„So was haben wir noch nie gesehen!“ DOCH

Nachdem die spontane Betroffenheit angesichts der Bilder aus Bad Neuenahr, Bad Münstereifel und Euskirchen verflogen ist, stellt sich erst Bitternis ein. Und dann der Zorn. Denn nichts an dem Ereignis, an den Bildern, am Ausmaß der Schäden, am Leid der Menschen ist wirklich überraschend. Seit Jahren sehen wir mit wohligem Gruseln die Bilder aus unserer Nachbarschaft, aus Südfrankreich, Norditalien und der Schweiz: Starkregen, reißende Bäche, Erdrutsche, purzelnde Autos, Opferzahlen und Milliardenschäden. Ja, haben wir wirklich geglaubt, all das würde uns nicht betreffen?

Überraschend waren allenfalls zwei Dinge: Dass sich, außer dem Wahlkämpfer Olaf Scholz, in Anbetracht der schlimmsten Flutkatastrophe seit fast 60 Jahren kein Bundesminister in die Katastrophenregion begab, kein Innenminister, kein Wirtschaftsminister, kein Kanzleramtsminister. War es etwa das schlechte Gewissen? Und überraschend war und ist, und das ist der deutlich schlimmere Befund, die Naivität der Betroffenen und politischen Akteure.

Die Pandemie hat uns gelehrt, gelegentlich der Wissenschaft Beachtung zu schenken. Nicht jedem einzelnen Experten, aber es gibt einen wissenschaftlichen Mainstream, und der war beim Thema Covid-19 in den letzten 18 Monaten ein einigermaßen verlässlicher Begleiter. Es gibt diesen Mainstream auch unter den Klimaexperten. Und die rechnen, mahnen und warnen schon viel länger als die Mediziner, Virologen und Epidemiologen. Den Weltklimarat gibt es seit 1988. Schon kurz danach veröffentlichten auch Fachleute der Münchner Rück eindringliche Hinweise, die CO2-Emissionen zu begrenzen, nicht weiter in Flussniederungen zu bauen oder die Versiegelung zurückzufahren. Nichts davon wurde beherzigt. Immer waren materieller Wohlstand, Wirtschaft und Arbeitsplätze wichtiger.

Flutkatastrophe auf der Insel der Seligen

Wir blenden aktiv aus. Nichts nehmen wir in unserem seligen Deutschland ernsthaft zur Kenntnis: Nicht, dass in Afrika die Zahl der Klimaflüchtlinge ständig steigt, nicht, dass zwei Drittel von Bangla Desh unlängst wegen des steigenden Meeresspiegels einerseits und Himalaya-Sturzbächen andererseits unter Wasser standen, und nicht, dass auch in den USA Küstenstädte wie New Orleans und Miami in absehbarer Zeit unbewohnbar sein werden.

Screenshot: Aus einem Bericht des Deutschlandfunks

„So was haben wir noch nie gesehen“, hieß es in den letzten Tagen so betroffen wie naiv aus der Eifel, aus dem Ahrtal und längs der Ruhr. Man muss es in dieser Härte formulieren: Ja natürlich, wenn man sich auf einer Insel der Seligen wähnt, von politischen Entscheidern in diesem Glauben tagtäglich unterstützt wird und sich nicht dafür interessiert, was sich auf dieser Welt sonst noch ereignet, wird man von solchen Ereignissen wie dem Tiefdruck Bernd überrascht.

Überrascht wurde ganz offensichtlich auch ein Armin, der im Herbst gerne Kanzler werden will. „Mehr Tempo“ beim Klimaschutz reklamierte er in der gefluteten Stadt Hagen mit bitterernster Miene in die Kameras – nachdem er am Tag zuvor noch den geplanten Verbrenner-Ausstieg der EU-Kommission als zu forsch kritisiert hatte. Nachdem er jahrelang die schützende Hand über RWE gehalten und den Ausbau der Windenergie in seinem Bundesland mit Vorsatz verhindert hat.

Nichts zu sehen war auch vom Bundeswirtschaftsminister, für den immer das Mantra galt: „Klimaschutz wird nur dann funktionieren, wenn unser Wohlstand dadurch nicht gefährdet wird.“ Und der lange genug mit solchen Sätzen Gehör und Beifall fand. Dazu hat Eckart von Hirschhausen bei Maybrit Illner das einzig Richtige gesagt: „Wer glaubt, Wirtschaft sei wichtiger als Gesundheit, kann ja mal versuchen, sein Geld zu zählen, während der die Luft anhält.“

So ist es: Mit leichter Hand werden jetzt wieder Milliarden für Räumarbeiten, Entschädigungen und  Wiederaufbau versprochen. Milliarden, die proaktiv fürs Schienennetz, Renaturierung von Flüssen und den Aufbau regenerativer Energiesysteme allemal  sinnvoller investiert worden wären.

Die Erfahrung lehrt: Wir haben Übung im Verdrängen. Die Halbwertszeit des Vergessens wird am Ende obsiegen. Nachdem die Opfer betrauert und die Schäden bemessen sind, wird viel Geld nach Schuld, Erftstadt, Sinzig und all die anderen Orte fließen. Und dann  werden weiter Gewerbegebiete ausgewiesen, Gaskraftwerke als „Brückentechnologie“ gepriesen werden, und die Bahn wird im Autoland Deutschland weiter Stiefkind bleiben. Nichts können wir besser als business as usual. Zumal in Zeiten einer Bundestagswahl.

Genau so gewiss ist aber auch: Bernd, die träge Tiefdruckzone, war kein Einmalereignis. Das Klima und seine Veränderung werden uns nicht mehr loslassen. Auch in Deutschland werden Teile des Landes – nicht nur längs von Mosel, Elbe oder Donau – in 20 Jahren nicht mehr bewohnbar sein. Wundern sollte sich keiner. Wir hätten es wissen können.

Horand Knaup
Horand Knaup (kn), geboren 1959, ging 1995 für die „Badische Zeitung“ nach Bonn und wechselte 1998 zum „Spiegel“, für den er viele Jahre aus dem Hauptstadtbüro schrieb, fünf Jahre war er „Spiegel“-Korrespondent in Afrika mit Sitz in Nairobi. Seit 2017 freier Journalist und Autor.

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