Wo gibt es Vorbilder? Die heute bereits zeigen, wie wir leben, arbeiten, wohnen, uns fortbewegen, produzieren, ohne die Natur (und uns) zu ruinieren? In vielen Städten ist dieser Wohlstands-Fortschritt, sind diese kleinen Transformationen schon zu erleben. Leider meist im Ausland, weniger bei uns.
Birmingham, zweitgrößte Stadt Großbritanniens, kündigte Anfang 2020 einen radikalen Umbau der Stadt-Mobilität an. Das Netz aus Metro- und Buslinien soll verdreifacht, in der Innenstadt der Autoverkehr drastisch reduziert, die Geschwindigkeit generell auf 20 Meilen (32 km/h) begrenzt, das Parken verteuert werden.
Im belgischen Gent soll bis 2030 der Fahrradverkehr von 22 auf 35 Prozent erhöht werden. Das wurde 2017 beschlossen, schon 2019 war dieses Ziel erreicht. In Kopenhagen (2018: Anteil Fahrradverkehr 49 Prozent), Oslo und Wien liegen die Anteile ebenfalls seit wenigen Jahren bereits recht hoch. „Fast die Hälfte aller Kopenhagener fährt mit dem Rad zur Schule oder zur Arbeit; die Zahl der schwer verletzten Radler hat sich seit 2005 halbiert – und 80 Prozent sagen nun, dass sie sich im Verkehr sicher fühlen“, schreiben die Stadtplaner Robert Kaltenbrunner und Peter Jakubowski in ihrem Buch „Die Zukunft der Stadt: Wie wir leben wollen“.
Seltsam, dass Autos erlaubt waren
Auch Oslo begann bereits 2015, Autos aus der Stadt zu drängen: wie überall mit der Folge mehr Platz, mehr Sicherheit, bessere Luft. Das Magazin „Stern“ zitierte vor zwei Jahren Vizebürgermeisterin Hanna Marcussen: „Für uns sollte die Straße der Ort sein, an dem man Menschen trifft, in Außenrestaurants isst, an dem Kinder spielen und Kunstwerke ausgestellt werden.“ Einer der schönsten Plätze der Stadt liege vor dem Rathaus. Der sei vor kurzem noch eine Kreuzung mit Parkplatz gewesen. „Als wir das Projekt vor etwa einem Jahr abgeschlossen haben, dachten die Leute, es sei seltsam – aber jetzt finden sie es seltsam, dass wir Autos überhaupt erlaubt haben, dort durchzufahren und zu halten.“
Es gibt eine Verkehrswende in New York: seit Monaten werden Autospuren verschmälert, ein Netz von Radwegen angelegt, die Zahl der Expressbuslinien erhöht, Bussen eigene Spuren zugebilligt. Wien ist da schon lange viel weiter: Systematisch wurde der Autoverkehr in der Innenstadt verringert, überall gilt Tempo 30, kostenloses Parken ist komplett gestrichen, die Jahreskarte für den öffentlichen Nahverkehr kostet 365 Euro; im kleinen Frankfurt kostet sie beinahe 900 Euro, also deutlich mehr als das Doppelte. Und Österreich ist im Moment dabei, diese Art des Jahrestickets auf das ganze Land zu übertragen.
Im Sommer 2020 wurde mitten in Wien auf einer großen Kreuzung ein Schwimmbad installiert — einfach um mal kreativ zu zeigen, dass der wertvolle Platz in den Innenstädten auch für Sinnvolles, Klima- und Menschenverträgliches verwendet werden kann.
Ob London, Oslo, Kopenhagen, Wien, Birmingham, New York, Barcelona oder …. auch London traut sich was: City-Maut, Radschnellwege für Pendler und Pendlerinnen, Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, mehr Fußwege, mehr Bäume.
Und in Barcelona bleiben nur noch die Ausfallstraßen frei für Fahrzeuge mit Verbrennungs- antrieb. Fahrradwege und Busangebote werden stark ausgebaut. Ein Zwischenziel: Zwei Drittel der Einwohner der katalanischen Metropole sollen in Stadtteilen leben, in denen der Autoverkehr begrenzt ist. Ein Kurs, über den (selbstverständlich?) hart gestritten wird.
Und dann noch Paris: Seit inzwischen sieben Jahren wird unter der Bürgermeisterin Anne Hidalgo, Sozialistin, eine neue Mobilität installiert, in ihrer Radikalität bei uns bisher undenkbar: viel mehr Grün, Rückbau von Autostraßen, etwa 300 Kilometer neue Radwege und ab 30. August auf den meisten Straßen Tempo 30. Ihr Ziel: Sie will jede Straße in Paris fahrradtauglich machen. Anne Hidalgo will „die Stadt vom Auto befreien“; übrigens auch von anonymen rücksichtslosen Investoren und Spekulanten. Sie wurde 2014 erstmals in dieses Amt gewählt, vor einem Jahr, 2020, gegen harte politische Konkurrenz mit knapp 50 Prozent der Stimmen wiedergewählt.
Ihr bisher letzter Coup: Die Ringautobahn rund um Paris soll zum Stadtboulevard umgebaut werden. Noch eine Kleinigkeit am Rande: Wie die Urban Farming-Aktivistin Laura Setzer berichtet, gibt es in Paris bereits auf 40.000 Quadratmetern Flachdächern einen Gemüsegarten; in Frankfurt, dort lebt sie, keinen einzigen.
Ein Hinweis: Das protestantische Magazin „chrismon“ hat sich in einer seiner letzten Ausgaben intensiv mit Städten und Gemeinden beschäftigt: wie gehen Verkehrswende und ökologischer Umbau konkret? Sehr lesenswert.
Kein Zweifel: Überall löst der neue Kurs Streit aus. Die Niederlande gelten heute als Fahrradparadies, und sind das auch. Dieser Status Quo wurde politisch hart erarbeitet. Die Wende kam nach und nach in den 1970er Jahren. Erst gab es Massenprotesten gegen den ausufernden Autoverkehr, der Menschen gefährdete, viel Fläche beanspruchte, die Luft vermieste. Der Durchbruch kam aber erst mit dem damaligen Ölpreisschock: Überall wurden breite Radwege, getrennt vom Autoverkehr gebaut. Seither wird geradelt.
Warum geht es dort voran, hier nicht?
Warum geht es an einer Stelle voran, an anderen nicht. Offen gefragt: Gibt es Antworten darauf? Etwa Untersuchungen? Wichtig wäre es schon zu wissen: Warum sind Wien, Oslo, Paris … so weit weiter? Was sind die Ursachen? Was können die, die hier verändern wollen, davon lernen? Ist es die Tradition in diesen Städten und Regionen? Sind es einzelne besonders weitsichtige mutige Männer und Frauen, wie beispielsweise Anne Hidalgo? Was gibt den Ausschlag: einzelne aktive Menschen, die andere überzeugen, die jeweilige Tradition, Zufälle, die jeweiligen Machtverhältnisse?
In Deutschland ist vieles ganz anders. Bestenfalls gibt es kleine Vorbilder: Städtchen wie Münster, Tübingen und Freiburg. Das ist alles. Oder gibt es noch weitere Vorbilder, die nur nicht bekannt genug sind?
Was bekannt ist: Jedem, der verändern will, werden auch bei Kleinigkeiten gerne Asphalt und Beton zwischen die Beine geworfen. Beispiel: Will eine Stadt irgendwo Tempo 30 einführen, beispielsweise vor einem Altenheim oder einer Schule, dann kommt dies einem Gewalt-, mindestens einem Kraftakt gleich. Die neue Regel muss beantragt, ausführlich gegründet und in jedem Fall genehmigt werden, vom Bundesverkehrsministerium; das genehmigt natürlich nur in Ausnahmefällen. “Dabei wäre Tempo 30 ein riesiger Dienst für die Verkehrssicherheit”, wird Detlev Lipphard, Deutscher Verkehrssicherheitsrat, in Medien zitiert. Und wie ist das in Spanien? Seit Mai diesen Jahres ist dort in allen Städten und Gemeinden generell Tempo 30 vorgeschrieben; nur auf mehrspurigen Straßen darf noch 50 gefahren werden, auf schmalen sogar nur 20 km/h. Der VCD (Verkehrsclub Deutschland) sagt dazu: „Auch hierzulande muss 30 das neue 50 werden.“ In Deutschland gibt es inzwischen sieben Städte, die gemeinsam die entsprechende Erlaubnis beim Bund beantragt haben. Andy Scheuer, CSU, wird das schon stoppen.
Die alte BRD mit Fortschritten von „unten“ modernisiert
Dabei zeigt ein Blick zurück auf die Reformphasen der alten Bundesrepublik: Reformen und Modernisierungen wurden oft erst einmal „unten“ ausprobiert und erlebt. Das erst verschaffte dem Neuen Ausstrahlung und Faszination. Der Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel war bundesweit Vorbild, weil er mit seinem rigiden Bodenrecht nicht nur die Baupreise im Zaum hielt, sondern so mit dem ökologisch wertvollen Boden behutsam umging und ihn nicht an Investoren verschleuderte. Und Hans-Jochen Vogel schuf — die Olympiade 1972 war der Anlass — ein modernes leistungsfähiges öffentliches Nahverkehrsnetz in München und im Großraum München.
Ministerpräsident Georg-August Zinn, Ministerpräsident von wurde Hessen (1950-1969) ließ eine fortschrittliche aufklärerische Bildungspolitik entwickeln und umsetzen. Er konnte seiner Politik das Label „Hessen vorne“ draufkleben und er blamierte sich damit nicht. Im Gegenteil: Hessen war Vorbild, umstritten, klar, weil die fortschrittliche Politik von den Konservativen selbstverständlich bekämpft wurde, also strittiges Vorbild. Kein Zufall, dass in Hessen mit Generalstaatsanwalt Fritz Bauer die Verfolgung der Nazi-Verbrechen („Ausschwitzprozesse“) mit Meilenstiefeln vorankam; aber nur, weil ein mutiger Ministerpräsident Georg-August Zinn seinen Generalstaatsanwalt gegen die Alt-Nazi in Justiz und Adenauer-Kanzleramt schützte.
Es wäre ein Fehler, eine solche gelebte fortschrittliche Politik kleinzureden: das war ja nur in Hessen, das nur in München. Denn solche Beispiele „unten“ zeigen immer allen anderen: Es geht auch anders, die machen es anders und es funktioniert. In dieser Vorbildfunktion liegt der eigentliche Wert solcher einsehbaren Fortschritte im Lokalen und Regionalen.
Wo gibt es diese Vorbilder heute in Deutschland? Die eben fähig sind, eine fortschrittliche Politik auf Bundesebene zu beleben und fördern? Es gibt die bereits genannten Mittelstädte.
Und klar: Es gibt zahllose Bürgerinitiativen, die Neues auf die Beine stellen, damit auch Anregungen liefern; worüber das oben bereits erwähnte Magazin „chrismon“ in seiner Doppelausgabe Juli/August ausführlich berichtet. Beispiel Siegen, 100.000 Einwohner: Mitten in der Stadt wurde die Sieg wieder zugänglich gemacht, also renaturiert, und ebenfalls mitten in der Stadt zog die Universität mit einem neuen Hörsaalzentrum in die oberste Etage von Galeria Karstadt Kaufhof. In der Hamburger Altstadt gründeten Bürgerinnen und Bürger eine Genossenschaft, die ein Parkhaus erwarb, um es zu 80 Wohnungen umzubauen. Eine Initiative bastelt mitten in Berlin, nahe der Museumsinsel, an einem Flussbad. Im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg will der Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes möglichst viele der 50 Hektar Parkplätze in seinem Bereich in Grün umwandeln: Rasen, Sträucher und Bäume rein, Asphalt und Beton raus, zudem Schulhöfe entsiegeln, Gebäude begrünen, und überall die guten alten Parkbänke hinstellen. Seit 2009 wird der Potsdamer Stadtteil Drewitz zu einer emissionsfreien Zone umgebaut: eine vierspurige Durchfahrtsstraße verschwand buchstäblich, weil sie nach und nach zugunsten von Fußwegen, Grünflächen und Begegnungszonen zurückgebaut wurde. Grüner, leiser, menschlicher. Fahrradfahren gehört in dieser Gartenstadt inzwischen so zum Alltag, wie einst das Autofahren. Und in Düsseldorf gibt es seit 2020 mit dem Kö-Bogen II ein begrüntes Prestige-Projekt, das Vorbild in Europa ist.
Es gibt also zahllose sehr kleine Beispiele, die Mut machen. Aber fast nirgends schmiedet Politik aus diesen lokalen und regionalen Anstrengungen ein politisch bedeutsames Projekt mit Ausstrahlung. Fehlanzeige.
Das Neue erlebbar machen
Auch dort wo beispielsweise die Grünen schon lange regieren und das Sagen haben, hat es zu einer Vorbild-Politik noch nirgends gereicht. Obwohl Deutschland und viele seiner Zentren, ob der Großraum Stuttgart, München oder das RheinMain-Gebiet, wirtschaftlich reich sind, also sich erlauben könnten, viel zu experimentieren, Neues zu erproben, Umstiege sozial abzufedern und zu finanzieren.
Beispiel Stuttgart: Fritz Kuhn regierte von 2013 bis 2020 als grüner Oberbürgermeister die baden-württembergische Landeshauptstadt. Er hatte also acht Jahre Zeit die ökologische Lage der Porsche- und Daimler-Stadt zu verbessern. Er versprach eine Verkehrswende und wenigstens die Verringerung der Zahl der Autos um 20 Prozent. Er versagte acht Jahre lang; obwohl die Grünen in seiner gesamten Amtszeit die stärkste Fraktion im Stadtrat stellten. Heute sind in Stuttgart mehr denn je Autos zugelassen: etwa 355 000 Personenkraftwagen bei 630 000 Einwohnern.
Wie sieht es in Baden-Württemberg und Hessen aus? Seit 2011 ist Winfried Kretschmann grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Seit 2014 regieren die Grünen um Tarek Al-Wazir zusammen mit der CDU; Al-Wazir ist Staatsminister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen und Stellvertreter des CDU-Ministerpräsidenten Volker Bouffier. Beide Bundesländer sind aufgrund ihrer Wirtschaftsstruktur sehr reich, haben also politisch einen großen Spielraum. Das Ergebnis: Obwohl die Grünen in Hessen und Baden-Württemberg viele Jahre regieren, sind sie ökologisch alles andere als Vorbild. Selbstverständlich finanzieren sie Radwege, lassen viele Bäume pflanzen und erweitern Naturparks. Aber letztlich gerieren Kretschmann wie Al-Wazir sich als Staatsdiener der Autoindustrie und bestenfalls als Nachzügler in Sachen Windenergie.
Die Gefahr, die auch für die Grünen von diesem Defizit ausgeht: Wenn es weder ökologische Vorbilder in Städten noch Bundesländern gibt, was wollen die Grünen dann in Berlin und dort sogar im Kanzleramt erreichen? Sie hängen politisch buchstäblich in der Luft, haben für ihre auf Papier niedergeschriebenen guten Vorhaben keinen Boden unter ihren Füßen.
Dringend gesucht: Aufbruchstimmung
Die Beispiele zeigen: Um für Veränderungen Rückenwind und Boden unter die Füße zu bekommen, sind nicht nur die konkreten (erst einmal kleinen) Veränderungen in Städten von Bedeutung, sondern auch die in ländlichen Regionen. Warum sind die so wichtig? Ganz einfach: Über wichtige Zukunftsfragen wird auf dem Land entschieden. In Berlin-Mitte, Frankfurt und Hamburg wird kein Windrad installiert, aber in den ländlichen und vergleichsweise gering besiedelten Regionen. Dort wird auch konkret über die Frage entschieden: Wie werden künftig unsere Nahrungsmittel hergestellt: industriell oder handwerklich, mit Gentechnik oder via Bio-Landbau? An dieser bedeutenden Schnittstelle setzt beispielsweise diese neugegründete Ideenwerkstatt zur Dorfzukunft an.
Es gibt übrigens große Vorbilder, die zeigen: Sogar ganze Nationen sind zu schnellen enormen Veränderungen fähig: wie die USA in den 1930er Jahren zu Zeiten der Regierung von Delano Roosevelt.
Der Politikwissenschaftler Steffen Lehndorff zieht aus diesem Vorbild die Lehre: Es reicht nicht, eine neue Regierung zu haben. Es bedürfe beides, einer mutigen Regierung und einer „gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung“, einer „machtvollen gesellschaftlichen Reformdynamik“. Die sei damals unter Roosevelt mit neuen „identitätsstiftende(n) Institutionen und Reformprojekten mit Symbolkraft“ in Gang gesetzt werden.
Solche Projekte könnte es auch auf kommunaler oder regionaler Ebene geben. Es sei also, so Lehndorff, für die gesamte Republik entscheidend, was „unten“ passiert. Oder was dort eben nicht passiert.
In diesem Text wird mit bestem Wissen und Gewissen durchgehend die weibliche Form verwendet. Damit sollen jedoch alle Menschen angesprochen und keiner ausgeschlossen werden.