Mehr Aufwand, weniger Freude

Man lernt sich nicht mehr kennen, der emotionale, aber auch der intellektuelle Austausch findet nicht mehr statt, die Nachdenklichen verstummen. Der Kultursoziologe Ulrich Bröckling gibt im Gespräch mit Riccarda Gleichauf Auskunft über seine Erfahrungen mit Studierenden und KollegInnen in Zeiten der Online-Lehre.

Blick in die Vergangenheit (Foto: Leon auf Unsplash)

Gewähren Sie uns doch einen Einblick in Ihren (digitalen) Lehralltag!

Ulrich Bröckling: Selbst die Semesterferien sind betroffen. Da bleibt es bei Online-Sprechstunden. Die lassen sich ganz gut per Skype oder telefonisch machen, die Gespräche nehmen allerdings deutlich mehr Zeit in Anspruch, als wenn wir uns in meinem Büro treffen würden. Ähnlich lassen sich im Rückblick die Erfahrungen der letzten beiden Semester zusammenfassen: Technisch klappt die Online-Lehre besser als erwartet, obwohl in jeder Sitzung irgendwer wegen Internetproblemen verloren geht, aber sie bedeutet für die Studierenden wie für die Lehrenden einen erheblichen Mehraufwand und macht deutlich weniger Freude. Die Vor- und Nachbereitungszeiten haben sich gefühlt mindestens verdoppelt, weil viel mehr vorab geplant und abgesprochen werden muss. Die Studierenden vermissen vor allem die sozialen Kontakte. Am schwersten hat es die Erstsemester getroffen.

Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften leiden darunter, keine Präsenzveranstaltungen besuchen zu dürfen. Wie geht es Ihnen als Dozent damit?

Ulrich Bröckling: Ich kenne niemanden, der oder die sich nicht die Präsenzveranstaltungen zurückwünscht. Das gilt auch für mich. Aber die Vorstellung, mit zwanzig Studierenden anderthalb Stunden in einem Seminarraum zu sitzen, wäre im vergangenen Winter keine Option gewesen. Auch das Sommersemester findet wieder weitgehend im Online-Modus statt. Ich hoffe jetzt auf den Herbst.

Die meisten hängen stundenlang in Videokonferenzen

Erkenntnisse in den Geistes- und Sozialwissenschaften entstehen durch Diskussionen und Debatten. Diese entwickeln sich optimalerweise auf Basis vorheriger Textlektüren der TeilnehmerInnen eines Seminars. Funktioniert Wissensvermittlung im digitalen Raum?

Ulrich Bröckling: Vorlesungen sind das geringere Problem, Frontalunterricht geht auch digital. Viele Studierende sind sogar froh, sich die vorab aufgezeichneten Vorträge von zuhause aus zu einem beliebigen Zeitpunkt anhören zu können. Sehr viel schwieriger ist es mit Seminaren. Eine lebendige und intellektuell herausfordernde Diskussion kommt in einer Videokonferenz per Zoom nur schwer zustande. Positiv ist, dass mehr verschriftlicht wird. Auf den digitalen Lernplattformen lassen sich Kommentare zu den Texten posten, die dann wiederum in die Seminargespräche einfließen.

Wie gelingt ein Austausch unter KollegInnen, jetzt, da seit fast einem Jahr keine Konferenzen mehr offline stattfinden konnten?

Ulrich Bröckling: Die meisten hängen täglich stundenlang in Videokonferenzen. Das ist ermüdend. Workshops und Konferenzen lassen sich so ohne große Probleme organisieren. Da spricht ja ohnehin immer nur eine oder einer, und die anderen hören zu. Ansonsten wird viel mehr telefoniert. Was am meisten fehlt, sind die Begegnungen auf dem Flur, die Gespräche zwischen Tür und Angel, der gemeinsame Kaffee in der Mittagspause.

Stichwort Machtverhältnis. Inwieweit ist digital ein Dialog auf Augenhöhe mit den Studierenden möglich? Ketzerisch formuliert: Wie hoch ist die Gefahr, als Dozent vor dem Bildschirm ins Monologisieren zu verfallen?

Ulrich Bröckling: Sie ist jedenfalls deutlich höher als in der Präsenzlehre. Viele Studierende tun sich schwerer, sich an einer Seminardiskussion zu beteiligen, wenn diese online stattfindet. Die ohnehin Stillen sind noch stiller geworden. Videokonferenzprogramme wie Zoom ermöglichen allerdings, temporäre Kleingruppen, sogenannte Breakout-Rooms einzurichten. Wenn die Studierenden da zu viert oder fünft ohne mich diskutieren, klappt es besser. Dass manche DozentInnen zu viel reden, ist meinem Eindruck nach weniger einem autoritären Habitus geschuldet, als ein Ausdruck von Hilflosigkeit angesichts hartnäckig schweigender Gesichter, die ihnen von den Zoom-Kacheln auf dem Bildschirm entgegenschauen. Manchmal kommt auch beides zusammen.

Kommunikation ohne körperliche Präsenz ist anstrengender

Eine Vorlesung oder auch ein Seminar lebt von der Performanz der Lehrenden und der (auch körperlich präsenten) ZuhörerInnenschaft. Wie steht es da mit dem Energiehaushalt? Woher nehmen Sie die Kraft, Wissen medial zu vermitteln, ohne direkte Resonanz zu erhalten?

Ulrich Bröckling: Na ja, es gibt durchaus Resonanz. Positive wie negative. Die Studierenden äußern ihre Wertschätzung, wenn sie merken, dass man gut vorbereitet ist und sich auch Gedanken gemacht hat, wie eine Sitzung ablaufen kann. Umgekehrt signalisieren sie durch Fortbleiben, demonstratives Desinteresse, vor allem aber durch mündliche und schriftliche Wortmeldungen, wenn sie unzufrieden sind. Trotzdem haben Sie Recht, Kommunikation ohne körperliche Präsenz ist viel anstrengender, weil so viele Kanäle wegfallen, über die wir sonst einander wahrnehmen und uns äußern. Wenn man gemeinsam in einem Raum sitzt, bekommt man ganz anders mit, ob die anderen konzentriert bei der Sache sind oder etwas unklar bleibt. Das macht es leichter, darauf einzugehen.

Um notorische SelbstdarstellerInnen mache ich mir keine Sorgen

Menschen haben ein ausgeprägtes Geltungsbedürfnis, das durch unsere wettbewerbsorientierte Gesellschaft befeuert wird. Auch Geistes- und Sozialwissenschaften werden nicht nur aus einem Selbstzweck heraus studiert, sondern immer auch aus Neigung, sich selbst zu optimieren, den Lehrenden mit Redebeiträgen zu beeindrucken. Was geschieht mit Subjekten, denen diese motivierende Möglichkeit durch digitale Seminare verwehrt bleibt, wenn die Bühne aus einem Netz besteht, bei dem man froh ist, wenn die Technik einigermaßen funktioniert?

Ulrich Bröckling: Um die notorischen SelbstdarstellerInnen mache ich mir keine Sorgen. Die finden immer eine Bühne. Anders die Bedächtigeren, die dreimal überlegen, ob sie ihr Mikrofon einschalten und etwas sagen wollen, für die steigt der Druck. Und ihre Frustration, ihr Ärger über sich selbst wächst, wenn sie sich wieder einmal nicht gemeldet haben. Ich erlebe unter den Bedingungen der Pandemie mehr als sonst, dass gerade die Ambitionierten, die alles richtig machen wollen, sich unter Stress setzen. Selbstoptimierung erweist sich praktisch ja meist als eine Kunst der Selbsterniedrigung: Man stellt so hohe Ansprüche an sich, dass man nur daran scheitern kann.

Selbsterniedrigung erzeugt manchmal Selbsthass, der sich auch auf die Welt richten kann. Könnten durch die Defizite der digitalen Lehre psychische Erkrankungen, zum Beispiel Depressionen, zunehmen?

Ulrich Bröckling: Ich habe dazu keine belastbaren Zahlen. Mein ganz subjektiver Eindruck ist, dass viele Studierende unter der Isolation leiden und einige eben auch krank werden. Welchen Anteil allerdings die Lockdown-Situation im Allgemeinen und die Online-Lehre im Besonderen haben, wenn jemand jetzt in eine akute Krise gerät, das ist schwerlich zu sagen. Das Studium fällt ja ohnehin in eine zwar spannende, aber eben auch besonders vulnerable Lebensphase. Mit dem Erwachsenwerden, der Ablösung von den Eltern, mit den Irrungen und Wirrungen des Liebeslebens und der beruflichen Orientierung hat man auch ohne Corona schon mehr als genug zu tun.

Ihre zuletzt erschienene Publikation, das bei Suhrkamp erschienene „Postheroische Helden. Ein Zeitbild“, stellt heutige HeldInnen in ein fragwürdiges Licht. Sie seien, so schreiben Sie in Ihrer Einleitung, eher ein Symptom der Krise als eine Instanz, die sie löst. Wofür stehen Ihrer Meinung nach die Corona-„HeldInnen“ in der Krankenpflege, für die eine Zeitlang jeden Abend von den Balkonen anerkennend geklatscht wurde?

Ulrich Bröckling: Rückblickend betrachtet, verschwammen in all den Lobliedern auf die Corona-HeldInnen die Grenzen zwischen cleverem Marketing und dem redlichen Wunsch, jenen die gebührende Anerkennung zuteil werden zu lassen, deren Arbeit normalerweise wenig Beachtung findet. Ob das Heldenlob vergiftet war, weil es die Gefeierten mit symbolischen Gratifikationen abspeiste, oder einfach nur eine freundliche Geste, das ließ sich kaum unterscheiden. Als Bewährungsfeld für HeldInnen ist die Corona-Pandemie ohnehin denkbar ungeeignet. Für die Bewältigung der Krise braucht es keine großen Männer und Frauen, sondern ein robustes Medizinsystem, koordinierte Forschung und wirtschaftliche Auffangprogramme. Vor allem aber ist jede und jeder Einzelne gefragt. Was dabei verlangt wird, ist ganz und gar unspektakulär: Zuhause bleiben, Maske tragen, Abstand halten. Heldenepen lassen sich aus so etwas schwerlich destillieren.

Arbeiten Sie momentan an einem neuen Thema?

Ulrich Bröckling: Zusammen mit zwei KollegInnen, Susanne Krasmann und Thomas Lemke, bereite ich ein „Glossar der Gegenwart“ vor, eine Sammlung kurzer Essays zu aktuellen Schlüsselbegriffen von Anthropozän bis Virus. Ein solches Glossar hatten wir schon einmal 2004 zusammengestellt, aber die Gegenwart von 2021 ist nicht mehr die von damals.

Wagen Sie einen Ausblick! Welche Relevanz wird die digitale Lehre für die Universitäten nach Corona spielen? Welche sollte sie spielen?

Ulrich Bröckling: Ich fürchte, es wird mehr davon bleiben, als mir jedenfalls lieb ist. Schon weil sich so Kosten sparen lassen. Sicher werden die meisten Lehrveranstaltungen wieder in Präsenz stattfinden, aber in den Universitätsverwaltungen träumen viele schon von digitalen Vorlesungen, die man sogar über die eigene Uni hinaus vermarkten könnte. Von den Heizkosten, die sich sparen lassen, wenn die Hörsäle leer bleiben, ganz zu schweigen. Zweifellos gibt es Dinge, die bleiben sollten. Es ist schon toll, kurzerhand eine KollegIn aus Südafrika oder Brasilien in eine Seminarsitzung zuschalten zu können oder sich regelmäßig zu einem Promotionskolloquium auf Zoom zusammenzufinden, dessen TeilnehmerInnen in unterschiedlichen Städten wohnen.

Ulrich Bröckling ist seit 2011 Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Nach einer Ausbildung zum Heilpädagogen studierte er Soziologie, Neuere Geschichte und Philosophie und arbeitete im Anschluss daran zunächst als Verlagslektor. Akademische Stationen führten ihn an die Universitäten Konstanz, Leipzig und Halle-Wittenberg. Seine Studie „Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform“ (2007, Suhrkamp Verlag) wurde ins Englische, Spanische und Koreanische übersetzt.
Zuletzt erschienen im Suhrkamp Verlag „Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste“ (2017) und „Postheroische Helden. Ein Zeitbild“ (2020).

Das Interview erschien unter dem Titel „Selbstoptimierung als Kunst der Selbsterniedrigung“ zuerst auf Faust-Kultur

Riccarda Gleichauf
Riccarda Gleichauf studierte nach einer Buchhändlerinnenlehre Philosophie und Germanistik in Frankfurt am Main und schloss das Studium 2011 (Magistra Artium) ab. Sie arbeitet als freie Lektorin, in der Erwachsenenbildung (Deutsch als Fremdsprache) und bloggt u. a. zum Thema Feministische Literatur auf ihrem Onlineportal riggaros.de. Riccarda Gleichauf ist Mitglied der Faust-Redaktion.

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