Fridays for Future hatte großen Einfluss auf das Agenda Setting der Medien, sagt der Bewegungsforscher Dieter Rucht im bruchstücke-Interview. Verzögert und abgeschwächt flössen nach und nach die Forderungen der Bewegung nun auch in politische Entscheidungsprozesse ein. Aber FfF werde kein wichtiger Faktor im Bundestagswahlkampf sein. Dieter Rucht ist Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung und Senior Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Wolfgang Storz hat die Fragen gestellt.
Die Umwelt-Bewegung Fridays for Future (FfF) hat in 2019 und 2020 in Medien wie auch auf der Straße viel Echo bekommen. Wie hat sie dieses Jahr Pandemie überstanden?
Dieter Rucht: FfF hatte schon vor dem Ausbruch der Pandemie einen Rückgang seiner Mobilisierungskraft zu verzeichnen. Die Pandemie hat dann die Fortführung der Straßenproteste erschwert oder ganz verhindert. So schien es, als sei die Bewegung nur vorübergehend gelähmt. Sie ist gewiss nicht am Ende, aber doch etwas ausgezehrt. Ich bezweifle, dass die jetzt nachrückende Generation von Schüler:innen das Anliegen von FfF mit der gleichen Intensität fortführt. Zudem kommt der Eindruck auf, die etablierte Politik wache in Sachen Klimaschutz allmählich auf, so dass der außerparlamentarische Druck nicht mehr so dringend ist wie zuvor.
Ist FfF aber immer noch so stark, dass sie sich hör- und sehbar in den Bundestagswahlkampf wird einschalten können?
Dieter Rucht: Die Bewegung wird kein wichtiger Faktor im Wahlkampf sein. Denn alle relevanten Parteien, mit Ausnahme der AfD, haben sich bereits das Thema Klimaschutz auf die Fahnen geschrieben. Aber sie alle bedienen, im Unterschied zu FfF, zugleich eine breitere Themenpalette. Also auch Themen, zu der FfF weder eine Position einnehmen will noch kann. Entscheidend ist somit, wie die jeweiligen Parteien wahrgenommen werden.
Enormer Einfluss auf die Medien
Die Bewegung erntete zumindest bisher sehr hohe Aufmerksamkeit. Konnte sie diese auch nutzen, um Gesellschaft und Politik handfest zu beeinflussen?
Dieter Rucht: FfF hatte einen enormen Einfluss auf das Agenda Setting der Medien. Verzögert und abgeschwächt fließen nach und nach die Forderungen der Bewegung nun auch in den politischen Entscheidungsprozess ein. Zugleich, und jenseits politisch-regulativer Maßnahmen, hat die Bewegung, die ja auch mit weiteren Akteuren zusammenarbeitet, aber auch einen Einfluss auf das persönliche Verhalten von Menschen, also ob sie und wie intensiv sie ihre Ernährung, ihren Energieverbrauch, ihren Lebensstil generell selbstkritisch überdenken. Das gilt zwar vorerst nur für eine Minderheit der Bevölkerung. Aber von dieser Minderheit werden längerfristig auch Sicker-Effekte auf die gesellschaftliche Mehrheit ausgehen.
Ist FfF eine Vorfeld-Organisation der Grünen?
Dieter Rucht: Obgleich etliche Sprecher:innen von FfF Mitglied der Grünen sind oder persönlich mit den Grünen sympathisieren, ist die Bewegung doch überparteilich. Das muss sie auch sein. Eine enge und exklusive Allianz mit den Grünen wäre selbstdestruktiv. Sie würde FfF-Aktivist:innen, die einer anderen Partei zuneigen, verprellen, heftige interne Debatten hervorrufen und vielleicht sogar Abspaltungen begünstigen.
Nutzt FfF den Grünen jetzt bei der anstehenden Bundestagswahl?
Dieter Rucht: Im Prinzip ist die Existenz von FfF hilfreich für die Grünen. Allerdings fällt es schwer, diesen Effekt zu quantifizieren. Wahlentscheidungen hängen von vielen Faktoren ab. Und Klimaschutz ist nur eines von vielen Themen. Zudem wird nicht nur anhand von Inhalten und Themen, sondern auch mit Blick auf das politische Personal, etwa die jeweiligen Kanzlerkandidat:innen entschieden. Ein singuläres Thema ist nur selten entscheidend für den Ausgang einer Wahl.
Bei den drei Landtagswahlen in diesem Jahr, aber bereits zuvor bei Kommunalwahlen ist die Klimaliste angetreten; viele ihrer Akteure sind oder waren bei FfF aktiv. Bei Kommunalwahlen erzielte sie oft Achtungserfolge, bei allen Landtagswahlen lediglich Minimalergebnisse von teilweise unter einem Prozent. Die Klimaliste vertritt in Sachen Natur- und Umweltschutz deutlich radikalere Positionen als die Grünen. Mitte Juni wurde nun eine Bundespartei Klimaliste gegründet, und sie tritt jetzt bei der Bundestagswahl an. Kann sie den Grünen die am Ende vielleicht entscheidenden zwei, drei Prozent wegnehmen?
Dieter Rucht: Bei einem sehr engen Wahlausgang könnte auch eine kleine Partei wie die Klimaliste den Ausschlag zu Lasten der Grünen geben; und damit letztlich auch zu Lasten des eigenen Anliegens.
[Siehe dazu „Rucht: Unter den gegeben Umständen ist die Parteigründung ein Fehler.“]
Anderseits zwingt die junge Konkurrenz die Grünen im Wahlkampf, beim Thema Klimaschutz nicht zu weich zu werden. Das erhöht wiederum die Attraktivität der Grünen auch für diejenigen, die einer konsequenten Klimaschutzpolitik absolute Priorität einräumen. Aber wahrscheinlich ist jede Stimmabgabe für die Klimaliste eine verlorene Stimme.
Die Haltung des „Sofortismus“
Es gibt gegen FfF den Vorhalt, die Bewegung arbeite vor allem mit Dystopien, also mit dramatischen Warnungen vor dem Klima-Weltuntergang. Es mangle jedoch an positiven Ideen und Konzepten, für welche die Bevölkerung mobilisiert werden könnte. Deckt sich das mit Ihren Analysen?
Dieter Rucht: Dieser Vorhalt ist zutreffend, aber typisch für die Frühphase nahezu jeder Protestbewegung. Es dauert eine Weile, bis auch konstruktive Alternativen zum Nein entwickelt werden. Die Klimaschutzbewegung versendet ja anhaltend dramatische Appelle („Es ist bereits fünf nach zwölf“). Aber ihr fehlt die Zeit, lange nachdenken zu können und Überzeugungsarbeit zu leisten, die nicht nur auf Katastrophenszenarien beruht. Das führt zu einer Haltung des „Sofortismus“, also zu der Neigung, von der Politik ultimativ Gesetze und Verordnungen zu fordern. Die Gegenseite diskreditiert dann diese Forderungen routinemäßig als „Verbotspolitik“.
Wie gewinnt eine Bewegung Aufmerksamkeit und vor allem Einfluss: mit dramatischen Warnungen oder mit Konzepten, wie künftig eine Gesellschaft aussehen soll? In einer demokratischen Unterhaltungs- und Mediengesellschaft wie der unsrigen klingt das erste doch spannend, das zweite langweilig.
Dieter Rucht: Daueralarme stumpfen das Publikum ab. Anderseits laufen abstrakte Utopien leer. Zudem verdecken sie auch die Meinungsunterschiede, die es innerhalb einer Bewegung selbstverständlich zu vielen Themen gibt: Welches Problem ist uns das Wichtigste, welche Forderung rücken wir in den Mittelpunkt, wie konkret, wie utopisch soll unsere wichtigste Forderung sein und so weiter. Vielversprechender ist es, im Sinne von Ernst Bloch nach konkreten Utopien zu suchen. Denn die geben eine Richtung an, definieren aber lediglich die ersten Schritte in diese Richtung. Wichtig ist, keine quasi-paradiesischen Endzustände auszumalen, denn das würde ja auch eine Bevormundung kommender Generationen bedeuten. Mir gefällt die Selbstbescheidung des Slogans der Zapatisten, einer sozialrevolutionären indigenen Bewegung in Mexiko: „Fragend schreiten wir voran.“
Alternative Praktiken vorleben
Die Schriftstellerin Nora Bossong hat vor kurzem in einem Interview die jüngst gestorbene Philosophin Agnes Heller zitiert: Wir seien heute „weniger von Utopien geleitet … als von der Abwendung von Dystopien“. Daraus folgt der Vorhalt: Generell konzentrierten sich linke Bewegungen darauf, Missstände und Gefahren zu thematisieren. Beispiele: Hilfe für Geflüchtete, weniger Digitalisierung, weniger Konsum etc. . Und wenn sie versuchten, Positives zu entwerfen, dann sei dies oft zu utopisch, um weithin Anklang zu finden, siehe die Forderung nach offenen Grenzen. Stimmt diese grobe Beschreibung?
Dieter Rucht: Ja, in der Tendenz ist diese Beschreibung zutreffend. Aber es gibt auch in der Linken nicht nur die Flucht in Dystopien oder abstrakte Utopien, sondern die Suche nach konstruktiven Alternativen im Hier und Jetzt. Im angloamerikanischen Raum wird das als „prefigurative politics“ bezeichnet. Es ist die im Kleinen gelebte alternative Praxis, die als Vorschein einer künftigen gesellschaftlichen Praxis verstanden wird. Dabei kann es sich nur um Experimente handeln, oft auch welche in Nischen, deren Ausbreitung massive Hürden entgegen stehen.
Können Sie dazu ein, zwei Beispiele nennen, aus Deutschland oder anderswo?
Dieter Rucht: Ein Beispiel ist die Etablierung einer kleinen Firma „ohne Chef“, einer Firma aus gleichberechtigten Eigentümer:innen bzw. Mitarbeiter:innen. Das klappt allerdings nur selten. Ein anderes Beispiel ist das „autonome“ Institut für Protest- und Bewegungsforschung, dem ich angehöre. Wir haben zwar als eingetragener Verein eine Rechtsform, die auch einen gewählten Vorstand verlangt. In der Praxis aber existiert so gut wie keine Hierarchie. Es gibt einen „Aktivenkreis“ derer, die sich einschalten wollen und die dann die notwendigen Dinge regeln und erledigen. Dabei gelangen wir meist zu einem Konsens. Aber auch im Falle von Meinungsverschiedenheiten kommen wir ohne Kampfabstimmungen aus und versuchen respektvoll miteinander umzugehen.
Neurechte Bewegungen sagen im Gegensatz doch sehr klar, was sie wollen: trotz Corona das Leben weiterleben wie gewohnt, eine homogene Gesellschaft mit möglichst wenig Ausländern und Geflüchteten, mehr Nationalstaat, weniger EU. Haben die insofern thematisch einen Vorsprung?
Dieter Rucht: Die neurechten Bewegungen haben keinen inhaltlichen Vorsprung. Und sie haben schon gar keine Vorstellung davon, wie Politik in einer pluralistischen Gesellschaft ausgestaltet werden kann und soll. Aber sie präsentieren einfache Erklärungen und ebenso einfache Lösungen und gewinnen damit einen Teil der Bevölkerung. Nein zur Immigration, nein zum Klimaschutz, nein zur EU, nein zu multilateralen Abmachungen — all dies signalisiert vordergründig eine klare Linie. Das fällt bei manchen auf fruchtbaren Boden.
Wurde die Gesellschaft in der Pandemie generell politisiert, stärker als sie es zuvor war?
Dieter Rucht: Zur Beantwortung dieser Frage fehlen solide Daten. Allerdings ist offenkundig, dass in Zeiten der Pandemie der Bevölkerung vor Augen geführt wird, welch große Verantwortung und welch gravierende Eingriffsmöglichkeiten dem Staat erwachsen. Das erzeugt bei den einen Zustimmung und Vertrauen, aber stößt bei anderen auf Skepsis oder frontale Ablehnung. So oder so — es wächst das Gefühl, von Maßnahmen oder auch Unterlassungen des Staates direkt betroffen zu sein. Deshalb erhöht sich vorübergehend die Wachsamkeit gegenüber dem Staat. Aber ich bezweifle, dass sich daraus eine Politisierung ergibt, die auch anhält.