicht mehr um das Ob, sondern das Wie.

Keine Lust auf neue Abenteuer

Wie hoch sind die Chancen dafür, mitten in einer Pandemie?

Kahrs: Ich vermute, nach den Erfahrungen mit dem Pandemie-Krisenmanagement ist, gelinde gesagt, die Bereitschaft der Bevölkerung, sich auf neue Abenteuer, also auf politische Projekte mit unberechenbarem Ausgang einzulassen, nicht besonders groß. Wichtig ist deshalb, eine bedeutende Erfahrung aus der Pandemie-Bekämpfung mitzunehmen, nämlich die: Je aktiver die BürgerInnen waren, die Pandemie mit eigenen Kräften im Alltag einzudämmen, umso besser gelang das auch. Es sollten also klimapolitische Projekte in den Mittelpunkt gestellt werden, bei denen die Bürgerinnen und Bürger selbst aktiv sein können. Das heißt auch, dass die Politik Institutionen so ändert, dass diejenigen, die guten Willens sind, sich auch mehr als bisher beteiligen können.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen? Es ist doch bisher so, dass BürgerInnen aktiv sein könnten, aber dafür, abgesehen von kleinen Gruppen, keine Lust, keine Zeit, keine Energie haben. Oder nicht?

Kahrs: Ich nenne Ihnen ein Beispiel, um zu veranschaulichen, was ich meine. Wenn die industrielle Fleischproduktion als eine Ursache für die Klimaprobleme erkannt ist, dann ist die moralische Forderung, die Leute sollen nur noch ökologisch produziertes Fleisch kaufen, das meist auch noch erheblich teurer ist, klassistisch. Das heißt, dieser Appell ist für mich diskriminierend gegenüber den sozialen Schichten, die sich das nicht ohne weiteres leisten können. Überzeugend handelten Staat und Politik erst, wenn sie verbindlich diesen Appell erheben, aber zugleich den Anteil für Lebensmittel im HartzIV-Regelsatz erhöhen. Bei der Klimapolitik, bei dieser guten Sache dabei zu sein, darf keine Frage des Geldbeutels sein.

Ist RotRotGrün noch zu retten?

In welcher Stimmungslage werden am 26. September die Stimmen abgegeben werden, was zeichnet sich ab?

Kahrs: Die Pandemie wird uns bis zum Wahltag erhalten bleiben. Deshalb ist völlig offen, wie sich die emotionale Lage bis zum Ende des Sommers entwickeln wird. Wird sie sich zuspitzen, weil schon wieder der gewohnte Sommerurlaub ausfällt, weil Mütter die Doppelbelastung aus Home-office und Home-schooling über die Belastungsgrenze treibt? Was, wenn das Versprechen, dass jeder bis zum 21. September ein „Impfangebot“ erhält, nicht eingehalten werden kann? Diese Wahl findet ja nicht nur wegen der Pandemie in einer Ausnahmesituation statt. Immerhin kandidiert die Amtsinhaberin, seit gut 15 Jahren im Kanzleramt, nicht wieder. Es wird also ein Neuer ins Kanzleramt einziehen. So kann es sein, dass die Frage, ob die, die neu ins Amt wollen, es überhaupt können, alle Sachthemen dominiert.

Seit der Pandemie stehen nicht wie bisher Gewinn und Profit im Mittelpunkt, sondern die Hilfe für Menschen, mehr noch: Die wirtschaftlich besonders unnützen Alten, Kranken und Schwachen stehen im Zentrum staatlicher und gesellschaftlicher Anstrengungen. Ist das der Beginn des Aufbruchs in andere Zeiten oder nur eine kurze Unterbrechung des Bisherigen?

Kahrs: Das kommt darauf an, was die sozialen und demokratischen Kräfte daraus machen. Dass es ein Gelegenheitsfenster gibt, habe ich bereits ausreichend beschrieben.

Welche Wählerschichten müssten Linkspartei und SPD gewinnen, damit RotRotGrün noch eine Chance hat?

Kahrs: Olaf Scholz tritt an, um Kanzler zu werden. Dafür müsste die SPD stärker werden als die Grünen, was regelmäßig dazu führt, gegen die Grünen Wahlkampf zu machen. Das führt wiederum nicht dazu, dass RotRotGrün gemeinsam einer parlamentarischen Mehrheit näherkommt. Gleichzeitig ist nicht zu erkennen, dass es zwischen SPD und Linkspartei eine unausgesprochene Arbeitsteilung mit dem Ziel gibt, wir konkurrieren nicht um dieselben Wählerstimmen. Beide Parteien haben vielmehr gerade die potentiellen Wahlenthalter entdeckt. Um die werben SPD und Linkspartei, indem sie „Respekt“, „Wertschätzung“ und materielle Verbesserungen für diejenigen fordern, die „den Laden am Laufen halten“. Da liegt in der Tat auch eine richtige Chance für linke Parteien, wenn es ihnen gelingt, Produktions- und Dienstleistungsarbeiterinnen und –arbeitern für sich zu gewinnen, ohne anderswo zu verlieren. Eine Zahl verdeutlicht, welches Potenzial da liegt: Von diesen Produktions- und Dienstleistungsarbeitenden gehen bis zu 50 Prozent gar nicht zur Wahl. Das heißt: Die Nichtwähler sind in dieser Schicht die bei weitem stärkste „Partei“. Mit Konzepten zum Ausbau der sozialen Infrastruktur könnten diese und weitere Schichten eventuell gewonnen werden.

Ein gemeinsames linkes Tranformationsprojekt 

Und das Ganze endet vorhersehbar: mit einer schwarz-grünen Bundesregierung unter Kanzler Söder, der gleichermaßen Wählerinnen aus dem rechtsbürgerlichen wie dem modernen Bürgertum anzuziehen vermag. Ja oder nein?

Kahrs: Prognosen sind Prognosen, und wir haben gerade gelernt, dass es schnell anders kommen kann als erwartet. Aber nehmen wir als Denkübung mal an, Markus Söder wird wirklich Kanzlerkandidat, es reicht für SchwarzGrün und für RotRotGrün nicht einmal rechnerisch, geschweige denn politisch. Nüchtern betrachtet: Wäre das nicht ein Ausgang aus der Merkel-Zeit, mit dem sich gar nicht so schlecht leben ließe? Das alte und das moderne Bürgertum raufen sich zusammen, retten die Bienen, bringen die Energiewende voran und ringen dem deutschen Kapital etwas Nachhaltigkeit ab. Die AfD scheitert bei ihrem Versuch, die Union zu zerlegen. Vor allem: Uns bleibt ein Christian Lindner erspart, der dieses Mal lieber schlecht als gar nicht regieren will.

Und was bleibt dann noch für SPD und Linkspartei?

Kahrs: Die berappeln sich in gemeinsamer Opposition. Klären erstens die Frage, worin sie zukünftig jeweils ihre Existenzberechtigung sehen wollen. Und zum Zweiten schaffen es SPD und Linkspartei, bis zum nächsten Wahltag ein gemeinsam getragenes sozialökologisches Transformationsprojekt zu entwickeln, welches die Wählerinnen und Wähler verlockt, auf eine linksgeführte Regierung zu setzen. Das wäre doch was. So viel aus meinem Sandkasten.

Von Petruz – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=63278533

Wahltermine

Den Auftakt der Bundesländer bilden am 14. März Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. In Hessen finden an diesem Tag Kommunalwahlen statt.
Am 6. Juni ist Wahltag in Sachsen-Anhalt.
Am 12. September finden in Niedersachsen Kommunalwahlen statt.
Am 26. September stehen die Entscheidungen über die Zusammensetzung des Bundestages sowie der Landesparlamente in Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Berlin an.

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Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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