Mein Europa

Camillo Felgen und die strengen Schiedsrichter beim Spiel Ohne Grenzen
(Foto: WDR Mediathek)

Vor richtigen Schiedsrichtern sind alle Europäer gleich. Die ersten Erfahrungen mit europäischer Integration habe ich Mitte der 60er Jahre gemacht, an Samstagnachmittagen, am Schwarzweißfernseher. Dort moderierten der Luxemburger Camillo Felgen und der Deutsche Frank Elstner das Spiel ohne Grenzen, eine Spielshow, in der europäische Städte zunächst auf nationaler, dann europäischer Ebene in groß angelegten Geschicklichkeitswettbewerben gegeneinander antraten. Die Teilnehmer*innen waren grotesk kostümiert, mit überdimensionalen Masken, wie von tschechischen Animationsfilmern inszeniert. Sie mussten hüpfen, rennen, klettern, über glitschige Rampen auf- und absteigen, sich über Wasserbecken hangeln. Und sie scheiterten, scheiterten, scheiterten, immer wieder. Sie rutschten aus, fielen von der Stange, auf vorbereitete Luftkissen oder ins Wasser, bis irgendwann ein Team mit mehr Glück als Geschick die gestellte Aufgabe erfüllte. Dann ging der Moderator aufs Spielfeld, half einer atemlosen Teilnehmerin aus ihrem monumentalen Kostüm, holte sich eine erste Reaktion und gratulierte oder tröstete.

Spiel ohne Grenzen war ein chaotisches und fröhliches Spektakel, voll Emotionen und guten Willens – eine Rückkehr fast zu jenem Nullpunkt, an dem sportlicher Wettbewerb und Karneval noch ununterscheidbar sind, so wie es wahrscheinlich auch beim Fußball einmal war, als die Dorfjugend den Ball durch die Gassen ihres Ortes trieb, noch bevor es Spielfelder und Abseitsregeln gab. Ein paar Jahre später widmete der Brite Peter Gabriel in seinem dritten Soloalbum der Show den Titel „Games Without Frontiers“ und veröffentlichte davon auch eine deutsche Version. Für unsere Generation waren diese Spiele damals ein erster naiv-kindlicher, freundlicher Sonnenstrahl vor dem Hintergrund der düsteren Erinnerungen unserer Eltern an einen anderen, bittereren europäischen Schauplatz.


Einige Jahre später, im Spätsommer 1974, war ich wieder einmal mit Interrail, dem europäischen Jugendticket, unterwegs, diesmal allein mit dem Ziel iberische Halbinsel. Nach einem Fehlstart in Italien und Frankreich: Scheißwetter, akute Depressionen, einsame GoCart-Exzesse auf einem gottverlassenen Rummelplatz in Sète. Eine eiskalte Nacht in Port Bou, Zeltaufbau in kompletter Finsternis auf einem felsigen Areal, während mir der Sturm um die Ohren pfiff. Das war der Beginn von Phase 2.

Denn dann kam Valencia. Und die Sonne. Und El Saler. An die Stierkampf-Arena am Hauptbahnhof erinnere ich mich. Und an zwei junge Schweizer, die ich im Zug getroffen hatte: lange Haare, cool und freundlich, ein bisschen älter als ich. Und gut versorgt, wie sich später herausstellte.

“Komm, lass uns zusammen ein Appartement am Strand nehmen. Dann finden sich sicher auch ein paar Mädchen!” Bus nach El Saler, ein paar exorbitant stinkende Rucksacktouristen auf der Nachbarbank. Das Appartement war schnell gefunden, wir packten unsere Sachen aus, die beiden Schweizer hatten so ein merkwürdiges Plastiktütchen dabei, grünbraunes Zeug drin. Gehört hatte ich ja schon davon, aber, muss ich gestehen, gesehen hatte ich sowas noch nie.

“Willst du auch?” – “Um Gottes willen, nein, äh, weiß nicht.” – “Na los, da passiert dir nix.” Stimmte auch, ich habe nichts gemerkt. Nur die Ornamente an der Decke hatten es mir auf einmal angetan. Ich wollte gar nicht mehr weg, so spannend fand ich die.

Dann wollten die Jungs an den Strand. Raus aus der Wohnung, die Treppe runter, auf die Straße. Und nun, wo geht’s lang? “Da durch!” – eine Passage linkerhand, Sonnenlicht auf der anderen Seite. Und plötzlich finden wir uns in der guten Stube einer spanischen Familie wieder. Mann, Frau, Kind, Großmutter… Drei idiotisch grinsende junge Männer stehen in einem fremden Wohnzimmer und grüßen verlegen ihre ziemlich perplex dreinschauenden unfreiwilligen Gastgeber.

“Na, dann gehn wir mal wieder.” Nix wie raus, der Sonne entgegen und dem Strand. Was lassen die auch alle Türen offenstehen.

Mein erster Joint, in Francos Spanien.


Spanien war damals noch nicht Mitglied der Europäischen Gemeinschaft, dieses Privileg mussten sich die südeuropäischen Länder Griechenland, Spanien und Portugal erst verdienen, indem sie ihre Diktaturen abschüttelten. Aber das Interrail-Projekt verfolgte bereits sein ganz eigenes europäisches Erweiterungsprogramm.

Ein paar Freunde und ich waren von Anfang an dabei gewesen. 1972 konnte man das kleine Ticket-Büchlein für ganze 235 DM erwerben. Wir waren damals 15 und 16 Jahre alt und hatten uns gleich Großes vorgenommen. Wir ließen uns in einem Reisebüro über den vorgesehenen Geltungsbereich hinaus Anschlusstickets für Bulgarien und die Türkei und ein Fährticket von Patras nach Brindisi ausstellen und starteten Ende Juli mit der geplanten Route Hamburg -> Belgrad -> Sofia -> Istanbul -> Athen -> Rom -> Venedig -> Nizza -> Paris -> Amsterdam -> Hamburg.

Interrail: Jede Strecke wurde von Hand von uns Reisenden in dieses Büchlein europäischer Vereinigung eingetragen und dann von den Kontrolleur*innen gelocht oder abgestempelt.
(Foto: Wikimedia Commons)

Von Geschichte hatten wir wenig Ahnung, unsere Vorbereitungen hatten sich im Wesentlichen darauf beschränkt, ein paar Reiseführer in der örtlichen Bücherhalle zu studieren. So wurden wir unerwartet mit harter europäischer Nachkriegswirklichkeit konfrontiert, als sich der erträumte Express Istanbul – Thessaloniki als ein Güterzug an einem schlecht beleuchteten Nebengleis am Istanbuler Hauptbahnhof herausstellte, an den man einen einzelnen, uralten Personenwagen angehängt hatte. Der entließ uns nach stundenlanger Fahrt in gefühltem Schritttempo an seiner Endstation an der türkisch-griechischen Grenze. Wir mussten zu Fuß an streunenden Hühnern vorbei auf einer Brücke über den Grenzfluss wandern, um dann dort nach längerem Warten in einen deutlich moderneren griechischen Nahverkehrszug umzusteigen.

In Athen herrschten 1972 die Militärs, die Türkei hatte gerade einen Militärputsch hinter sich, immer noch gab es in Istanbul abends Sperrstunde, gepanzerte Fahrzeuge patrouillierten in beiden Metropolen auf den Straßen. Die europäische Wirklichkeit, die wir uns in den Zügen des Internationalen Eisenbahnverbands erschlossen, war komplexer und stärker von den gewalttätigen Auswirkungen europäischer Geschichte geprägt, als wir geahnt hatten. Aber ebenso wie das Spiel ohne Grenzen wies Interrail darüber hinaus, auf die Möglichkeit eines anderen, aufgeschlosseneren und friedlicheren Kontinents. Um Geld zu sparen schliefen wir, wenn es ging, statt in Jugendherbergen oder Hotels, in den Abteilen oder auf den Gängen der Züge. In unserer engen, unbequemen Notgemeinschaft mit lokalen Reisenden und anderen Rucksacktouristen bildeten wir einen positiven Nachhall jener Flüchtlingsströme, die noch 25-30 Jahre zuvor diese Strecken genommen hatten.


Wieder knappe zwanzig Jahre später sollten uns alle dann die Balkankriege noch einmal heftig aus dem Traum europäischer Konsolidierung aufschrecken. Für mich persönlich gab es darüber hinaus noch eine besondere Begebenheit, die mich an das eisige Klima zwischen der Türkei und Griechenland erinnerte, das wir im Sommer 1972 kennengelernt hatten. Im August 1996, wenige Tage vor meinem 40. Geburtstag, saß ich als frischgebackener Journalist im Aufenthaltsraum der Redaktion von SPIEGEL TV. Der Fernseher zeigte einen unmoderierten Newsfeed. Es waren Menschen zu sehen, die sich in einem mediterran anmutenden Land an einer Grenzanlage versammelt hatten. Es war eine irgendwie unruhige Zusammenrottung, ein junger Mann kletterte auf einen Fahnenmast. Dann fielen mehrere Schüsse, und der Mann rutschte getroffen vom Mast.

Der tödlich verletzte Solomos Solomou am 14. August 1996 an der innerzypriotischen Demarkationslinie
(Foto: Wikimedia Commons)

Ich musste ein paar Stunden auf die Erklärung warten: Das Video zeigte die Demarkationslinie zwischen dem griechischen und türkisch besetzten Teil von Zypern. Der junger Grieche Solomos Solomou, dessen Cousin Tassos Isaac wenige Tage zuvor von einer Bande türkischer Grauer Wölfe zu Tode geprügelt worden war, hatte versucht, eine dort gehisste türkische Flagge einzuholen. Er wurde mit fünf Schüssen von zwei Soldaten getötet, die später als der Landwirtschaftsminister und ein Milizenchef des nordzyprisch-türkischen Pseudostaates identifiziert wurden.


Mein Europa ist ein Schlachtfeld gewesen. Es war Schauplatz von Diktatur und Gewaltherrschaft, von Krieg, Genozid und Vertreibung. Natürlich nicht immer und andauernd, aber immer wieder, und gerade in der jüngsten Vergangenheit, zu Lebzeiten meiner Eltern, und auch noch zu meiner Lebzeit. Generation für Generation entfernen wir uns immer weiter von dieser historischen Erfahrung oder marginalisieren sie als Geschehen an der europäischen Peripherie. Aber diese Geschichte und diese Peripherie sind uns näher, als wir denken.

Mein Europa streitet sich weiter, es streitet sich jetzt vor allem um Wege zu gemeinsamen politischen Entscheidungen, zu einem gemeinsamen Handeln, zu einer gemeinsamen Wohlstandsordnung, einer gemeinsamen Krisenbewältigung. Dieser Streit ist anstrengend und oft lästig, aber er verdient keinen Überdruß. Er verdient weiterhin unser aller leidenschaftliches Engagement.

Wir laden Sie herzlich dazu ein, Ihre Perspektive, Ihre Geschichte zum Thema Europa hier auf unseren Seiten beizusteuern. Benutzen Sie dazu einfach das Kommentarfeld unter diesem Artikel oder schicken Sie uns Ihren Beitrag per Mail an offene-frage@bruchstuecke.info. Kommentare können mit Markdown formatiert werden.

Lorenz Lorenz-Meyer
Lorenz Lorenz-Meyer ist seit 2004 Professor für Onlinejournalismus an der Hochschule Darmstadt. Nach seiner philosophischen Promotion an der Uni Hamburg arbeitete er von 1996 bis 2001 als Redakteur bei Spiegel Online und Zeit Online. Im Anschluss war er Internetberater für die Bundeszentrale für politische Bildung und die Deutsche Welle.

3 Kommentare

  1. SPIELE MIT GRENZEN

    Ich teile mit dem Autor die Kindheits-TV-Erfahrung von „Spiel ohne Grenzen“. Es war lustig. Fernsehen „für die ganze Familie“. Zugleich ein Vorgriff auf die Evolution von Spaßkultur, die aber eher als trans-europäisches Phänomen betrachtet werden sollte. Der Euro-Level, den deutsche TV-Zuschauer in den 1960er-Jahren sahen, war ein Zufallseffekt medialer Tunnel-Wahrnehmung. Die Show wurde in Frankreich als Stadt-Competition erfunden, war erfolgreich, andere Länder imitierten. Der Euro-Kampf ein naheliegender Verwertungsschritt. Transnationale Medien-Effizienz sozusagen. Und eine Ebene höher gab es noch globalere Runden, wie ich auch erst heute recherchierend erfuhr.

    EUROPA TO GO

    Ich teile auch die Interrail-Reminiszenzen des Autors. Ein paar andere Länder, Mädchen, Drogen, aber sonst eben Interrail. Komfort-Trampen. Aber Europa-Erfahrung? Eher punktuelle Landeskultur-Differenzierung. Die erste To-go-Pizza (labberig, aber exotisch) am hässlichen römischen Hauptbahnhof Ostia. Ein Jahr später Sangria an der Costa Dorada und irgendein belgisches Bier (vergessen) in günstigen 1-Liter-Flaschen. Produkte, die es (noch) in Deutschland nicht gab, daher eminent reizvoll. Selbst die belgisch-niederländischen Pommes waren bis in die 1960er hinein nur eine Wochenendausflugserfahrung.

    KÜHLSCHRANK-EU

    Und jetzt? Italienische Sauce, türkisches Ajvar, dänisches Starkbier (7,5 %), französischer Senf im Kühlschrank. Europa ist präsent, aber unsichtbar. Ein Zufalls-Remix von Geschmacksoptionen. Nicht einmal Paneuropa-Standardisierung, dazu gibt es viel zu viele Marken, aus denen individuelle Genuss-Profile rekombiniert werden können. Neue Sicherheiten drücken sich in permanenten Verfügbarkeiten aus. Aber das soll keine Konsumismus-Kritik im altbackenen Sixties-Style werden. Es ist komfortabel, wenn Lieferketten halten, weil Grenzen durchlässig sind. Alltagsrelevanter in meiner Nahfeld-Umgebung aber das chinesische Smartphone, der koreanische Großbildfernseher, der japanische Laptop.

    GRENZSCHARMÜTZEL

    War „mein“ Europa ein Schlachtfeld? Nein, nur das meiner Eltern. Der Jugoslawien-Krieg war schon ein Medieneffekt; zu Kriegstourismus habe ich nie geneigt. Kriege sind intern und an den Grenzen der EU Wirtschafts-Scharmützel. Mit denen wird es kein Ende nehmen. Grenzen müssen weiter inszeniert werden, durch Drohungen, Manöver, diplomatische Schachzüge. Sehr frisch: „Ankara hat mit einer Verbalnote Griechenland, Israel und die EU davor gewarnt, eine Stromverbindung zwischen Israel und Griechenland auf dem Boden des östlichen Mittelmeers ohne Genehmigung oder Information der Türkei herzustellen.“ (Österreichisches Industriemagazin von 16.3.) Es gibt also Grenzen. Es sollte sie weiterhin geben, wenn so mit ihnen umgegangen wird.

  2. Ich habe das Interrail-Angebot der Deutschen Bahn nie genutzt, weshalb ich Eure Schilderungen mit großem Interesse gelesen habe. „Spiel ohne Grenzen“ hatte ich vergessen. Mir war eher präsent: Nelken-Revolution in Portugal, französische Filme/Chansons.
    Viel mehr Europa brachten jedoch in mein Leben: die frühen „Gastarbeiter“ in meinem kleinen Herkunftsort, eine Mitschülerin aus Italien, Ende der 1960er Jahre ein Ereignis, Arbeiter aus Serbien und Kroatien und deren politische (auch gewalttätige) Auseinandersetzungen auch in kleinen Städten, die lange Militärdiktatur in Griechenland als Thema von Solidaritätsaktionen. Europa kam also in meinen Alltag. Von der Erweiterung des Gastronomie-Angebotes ganz zu schweigen.
    Was mir einfällt zu heute: Wenn ich Nachrichten auf Arte oder ZIB2 (Österreich) anschaue, da gibt es wesentlich andere Perspektiven, Schwerpunkte und Macharten als bei uns. Wie könnte eine Medienöffentlichkeit organisiert werden, die diese gravierenden Unterschiede (nutzerkomfortabel!) wenigstens in Teilen abbildet? Denn diese Unterschiede sind spannend und zu meiner Überraschung oft gravierend.

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