Ist jemandem der Name Arturo Di Modica vertraut? Wohl kaum. Millionen kennen aber sein berühmtestes Werk: den Wall-Street-Bullen, die überlebensgroße Skulptur eines angriffsbereiten Hörnerviechs, „Charging Bull“ genannt. Sie steht in einem kleinen New Yorker Park, von dem aus der Broadway startet. Nach dem Willen des Schöpfers, einem italienischstämmigen Bildhauer, der 40 Jahre in den USA gelebt hatte und im Februar 2021 im Alter von 80 Jahren gestorben ist – nebenbei Anlass zu diesem Text –, sollte die symbolträchtige, dreieinhalb Tonnen schwere Bronze eigentlich auf der Wall Street vor der New York Stock Exchange stehen. Im Park hatte der Bulle eine Zeit lang einen Widerpart, das „fearless girl“.
Börsen-Spiele, Teil 1
In die Wall Street hatte Arturo Di Modica den Bullen 1989 mit Hilfe etlicher Freunde – ganz ohne offiziellen Auftrag und ganz unentgeltlich – verbracht. Das Börsenmanagement war, auch wegen der dramatisch-bösen Pose des Hörnerviechs, not amused und ließ sie entfernen. Eine sehr kurzsichtige Maßnahme; man hatte den möglichen Imagewert nicht erkannt. Arturo Di Modica profitierte Jahrzehnte von seinem werbewirksamen Coup. Replikas des bildhauerisch belanglosen Stiers gab und gibt es zuhauf, goldglänzend, silbrig glänzend, changierend, leicht mattiert – allesamt in der vertrauten Pose des amerikanischen Ur-Bullen. Wiedererkennbarkeit ist bekanntlich notwendig für Kitsch und günstig für finanziellen Erfolg.
Was hat der Herr noch gemacht? Sehr dynamisch brüllende Löwen. Sehr dramatisch überlebensgroß in den Himmel greifende Hände. Wiederum sehr dynamisch sich in den eigenen Schwanz beißende Pferde. Oder Pferde, die augenscheinlich einen Schlangentierkursus erfolgreich absolviert haben. Hyperdramatisch ein gigantischer Adler, der seine Klauen in den Rücken einer nackten Frau schlägt, deren Hinterteil nicht ganz unlasziv dem Betrachter entgegengereckt wird. (Verworfen sei, der darin etwas Unkünstlerisches sehen mag.)
Es gibt auch Abstraktes in der harmlos-geglätteten, hochglanzpolierten Manier von überdimensionierten Schmeichelsteinen aus Metallen. Ästhetisch versierte Beschreibungen nutzen dann das Wörtchen „biomorph“. Zu sehen sind aber beliebig wirkende Derivate von Werken der 1920er- bis 1950er-Jahre aus dem Umkreis von Hans Arp. Das ist heute gefällig und wird es auch morgen noch sein. Der Bulle in New York wird daher noch sehr lange begehrtes Foto- und Streichelobjekt für Millionen von New-York-Besuchern sein. Der Name des Schöpfers wird unbekannt bleiben.
Damit widerfährt ihm das gleiche Schicksal wie Reinhard Dachlauer. Der hatte – ganz offiziell und gut bezahlt – 1985, also vier Jahre vor dem New Yorker Bullen-Coup den Auftrag erhalten, eine Skulptur für die Frankfurter Börse zu gestalten. Heraus kamen „Bulle und Bär“. Diese Figuren werden ebenfalls gerne fotografiert. Sind aber dennoch klar, knapp, kraftvoll, ohne dynamisch-energetischen Affektstau im Bronzekorpus. Also kein Kitsch. Wer sich ein wenig trainieren will, mag also New York und Frankfurt vergleichen. Ein Detail: Der italo-amerikanische Bulle schaut wütend mit gerunzelten Brauen. Das ist Comic-Expressionismus. Selbst wütende Stiere schauen nicht wütend. Das hätten nur manche Betrachter gerne so.
Börsen-Spiele, Teil 2
Der Bulle aus New York hatte eine Zeit lang einen Widerpart: die naturalistisch-lebensgroße Figur eines vielleicht sieben- oder achtjährigen Mädchens. „Fearless girl“ ist das Werk der aus Uruguay stammenden amerikanischen Bildhauerin Kristen Visbal. Aufgestellt wurde die Figur anlässlich des Internationalen Frauentages im März 2017. Zu sehen ist ein trotzig die Arme in die Seiten stützendes Mädchen mit hoch gerecktem Kopf. Auf einer Plakette neben der Figur ist zu lesen: „Know the power of women in leadership. SHE makes a difference.“ („Lerne die Macht von Frauen in Führungspositionen kennen. SIE macht den Unterschied.“) Die Figur posierte in einer Art Konfrontationshaltung gegenüber dem Bullen des Herrn Di Modica. Sie sollte dort zunächst nur einen Monat stehen. Sie war aber binnen kürzester Zeit eine Touristenattraktion. So wurde vom Bürgermeister eine Verlängerung verordnet. Forsche Frauenrechtlerinnen forderten gar eine dauerhafte Platzierung.
Woher aber kam die Massensympathien erweckende Statue? Auftraggeber war State Street Global Advisors, der drittgrößte Vermögensverwalter der Welt. Und die Idee stammte von der Werbeagentur McCann in New York. Die wiederum pflegte ein frauenfreundliches Image durch einen alljährlichen Index zum Anteil weiblicher Führungskräfte in US-Unternehmen. Das passte so marketingmäßig perfekt zusammen, dass die New York Times von „falschem Feminismus“ schrieb. (Bei den beteiligten Unternehmen lag die Frauenquote nebenbei dramatisch niedrig.)
Skurrile Dimensionen nahm der Konflikt dann durch den Schöpfer des Bullen an. Der schien ja nun zu einem dialogischen Ensemble zu gehören. Was Herrn Di Modica nicht passte. Sein Bulle habe „Freiheit, Frieden, Kraft und Liebe“ ausstrahlen wollen. Nun sei er erzwungener Part einer Konfrontation. Er habe nichts gegen Gleichstellungsforderungen, aber schon gegen eine solche Eingemeindung, die sein Urheberrecht verletze. Niemand fand diese Argumentation bedenklich, obwohl Di Monica ursprünglich seine Skulptur als Mahnmal gegen ungezügelten Finanzkapitalismus hatte verstanden sehen wollen. Nur wenigen fiel dieser hoch pragmatische Deutungswandel auf.
Zu guter Letzt wich das furchtlose Mädchen. Es bekam seinen eigenen Platz, diesmal prominent vor der Börse. So trotzt nun sie dem Finanzkapitalismus. Oder fordert sie einen Vorstandsjob in der Börse? Man weiß es nicht. Stellungswechsel könnte man das Skulpturen-Spiel nennen. Dabei hätten die beiden so gut zusammengepasst.
Kristen Visbal, die Schöpferin des Mädels, hat schließlich noch einiges mehr an Kitschpotenzial zu bieten als Herr Di Modica. Von ihr finden sich über die USA verteilt faszinierende Stücke: So die Statue eines jungen Mannes, der auf einem Delfin reitet, die Bronze einer Meerjungfrau mit zwei Delfinen. Oder eine Gruppe von gleich zehn Skulpturen, die supernaturalistisch und auch extrem gestenstark bekannte Footballtrainer verkörpern.
All diese Aufträge seien der durchaus erfolgreichen Künstlerin gegönnt. Mit etwas Distanz sollte man aber ein bedenkliches Gewebe von simulierten „guten“ Botschaften, Marketinginteressen, Tourismus-Gefälligkeit und Verschwendung öffentlicher Gelder erkennen. Wenn jemand Interesse daran hätte. Was dazu nur schlusswortförmig einfällt, ist die bis zur gutmenschelnden Kitschigkeit ausgelutschte Adorno-Sentenz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Wie gut, dass auch damit etwas nicht stimmt.