Unter dem Titel „Erst politisch gescheitert, dann militärisch verloren“ veröffentliche die Bundeszentrale für politische Bildung im April 2016 einen Meinungsbeitrag des Friedens- und Konfliktforschers Jochen Hippler. Wir übernehmen Hipplers Analyse auf bruchstücke, weil uns deren Erklärungskraft für die heutigen tragischen Geschehnisse in Afghanistan beachtlich erscheint. Aus der Perspektive politischer Theorie könnte der Bogen noch weiter gespannt werden. Neben der Klima-Krise und der Corona-Pandemie (auch an den Zusammenbruch des realen Sozialismus wäre zu denken) ist das Afghanistan-Desaster ein weiterer Fall, der die große Frage aufwirft, weshalb modernes Regieren so sehr von Realitätsverweigerungen lebt – bis der Kollaps kommt.
Jochen Hippler meinte vor fünf Jahren, die stärkste Militärmacht der Welt habe den Krieg gegen vielleicht 35.000 schlecht bewaffnete Kämpfer politisch verloren. Die Ursachen lägen in den komplexen Machtverhältnissen in der afghanischen Gesellschaft und dem mangelnden Verständnis der NATO für den Charakter des Krieges am Hindukusch. Im Folgenden seine Analyse.
Die Sowjetunion hatte ihr Scheitern in Afghanistan nach weniger als einem Jahrzehnt durch ihren Truppenabzug 1988/1989 eingestanden – die NATO ist nach mehr als 15 Jahren immer noch nicht so weit. Dabei sind die USA und ihre Verbündeten mit ihrer im Herbst 2001 begonnenen Militärintervention ebenso grandios gescheitert wie zuvor die UdSSR. Vom Anspruch der Sowjetunion, den Afghanen den Fortschritt und vielleicht sogar den Sozialismus zu bringen, ist ebenso wenig übriggeblieben wie vom Ziel der westlichen Länder, „demokratische Staatlichkeit“ durch eine militärische Intervention zu verwirklichen. In beiden Fällen haben militärisch und technisch turmhoch überlegene externe Akteure gegen schlecht ausgerüstete einheimische Kämpfer einen teuren Krieg verloren.
Es gibt noch eine weitere Parallele: Wie schon die Sowjetunion haben auch die NATO und ihre Mitgliedsländer den Krieg primär politisch und nicht militärisch verloren. Die Gründe sind sowohl in objektiven Faktoren – vor allem dem Charakter der afghanischen Gesellschaft – als auch in subjektivem Unvermögen zu suchen. Wie konnte das geschehen, und was bedeutet das für die Zukunft Afghanistans und der westlichen und insbesondere der deutschen Afghanistanpolitik?
Der Westen hatte keine Strategie
Es gab seitens des Westens nie wirklich eine kohärente Strategie und Politik des Aufbaus demokratischer Staatlichkeit, trotz aller anderslautender Rhetorik und allem siegesgewissem Selbstbetrug. Die NATO hat den Charakter des Krieges in Afghanistan von Anfang an nicht verstanden. Zuerst glaubte man, die immensen Probleme ignorieren zu können und mit wenigen Tausend Soldaten zurechtzukommen. – Man hatte Afghanistan ja befreit und die Afghanen waren zunächst tatsächlich dankbar. Als dann die Sicherheitslage immer schlechter wurde, versuchten es die USA und die NATO mit Repression, die – so die Aussage beteiligter britischer Soldaten – mit der Überbetonung militärischer Feuerkraft an das gescheiterte Vorgehen der Sowjetunion erinnerte.
Als dieser Ansatz erfolglos blieb, ging man 2009/2010 zu einer Politik der „Aufstandsbekämpfung“ (Counterinsurgency) über. Das stellte zwar konzeptionell einen gewissen Fortschritt dar: Man hatte nun zumindest verstanden, dass durch bloße Maximierung und Optimierung der Gewaltanwendung der Krieg nicht zu gewinnen war. Doch schafften es die politischen und militärischen Verantwortlichen nicht, sich aus dem selbst gebauten Gefängnis der Missverständnisse zu befreien: Die NATO glaubte und glaubt zum Teil noch heute daran, dass sich in Afghanistan eine zwar problematische, aber doch unterstützenswerte legitime Regierung und eine Phalanx irrationaler islamistischer Fanatiker unter Führung der Taliban gegenüberstehen.
PD Dr. Jochen Hippler arbeitete 2016 als Politikwissenschaftler und Friedensforscher am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen. Seit Mai 2019 ist er Länderdirektor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Islamabad (Pakistan). Im September 2008 publizierte Hippler das Policy Paper „Afghanistan: Kurskorrektur oder Rückzug“.
Mächtige private Akteure handeln auf eigene Rechnung
Dieses Schwarz-Weiß-Schema trifft die Realität Afghanistans allerdings kaum: „Regierung“ und „Staat“ – soweit diese außerhalb der Städte überhaupt existieren – sind oft von Akteuren „privatisiert“ worden, die auf eigene Rechnung handeln. Lokale Kommandeure, Warlords, Drogenbosse, Stammesführer und andere Mächtige kontrollieren in vielen Distrikten, Provinzen und zum Teil sogar auf der Ebene des Zentralstaates viele staatliche Organe. Sie sind selbst Polizeichefs oder Gouverneure und betreiben eine Personalpolitik, die ihre Klientel bevorzugt und Gegner marginalisiert. Die Organe des Zentralstaates – vor allem Polizeikräfte und Justizwesen – werden deshalb in weiten Landesteilen für eine schlimmere Plage gehalten als kriminelle Banden oder Aufständische. Und diese Haltung zwischen Skepsis und Ablehnung besteht zu Recht.
Wenn hier die NATO als Unterstützer solcher räuberischer, teilprivater „Staatsorgane“ auftritt, macht sie sich unglaubwürdig und verliert den Nimbus des Befreiers und Sicherheitsgaranten. Auch besteht die Gegenseite nicht einfach aus „den Taliban“ (oder „den Aufständischen“). In vielen Provinzen gibt es seit Jahrzehnten Spannungen und gewaltsame Auseinandersetzungen, in die zahlreiche gesellschaftliche Gruppen involviert sind. Tribale oder subtribale, ethnische, soziale und andere Gruppen konkurrieren um knappe Ressourcen – um Land, Wasser, Opium, Staatsämter, Korruptionsmöglichkeiten und anderes. Wegen der Schwäche und des kläglichen Charakters des Staates auf dem Lande nehmen lokale Gemeinschaften die Herstellung oder Bewahrung von „Sicherheit“ in die eigenen Hände und zwar sowohl gegen konkurrierende Gruppen als auch gegen räuberische „Staatsorgane“. In solchen Fällen wurden die lokalen Gemeinschaften oft als „Taliban“ diskreditiert und durch die Angriffe von NATO-Einheiten erst in die Arme der Aufständischen getrieben. Häufig riefen lokale Gemeinschaften dann tatsächliche Taliban oder andere bewaffnete Gruppen zu Hilfe, wenn sie befürchteten, dass die Regierungsorgane oder NATO-Einheiten gegen ihre Mohnfelder oder andere Interessen vorgehen oder lokale Konkurrenten begünstigen könnten. Gleichzeitig blieben die Anbaugebiete und Interessen von „regierungsnahen“ Gemeinschaften (also den lokalen Mächtigen) unangetastet.
Eine tiefe Kluft zwischen Demokratisierungsrhetorik und Realpolitik
Ein weiterer strategischer Grund für das Scheitern des Westens in Afghanistan ist die tiefe Kluft zwischen Demokratisierungs- und Entwicklungsrhetorik auf der einen Seite und sicherheitspolitischer Realpolitik auf der anderen Seite. Immer wenn die sicherheitspolitischen Eigeninteressen und die Stärkung demokratischer Staatlichkeit kollidierten – und das war fast immer der Fall – entschieden sich die USA und die NATO-Staaten für die Wahrnehmung der eigenen Interessen – auch auf Kosten der Schwächung des afghanischen Staates. So haben die US-Special Operations Forces einheimische Warlords bezahlt, bewaffnet und instrumentalisiert, wenn es nützlich schien (also ständig), obwohl genau diese ein ebenso ernstes Hindernis beim Aufbau demokratischer Staatlichkeit darstellten (und darstellen) wie die Taliban. Heute ist der afghanische Staatsapparat auf allen Ebenen von kriminellen und räuberischen Strukturen zerfressen, von der lokalen Polizei bis in höchste Staatsämter.
Und in vielen Fällen haben NATO-Einheiten – voran das US-Militär und ihre Special Forces – in der Bevölkerung diskreditierte Warlords (z.B. Shirzai in Kandahar) erst wieder mächtig gemacht und sogar mit Staatsämtern versorgt. In anderen Fällen haben sie dabei zugesehen, wenn die afghanische Regierung dies tat. Tolerierte Wahlfälschung und der Ausbau Afghanistans zu einem Narco-Staat kommen dazu – alles trotz wiederholter Proteste durchgewinkt, um den „Kampf gegen die Taliban“ nicht zu stören. Dies ist am Ende eine der zentralen Ursachen, warum die Befriedung und Entwicklung Afghanistans politisch scheiterte und der Krieg verloren ging. Der Aufbau demokratischer Staatlichkeit blieb eine Schimäre – wichtig für die Legitimation des Krieges, aber vor Ort kaum erkennbar.
Reale Chancen wurden vertan
Der Afghanistankrieg war (und ist) nicht in erster Linie eine militärische Auseinandersetzung zwischen zwei (oder einer überschaubaren Zahl von) Konfliktparteien, die militärisch entschieden werden könnte. Es handelte sich – wie oben erläutert – vielmehr um ein ganzes Bündel von politischen, sozialen und kulturellen Konflikten, in denen die gewaltsame Austragungsform nur eine unter vielen Dimensionen darstellt. Nach dem Sturz der Taliban hat die strategische Herausforderung des Westens darin bestanden, den Aufbau eines legitimen Staates und einer funktionierenden Verwaltung zu unterstützen und zu begleiten. In den ersten zwei oder drei Jahren hat es dazu vermutlich sogar eine Chance gegeben. Doch anstatt die schlimmsten und verhasstesten Warlords, Kriegsverbrecher und Drogenbosse von der Macht fernzuhalten und vor Gericht zu stellen, versuchte der Westen, sich deren Unterstützung dadurch zu erkaufen, dass er ihnen Schlüsselpositionen, Waffen und Geld zukommen ließ. Dadurch wurden alle Anstrengungen zum Aufbau eines neuen, post-Taliban Staates torpediert, der das Vertrauen der Bevölkerung hätte gewinnen können.
Der politische Kern des Konflikts
Es ist natürlich nicht sicher, ob der NATO und den westlichen Ländern, einschließlich der zivilen Akteure, ein solcher Erfolg tatsächlich möglich gewesen wäre, aber auf jeden Fall machte die massive Betonung der Sicherheitspolitik auf Kosten des Aufbaus legitimer Staatlichkeit diese Chance zunichte. Diesen politischen Kern des Konflikts haben die westlichen Akteure zwar gelegentlich rhetorisch beschworen, aber nie ins Zentrum ihrer Analyse und der daraus abgeleiteten Politik gestellt. Damit aber war der Krieg nicht zu gewinnen.
Schon Clausewitz hat darauf hingewiesen, dass man den Charakter eines Krieges verstehen muss, um ihn für sich entscheiden zu können. Und der Afghanistankrieg war und ist im Kern eine politische Auseinandersetzung – genau deshalb war die überwältigende militärische Überlegenheit der NATO über die Taliban nicht kriegsentscheidend. Den Krieg wird letztlich derjenige gewinnen, der von der Bevölkerung als das kleinere Übel akzeptiert wird. Für die Zukunft Afghanistans bedeutet dies nichts Gutes. Die Wiederaufstockung der militärischen Präsenz der NATO in Afghanistan – der „Rückzug vom Rückzug“ – eröffnet weder eine militärische noch eine politische Lösungsperspektive. Sie hilft zwar, akute sicherheitspolitische Löcher zu stopfen, bietet aber keine Aussicht auf einen „Sieg“, den der Westen in der Vergangenheit schon mit weit mehr Truppen nicht erringen konnte. Zugleich spricht nichts dafür, dass der Aufbau einer legitimen und effektiven Staatlichkeit gelingen könnte, nachdem sich die westlichen Verantwortlichen so lange bei weit höherem Mitteleinsatz mit der Etablierung eines „potemkinschen Staates“ zufriedengegeben haben, der weder funktionsfähig noch legitim war und ist. Die bisherige Bilanz der von internen Rivalitäten gelähmten Koalitionsregierung unter Präsident Ghani – z.B. eine weiter um sich greifende Korruption – gibt keinerlei Anlass zu Optimismus.
Auch eine Verhandlungslösung mit „den Taliban“ erscheint wenig aussichtsreich. Die meisten Gruppen der Aufständischen glauben, eine solche nicht mehr nötig zu haben. Wie soll die Regierung denn ohne NATO-Unterstützung siegen können, wenn ihr dies mit der NATO nicht gelungen ist? Es dürfte zwar weiter zu Gesprächen oder gar Verhandlungen mit einigen Gruppen kommen, aber eine Friedenslösung wird es so nicht geben. Das wahrscheinlichste Szenario besteht heute nicht im militärischen Sieg einer Seite, sondern in der Aussicht, dass sich die Regierungsseite bei abnehmender westlicher militärischer und finanzieller Unterstützung fragmentieren könnte – auch eine weitere Aufspaltung der Aufständischen erscheint möglich. Das erinnert an das Schicksal der Regierung von Präsident Najibullah, die nie militärisch geschlagen wurde, aber ihre politische Basis verlor, als die Sowjetunion nach ihrem Rückzug 1989 ihre Alimentierung einstellte.
Literatur
Hippler, Jochen(2010): Die neue Afghanistan-Strategie der Regierung Obama, in: Fröhlich, Christiane / Johannsen, Margret /Schoch, Bruno /Heinemann-Grüder, Andreas /Hippler, Hippler (Hrsg.): Friedensgutachten 2010, Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Bonn International Center for Conversion (BICC), u.a., Münster 2010, S. 63-75.
Hippler, Jochen (2011): Versöhnung und Reintegration: Mittel zum Frieden mit den Taliban? In: Deutsche Stiftung
Friedensforschung (2010): Mit Hamas und Taliban an den Verhandlungstisch? – Möglichkeiten und Grenzen der Einbindung von Gewaltakteuren in Friedensprozesse. Beiträge zum Parlamentarischen Abend der DSF am 28. September 2010 in Berlin, Osnabrück 2011, S. 16-26.
Hippler, Jochen (2011): Strategische Grundprobleme externer politischer und militärischer Intervention – unter besonderer Berücksichtigung der Krisensituationen des Nahen und Mittleren Ostens, INEF-Report 103, Duisburg 2011.
Abbas, Hassan (2014): The Taliban Revival – Violence and Extremism on the Pakistan-Afghanistan Frontier, New Haven, CT: Yale University Press.
Dodge, Toby/ Redman, Nicholas (Hrsg.) (2011): Afghanistan to 2015 and Beyond, London.
Dorronsoro, Gilles (2000): Revolution Unending – Afghanistan: 1979 to the Present, London: C Hurst & Co Publishers.
Martin, Mike (2014): An Intimate War – An Oral History of the Helmand Conict, London.