„Indianerhäuptling“ – ein schändlich diskriminierender Ausdruck?

Bild: Openclipart

„Das Überziehen des Richtigen kann zum Falschen führen!“ ist der Titel eines Aufrufs, der im linken und grünen Spektrum kursiert und sich gegen eine Tendenz richtet, die einen Höhepunkt auf dem kürzlichen Parteitag der Berliner Grünen hatte. Deren Bürgermeisterkandidatin Bettina Jarasch hatte von ihrem Kindheitswunsch „Indianerhäuptling“ gesprochen. Dies löste eine Empörungswelle bei einem Teil der Grünen aus. „Indianer“ sei ein diskriminierender, migrantenfeindlicher Ausdruck. Wie reagierte Bettina Jarasch?  Sie entschuldigte sich zutiefst für ihre Formulierung und gelobte Besserung. Das erinnert an stalinistische Unterwerfungs-Rituale.

Zuvor wurde Wolfgang Thierse, Sozialdemokrat und ehemaliger Bundestagspräsident, auf zum Teil üble Weise von eigenen Genossinnen und Genossen attackiert – wegen seiner Warnung vor zu viel Betonung diverser Unterschiede und wegen seines Plädoyers für das gesamtgesellschaftlich Gemeinsame. Eine Erklärung der Parteivorsitzenden Saskia Esken und des Vize Kevin Kühnert, sie schämten sich für solche Mitglieder, setzte dem Ganzen die Krone auf. Thierse sah sich angesprochen und reagierte zurecht empört.

Gleichzeitig läuft an vielen Orten in Deutschland eine Kampagne zur Säuberung von Straßennamen (weit über durchaus berechtigte Einzelfälle hinaus).  Kinderbücher wie „Pippi Langstrumpf“ sollen umgeschrieben werden. Tendenzen, die immer mehr an die von totalitären Diktaturen erinnern: An den Versuch nämlich, Vergangenheit umzuschreiben. Dazu passt die häufig autoritäre Tendenz der Durchsetzung: Ohne Diskussionen, ohne Pro-und-Contra. Nur eine Meinung ist die korrekte.

Bisher haben viele Menschen aus dem linken, linksliberalen und grünen Spektrum trotz wachsenden Unbehagens geschwiegen. Denn Sensibilisierung ist zum Beispiel auch nach Ansicht der Unterzeichner und Unterzeichnerinnen des Aufufs richtig ebenso wie kritisches Bewusstsein gegenüber europäischen Selbstverständlichkeiten. Inzwischen aber wird von vielen die Kritik als maßlos und freiheitsfeindlich empfunden.  – Darum ist die Zeit zu schweigen vorbei. Auch weil der Versuch, gegen 80% der Bevölkerung Politik zu machen, genau die gefährlichen Spaltungstendenzen befeuert, die Trump ins Weiße Haus gespült haben.

Ausdrücklich betont der Aufruf: „Wir wenden uns gerade nicht gegen minderheitengerechte, emanzipatorische, postkolonialistische Grundansätze, sondern ihre Pervertierung ins Gegenteil!“ Und es wird die Alternative genannt:

„Das Verbindend-Gemeinsame suchen – die Vielfalt achten und respektieren! Benachteiligung, Diskriminierung und Ausgrenzung lassen sich eben nicht durch rituelle Aufwertungsbekundungen, Sprachvorschriften und Sonderrechte  überwinden. Auch Quoten sind nur als Übergangsinstrument zum Aufbrechen besonders verkrusteter Strukturen akzeptabel. Welche Herkunft, Hautfarbe, private Religion, sexuelle Orientierung oder welches Geschlecht jemand hat, darf keine Bedeutung für den Anspruch auf Respekt als Mensch und für die Anerkennung als Staatsbürgerin und Staatsbürger haben. Und auf der anderen Seite hat jeder Mensch mit diesem Anspruch auch die Verpflichtung, sich nach dem Gegenseitigkeitsprinzip so zu verhalten, wie er oder sie es von anderen verlangt – ohne dabei Ausnahmen auf Grund von Diversität verlangen zu können.“

Stand Ende März haben 80 Menschen aus dem Grünen- und SPD-Spektrum diesen Aufruf unterschrieben, der hier aufgerufen werden kann und im Folgenden auf bruchstücke dokumentiert wird. Er wird demnächst breit veröffentlicht werden. Wobei es den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern nicht um das einzelne Wort oder die optimale Formulierung geht, sondern darum, endlich das notwendige Zeichen zum Widerspruch und zur Eröffnung einer breiten und fairen Debatte zu setzen!

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Der Aufruf im Wortlaut

Das Überziehen des Richtigen kann zum Falschen führen!
Für ökologische und soziale Veränderungen ohne identitären Fundamentalismus!

Wir, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieses Positionspapiers, verstehen uns als kritisch-fortschrittliche, weltoffene und ökologisch orientierte Menschen. Wir setzen uns für tiefgreifende ökologische und soziale Veränderungen in unserer Gesellschaft ein. Wir wollen diese aber ohne identitären Fundamentalismus!

Wir wollen mit diesem Positionspapier:

• deutlich machen, dass es viele Menschen des „linken, grünen und liberalen Spektrums“ gibt, die große Bedenken gegenüber zentralen Elementen der Diversitäts-Orientierung haben, wie sie jetzt mit den Angriffen auf Wolfgang Thierse eine Zuspitzung gefunden hat.

• davor warnen, dass oft gut gemeinte Positionen durch Übertreibung ins Falsche kippen und damit die Glaubwürdigkeit der nach wie vor richtigen und wichtigen Grundpositionen beschädigen. Es ist richtig und wichtig Rassismus und Diskriminierung entschieden entgegenzutreten. Unsere Kritik ist aber, dass die Identitätspolitik umschlägt in Selbstgerechtigkeit, Selbsterhöhung und neue Denkverbote, wie es zur zeit im Namen der „Diversity“ und des Postkolonialismus geschieht. Dieses ist in unseren Augen ein Angriff auf die Freiheit.

• darauf aufmerksam machen, dass der identitäre Fundamentalismus rechte, rassistische und reaktionäre Tendenzen nur scheinbar bekämpft, sie tatsächlich jedoch erst recht befeuert und am Ende auf den gleichen Denkmustern beruht. Die Tatsache, dass sich junge Rechtsextremisten in ganz Europa als Identitäre bezeichnen ist kein Zufall.

• uns für die Freiheit von Wissenschaft, Lehre, Kunst und für eine Kultur des offenen Dialogs einsetzen, in dem auf faire Weise unterschiedliche Meinungen, auf der Grundlage unterschiedlicher (Er-)Kenntnisse, repressionsfrei geäußert und ausgetauscht werden können – den höflichen und respektvollen Umgang aller vorausgesetzt.

Viele von uns haben offensiv Partei ergriffen gegen etablierte Funktionsträger mit zum Teil schlimmer Nazi-Vergangenheit. Wir haben uns gegen europäischen Überlegenheitsdünkel und das rassistische Apartheidsystem in Südafrika gewandt, gegen die Diskriminierung und Kriminalisierung von Schwulen und auch die Männer unter uns haben sich für die Überwindung patriarchaler Strukturen eingesetzt, die nicht nur Frauen, sondern in zweiter Linie auch Männer durch Erwartungshaltungen und Rollenzuschreibungen unterdrücken.

Wir wenden uns gerade nicht gegen minderheitengerechte, emanzipatorische, postkolonialistische Grundansätze, sondern ihre Pervertierung ins Gegenteil! Das geschieht, wenn

• den Ländern in Afrika und Asien die Fähigkeit abgesprochen wird, aus eigener Kraft ihre Situation zu verbessern und – statt dem richtigen Hinweis auf europäische (Mit-)Verantwortung – den weißen Bevölkerungen bzw. den europäischen Staaten die Alleinschuld an den Missständen zugewiesen wird. Dies führt gerade nicht zu einem gleichberechtigten Miteinander, wo auf Augenhöhe an der Verbesserung der Situation gearbeitet wird, sondern hält diese Länder in einer Opferrolle und ignoriert zudem die Entwicklungssprünge in einigen dieser außereuropäischen Gesellschaften.

• hieraus jede Form von Immigration – unabhängig von den Gründen –gleichgesetzt wird und legitime Forderungen an Migranten und Migrantinnen als Fortsetzung weißer Herrschaft diffamiert werden.

• Sprach- und Artikulationsvorschriften eingeführt werden sollen, die sich vor allem auf Spaltung und Unterordnung anstatt auf Diskurs stützen. Damit findet das Gegenteil von dem statt, wofür von den fortschrittlichen Bewegungen seit Jahrzehnten gekämpft wurde – nämlich für den aufrechten Gang emanzipierter Menschen. Solche Konstruktionen lehnen wir ab!

Das Verbindend-Gemeinsame suchen – die Vielfalt achten und respektieren!

Unserer Auffassung nach lassen sich Benachteiligung, Diskriminierung und Ausgrenzung nicht durch rituelle Aufwertungsbekundungen, Sprachvorschriften und Sonderrechte überwinden. Auch Quoten sind nur als Übergangsinstrument zum Aufbrechen besonders verkrusteter Strukturen akzeptabel. Welche Herkunft, Hautfarbe, private Religion, sexuelle Orientierung oder welches Geschlecht jemand hat, darf keine Bedeutung für den Anspruch auf Respekt als Mensch und Anerkennung als Staatsbürgerin und Staatsbürger haben. Und auf der anderen Seite hat jeder Mensch mit diesem Anspruch auch die Verpflichtung, sich nach dem Gegenseitigkeitsprinzip so zu verhalten, wie er oder sie es von anderen verlangt – ohne dabei Ausnahmen auf Grund von Diversität verlangen zu können. 

Durchsetzungsfähig ist ein gesamtgesellschaftlicher Konsens, dass jede Person nach ihrem Verhalten, dem Bemühen um Mitmenschlichkeit und Rücksicht wertgeschätzt wird. Ein solcher Maßstab ermutigt gerade im Zweifelsfall zu sozialem Verhalten. Die Kultivierung eines Opferstatus jedoch, führt zum genauen Gegenteil.

Überwindung von gesellschaftlicher Spaltung fordert Suche nach Gemeinsamkeit!

Die extreme Polarisierung in den USA mit den dramatischen Schlussereignissen der Ära Trump und das Ausmaß rechtspopulistischer Wahlerfolge in Europa – weit über die alten rechtsextremen Spektren hinaus – zeigt die Gefährlichkeit der Situation. Wer in ihr von linker Seite noch zusätzlich die kulturelle Polarisierung anheizt, übernimmt Mitverantwortung und mögliche Mitschuld am Zustandekommen auch unbeabsichtigter Wirkungen eigenen Handelns.

Bei menschenfeindlichen Aussagen – von wem auch immer – halten wir deutlichen Widerspruch nicht nur für berechtigt, sondern sogar für verpflichtend. Diese Verpflichtung zur Verurteilung von konkreten Grenzüberschreitungen ist aber kein Freibrief zu Selbstgerechtigkeit und zum unfairen Umgang mit Menschen, die abweichende Ansichten oder kritische Fragen haben, die nicht ins eigene Konzept passen. Im Gegenteil: Es gibt unserer Ansicht nach eine Verpflichtung zur fairen Auseinandersetzung, wenn sich das Gegenüber diskursiv verhält.

Aufruf zur fairen Debatte an die anderen, aber auch an uns selbst!

Mit Freunden gemeinsame Überzeugungen auszutauschen, ist keine Kunst! Schwierig hingegen ist die Fähigkeit zur fairen Debatte über kontroverse Themen und mit Menschen, die einem nicht liegen! Dies ist aber eine Kernkompetenz freiheitlicher Gesellschaften. Sie wird umso wichtiger, je mehr sich die Gesellschaft polarisiert.

Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner laden zum Diskurs ein. Wir rufen dazu auf, in den jeweiligen, linken, grünen und liberalen Zusammenhängen die faire Diskussion zu suchen, genauso, wie mit diskussionsbereiten Menschen aus dem konservativen Spektrum.

Dabei beinhaltet die Unterzeichnung dieses Positionspapiers die Selbstverpflichtung sich um Fairness zu bemühen. Sowohl in der Diskussion unter uns als auch mit anderen. Dazu gehört die Bereitschaft, genau zuzuhören, zunächst einmal nach grundsätzlichen Gemeinsamkeiten zu suchen und die Unterschiede möglichst sachlich zu formulieren. Hohe Attraktivität haben die Orte, wo eine faire Diskussion stattfinden kann. Und Macht im guten Sinne können wir entfalten, wenn bei uns das geschieht, was in vielen Parteien und Organisationen nicht mehr möglich ist: dialogischer Austausch unterschiedlicher Meinungen mit Anstand und Respekt!

Wir treten ein für eine offene und solidarische Gesellschaft, die sich entsprechend der Deklaration der universellen Menschenrechte von dem Gedanken leiten lässt, dass alle Menschen frei und gleich an Rechten geboren sind. Wir treten ein für eine Gesellschaft, die allen Menschen die gleichen Chancen auf Entwicklung und Entfaltung ihrer individuellen Persönlichkeiten einräumt. Bestrebungen, Menschen nach ihrer Herkunft oder sexuellen Identität in Gruppen aufzuteilen, sie je nach Gruppenzugehörigkeit zu behandeln, lehnen wir entschieden ab.                31. März 2021

Der Aufruf kann unterzeichnet werden mit einer eMail an dabei@namlit.net unter Angabe von Name und Ort.

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Hendrik Auhagen
Hendrik Auhagen war in den 1980er Jahren für die Partei Bündnis 90/Die Grünen (Grüne) im Deutschen Bundestag. Er ist Mitglied der Expertengruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn und Mitgründer des Bündnisses Bahn für Alle. In den Jahren 1999 und 2000 unterrichtete er Deutsch an einem Kolleg in Legnica (Polen), von 2001 bis 2004 Deutsch und Gemeinschaftskunde in Bad Säckingen am Scheffel-Gymnasium, später am Friedrich-Wöhler-Gymnasium in Singen.

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