Der Unterhaltungswert der Schweizer Öffentlichkeit rangiert nur knapp hinter der Mannschaftsstärke ihrer Volkswirtschaft, die gerade zur wettbewerbsfähigsten der Welt gekürt wurde. Die eidgenössische Fußballnationalmannschaft, „Nati“ genannt, steht, anders als die deutsche, im Viertelfinale der Europameisterschaft; hineingezittert ins Achtelfinale hatten sich beide. In einem offenen Brief an die Nation, an alle „lieben Schweizerinnen und Schweizer“, leistete Nati-Trainer Vladimir Petkovic vor dem „Spiel der letzten Chance“ gegen die Türkei und nach der 0:3 Niederlage gegen Italien eine Art Rütli-Schwur: „Wir wollten Euch eine magische Nacht schenken. Euch stolz machen auf uns und auf unsere Schweiz. Wir wollten Euch nach den vielen Entbehrungen der langen Zeit der Pandemie glücklich machen mit einem Sieg gegen Italien.“ In den Tagen zuvor kannten die Schweizer Medien vor allem ein Thema, die Figaro-Affäre. Die Tage danach sprechen für sich selbst.
Der emphatische Ernst und die tränenrührende Emotionalität des Trainer-Briefes (in Auszügen)
„Seit dem 26. Mai, dem ersten Tag der Vorbereitungen, leben wir nun schon zusammen. In Hotels zwischen Zimmer, Esssaal und Fussballplatz. Dabei verfolgen wir alle ein einziges Ziel: Spiele für Euch und für die Schweiz zu gewinnen. Andere Nationalmannschaften zu besiegen. Alle wollen wir dabei das Beste geben. Jede Minute und jede Sekunde.“
„Wir sind wie eine grosse Familie, in der es kracht, in der es Verfehlungen gibt, die wir dann zusammen besprechen und klären, um uns wieder umarmen und gemeinsam unsere hochgesteckten Ziele erreichen zu können. Ich kann Euch versichern, dass wir den Fokus immer aufs Spiel gerichtet haben. Ich kann Euch garantieren, dass wir uns minutiös, mit Fleiss und Konzentration auf jeden Match vorbereiten.“
„Gestern ist Yann Sommer von seiner kurzen Reise nach Hause zu uns zurückgekehrt. Als frischgebackener Vater von Töchterchen Nayla. Das war ein wunderschöner Moment für uns alle. Fussballspieler und Trainer haben Gefühle, Sorgen, Ängste und Freuden wie alle anderen. Wir sind genauso verletzlich.
Und deshalb brauchen wir vor diesem entscheidenden Spiel [gegen die Türkei] die Unterstützung von Euch allen. Eure Solidarität. Eure Positivität. Wir werden alles dafür tun, dass wir uns am Sonntagabend alle gemeinsam freuen können. Dass wir zusammen stolz sein können. Auf unsere Nati und auf unsere Schweiz!“
die boulevardeske Aufgeregtheit und selbstironische Heiterkeit der Medien
„Wenn der Kommunikationschef der Nati vor die Medien tritt und ungefragt über die neuen Frisuren der Spieler redet, muss etwas Einschneidendes passiert sein“, schreibt der Blick und berichtet:
„Vor dem Italien-Knüller fliegen Captain Granit Xhaka (28) und Manuel Akanji (25) einen Schweizer Coiffeur nach Rom ein und lassen sich die Haare blond färben. Genützt hats nichts, im Gegenteil: Nach dem ernüchternden 1:1-Unentschieden gegen Wales folgt gegen die Italiener eine 0:3-Klatsche…
… Die Leistungen der Schweizer verärgert in der Heimat nicht nur die Fans, sondern auch die Detailhändler. Sie warten vergeblich auf den erhofften Verkaufsboom. Schon seit Wochen tobt eine Rabattschlacht um die Nati-Shirts…
‚Die Nati hat mir ihren schwachen Auftritten bisher leider nicht dazu beigetragen, das Land in eine Jubelstimmung zu versetzen‘, sagt die Migros zu Blick. Auch die Figaro-Affäre hat man beim grössten Arbeitgeber der Schweiz zur Kenntnis genommen. Migros stichelt gegen die blondierten Nati-Stars Xhaka und Akanji: ‚Leider hatten wir es verpasst, blonde Perücken ins Fansortiment aufzunehmen – doch womöglich wären auch diese spätestens am kommenden Sonntagabend mit einem Aktionskleber versehen worden…‘.“
«Figaro, Figaro, Fi-ga-ro!» Die Schweizer Nati schwankt medial zwischen Oper und Operette, aber wie sieht sie dabei aus?“ glossiert die NZZ und macht sich weiter lustig:
„Der TV-Kommentator Sascha Ruefer riss einen Blondinenwitz nach dem andern – das nennt man Galgenhumor.“
„Wasserstoffblond ist eine neutrale und damit gutschweizerische Haarfarbe. Auch Akanji sieht gut aus damit. Nur der Zeitpunkt, meine Herren! Hat es denn nicht gereicht, Granit Xhaka, dass Sie sich eine Woche vor der EM ein Tattoo stechen liessen? Offenbar nicht. Bei Kleinkindern würde man es auf die Trotzphase schieben. Okay, das Tattoo enthielt unter anderem den Namen Ihrer Tochter, das Gewicht und das Sternzeichen, da wollen wir mal nicht so sein. Aber gibt es nicht so etwas wie eine Geburtsurkunde?
Und Xerdan Shaqiri in seinem 650 PS starken Lamborghini? Irgendwie fühlt man sich ungut an Roobääärt Geiss aus «Die Geissens – Eine schrecklich glamouröse Familie» erinnert, jedenfalls mehr als an Shaqiris Fussballkollegen Zlatan Ibrahimovic, der ebenfalls gerne im Lambo zum Shoppen fährt…
Fashion-Influencer im Nebenjob sind zwei Vertreter aus Mittelfeld und Sturm: Edimilson Fernandes und Breel Embolo hüllen sich casually in Gucci und Louis Vuitton. Embolo hält auf Instagram auch eines dieser omnipräsenten Fussballer-Necessaires fest, als wäre es sein liebster Chihuahua. In der Bundesliga sagen sie zum Necessaire, wo sich das Haargel, die Herrenkosmetik sowie eine Pinzette fürs Zupfen der Augenbrauen Platz finden, übrigens ‚Kulturbeutel‘. So viel zur neuen Fussballkultur.“
Die bitterbösen Stimmen des Volkes
„An Dekadenz kaum mehr zu überbieten. Widerlich.“
„Statt Leistung auf dem Platz, Selbstdarstellung und Überheblichkeit. Passt genau!“
„Teure Autos vorführen und Frisuren sind wichtiger als die Leistungen auf dem Platz! Einfach nur traurig diese CH Nati???“
„Egal ob blonde Haare oder gar keine Haare, die Nati fährt nach den Gruppenspielen sowieso nachhause“
und dann dieses „Woodstock des Fußballs“ gegen Weltmeister Frankreich
Wären wir nicht gerade alle gerne ein bisschen Schweizerin oder Schweizer – ganz egal, wie es gegen Spanien ausgeht.