Der Wahlkampf 2021 war ein besonderer Wahlkampf. Keine Amtsinhaber*in, Pandemie-Einschränkungen und drei allenfalls mittelmäßig überzeugende Kandidat*innen. Es war der Wahlkampf der systematischen Verharmlosung, des cleveren Framings, der Intrigen und des Sturmlaufs eines Stoikers.
Im Folgenden als Lesestück die vier Thesen von Horand Knaup und Wolfgang Storz, die sie im Podcast zum „Thema der Woche“ diskutieren.
I. Droht eine Klimakatastrophe? Oder nur ein niedlicher Klimawandel?
Die Sprache beeinflusst unser Denken. Und unser Denken mündet in Handeln oder Unterlassen. Wer in demokratischen Gesellschaften um Macht und/oder Mehrheiten ringt, für den ist die Sprache eines seiner wuchtigsten Kampfmittel. Umberto Eco, ehemaliger italienischer Schriftsteller und Philosoph, analysierte, für den Erfolg des Faschismus und der Rechtspopulisten sei es entscheidend, die Rhetorik eines einfachen Vokabulars zu beherrschen, die das Ziel habe, „die Instrumente komplexen und kritischen Denkens im Keim zu ersticken“.
Vorab drei Beispiele, die belegen, wie Begriffe öffentliche Debatten prägen:
Steuerflüchtling oder Steuerkrimineller — wer will schon einem Flüchtling nicht helfen? Und wer ist gegen die Verfolgung und Bestrafung von Kriminellen? Mit anderen Worten: Die hunderttausenden meist begüterten bis reichen Steuerkriminellen haben natürlich ein sehr hohes Interesse daran, dass sie als Steuerflüchtlinge bezeichnet werden, nicht als Steuerkriminelle. Verwendet man dieses oder jenes Wort für denselben Tatbestand — die öffentliche Debatte darüber ist jedes Mal eine ganz andere.
Fluchthelfer oder Schlepperbande? Menschen- oder Fremdenfeindlichkeit?
Es geht also darum: genau zu analysieren, scharf zu unterscheiden, genau zu bezeichnen. Und so verhält es sich auch mit dem Thema Klima. Auch hier gilt: Wie wir sprechen entscheidet darüber, was wir tun oder unterlassen.
Wir haben die Auswahl: Klimawandel, Klimakrise, Klimakatastrophe. Welcher dieser Begriffe prägt die öffentliche Debatte?
Die Ereignisse — eine kleine Auswahl: 50 Grad Hitze in Kanada, in den Jahren 2018 und 2019 zwei extrem heiße waldzerstörende Dürresommer in Mitteleuropa, Venedig überflutet, auch das Ahrtal vor kurzem bei uns,…, die Liste ist endlos. Deshalb mein Schluss: Es naht auch in unseren Regionen eine Klimakatastrophe. Jede andere Wortwahl erfüllt wahlweise den Tatbestand der Propaganda der Verharmlosung, der bewussten Irreführung.
In die Katastrophe wandeln…
Welches Wort aber prägt die öffentlichen Auseinandersetzungen in diesem Bundestagswahlkampf? Klimawandel! Fast alle Politikerinnen und Politiker, fast alle Medien nennen die sich abzeichnende Tragödie Klimawandel.
Was ist das? Klimawandel ist vor allem nicht gefährlich, es wandelt sich halt etwas, vielleicht ist es sogar etwas angenehmes. Es wird ein bisschen wärmer und feuchter, aber das war es dann auch. Nichts, was beunruhigen müsste. Und wer etwas anderes behauptet, ist Alarmist.
Das heißt: Wer von Klimawandel spricht, der sollte in den Augen dieser Anti-Alarmisten natürlich was dagegen unternehmen, aber bitte in aller Ruhe, sehr moderat, nichts überstürzen, bloß keine Panik.
Wer dagegen von Klimakatastrophe spricht, der verpflichtet sich: zu schnellen tief greifenden Maßnahmen. Der sagt zugleich: Klima, das ist nicht nur ein Problem unter vielen, also eines wie Digitalisierung, Wohnungsbau, Mindestlohn, Rente, Gleichberechtigung undundund. Er signalisiert mit diesem Wort: Klimapolitik ist existenziell, wie die Bekämpfung der Corona-Pandemie. Beherrschen wir die Klimakatastrophe oder begräbt sie uns, so wie im Ahrtal? Klären wir dieses Problem nicht, dann ist alles andere irrelevant. Was hat der prekär Beschäftigte von seinen neuen zwölf Euro Mindestlohn, wenn er eventuell im nächsten Sommer wochenlang bei gesundheitsgefährdenden 40 bis 50 Grad leben und arbeiten muss und niemand ihm helfen kann, sich wirksam zu schützen?
II. Spannend – und trotzdem ein Wahlkampf der Ödnis
War das ein Wahlkampf, so wie es viele gehofft und manche auch gefordert hatten, ein Wahlkampf, in dem über Inhalte, Ideen und Konzepte gestritten wurde? In dem die großen Herausforderungen der bevorstehenden Dekade skizziert wurde? Also das Klima, die Rente, die Bildung, die Digitalisierung, der Einflusss Chinas? Wohl eher nicht, wenn man ehrlich ist. In Erinnerung ist ein bisschen Streit übers 1,5-Grad-Ziel, also den Schutz des Klimas, über Abstandsregeln (von Windrädern), ein bisschen Aufregung über Plagiate, Lacher an der falschen Stelle und eine Visiten der Staatsanwaltschaft. Und hängen geblieben sind auch ganz viele Fragen an die Kandidat*innen zu Koalitionsoptionen, also Rot-Grün-Rot, Ampel, Jamaika und welche Farbenspiele es sonst noch so gibt. Verknüpft mit absurden Aufforderungen, doch bitte dieses oder jenes auszuschließen.
Daran, dass der Wahlkampf so blutleer blieb, hatten die drei Kandidat*innen ihren Anteil, nicht zuletzt aber auch die Medien. Wenn ein Triell mit der Frage eröffnet wird, ob der SPD-Kandidat eine Rot-Grün-Rote Koalition ausschließen kann, weiß man eigentlich, dass der Fernsehabend schon gelaufen ist. Und wenn die grüne Spitzenkandidatin dann mit der Frage geködert wird, ob sie nicht doch Flugreisen verbieten will, weiß man außerdem, dass die Fragenden eigentlich kapituliert haben. Dass sie die Themen auch für den Rest des Abends eher flachwurzelnd zu Ende bringen wollen. 270 Minuten Triell – und keine einzige Frage zur Außenpolitik, zum transatlantischen Verhältnis, zu Europa, zu russischem Gas oder zu unseren unmittelbaren schwierigen Nachbarn im Osten. Keine einzige Frage zum Megathema Migration. Keine Frage zur künftigen Rentenpolitik, keine zu unseren Versorgungsengpässen in der Medizin oder zur Rolle der Wissenschaft, die, siehe Corona oder Klima, immer wichtiger wird bei der Bewältigung der Herausforderungen. Stattdessen immer wieder die hochgradig nutzlose Koalitionsfrage.
Selten inhaltsleer
Und auch die Kandidat*innen hielten die Karten eng an der Brust. Sie kannten nur eine Devise: Absolute Risikominimierung, nur in keine Falle laufen, nur kein Thema aufrufen, das heikel werden könnte. Großdebatten gab es in Bundestags-Wahlkämpfen schon länger nicht mehr. Ostpolitik, Nachrüstung, Deutsche Einheit, Agenda 2010, Steuerreformen – fast wehmütig erinnert man sich vergangener Zeiten. Wenn aber Wahlkämpfe Unterschiede offen legen sollen, wenn Journalist*innen genau daran mittun sollen, diese Unterschiede auch verständlich herauszuarbeiten, dann hat die Branche grotesk versagt.
Ja, es war ein selten inhaltsleerer Wahlkampf, sozusagen thematisches Ödland. Trotz gesellschaftspolitischer Spannungen und existenzieller Herausforderungen, wie wir sie mutmaßlich noch nie hatten. Spannend mag dieser Wahlkampf im Unterschied zu den vergangenen 19 Jahren bis zum Schluss gewesen sein – und doch ist irgendwas dabei gründlich schief gegangen.
III. Olaf Scholz, der letzte Stoiker vor der Katastrophe
Ataraxia, die Seelenruhe und Unerschütterlichkeit, das ist das höchste Ziel der Stoiker. Sie wollen sich immunisieren gegen Widrigkeiten des Lebens, gegen Unvorhersehbares und Schicksalsschläge. Das Adjektiv stoisch beschreibt Menschen, die unerschütterlich, stets beherrscht sind und emotional nicht schwanken. Es beschreibt Olaf Scholz.
Olaf Scholz ruht so sehr in sich, im Jetzt und Heute, dass er in diesem Wahlkampf d a s politische Beruhigungsmittel ist. Die älteste Partei Deutschland hat ihren erfahrensten Bundespolitiker ins Rennen geschickt: Er soll Kanzler werden. Ob Cum-Ex, Wirecard, Geldwäsche-Paradies Deutschland — wenige fragen und forschen, wo seine Schuld liegt. Viele loben: Das ist toll, wie ruhig-heroisch er die Vorwürfe abprallen lässt!
Nur keine Zumutungen
Scholz kennt — als der erfahrendste Bundespolitiker der ältesten Partei Deutschlands — zwangsläufig die politische Welt der vergangenen 30 Jahre nicht nur wie seine Westentasche, er ist in ihr verhaftet. Mit diesem Vermögen an Wissen, Erfahrung, Habitus und Gestik schafft er trügerische Ruhe und suggeriert: Liebe Leute, in meiner Ruhe liegt Eure Sicherheit. So glauben ihm mehr als bisher: Er wird alle Zumutungen möglichst lange von den Menschen fernhalten.
Unruhen und Zumutungen von Union und FDP: ob länger arbeiten, weniger Rente, Schulden verringern, Tarifrecht verändern, Privatisieren und noch einen Söder, der nie weiß, ob er grüner als Baerbock und Habeck sein will. Unruhen und Zumutungen von Grünen: andere Lebensweisen, Mobilitätswende, Energiewende.
Ach, all diese Unruhen und Veränderungen.
Dagegen steht das Programm des Stoikers: mehr Wohnungen, höhere Löhne, höhere Renten, genügend billiges Fleisch auf dem Tisch, bei jeder Überflutung Milliarden Euro an Soforthilfen, ohne Auflagen zig Milliarden für Lufthansa und TUI, ein CO2-Preis so niedrig wie möglich, den Kohleausstieg so spät wie möglich, nie weh tun, nie bohren, nie von Grund auf korrigieren, alles ganz moderat, ganz sanft.
Ein kurzer Blick weit zurück: Willy Brandt proklamierte bereits 1961 ehrgeizigen und vorausschauenden Umweltschutz: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.“ Und war damit erst einmal mutig einsam. Rätsel: Was müsste Olaf Scholz heute, 60 Jahre später, anpacken, um sich als ähnlich mutig-visionär auszuweisen? Olaf Scholz holt sich Anregungen bei Albert Einstein. Der sagte: Probleme können nicht mit der Denkweise gelöst werden, mit der sie verursacht wurden. Olaf Scholz, der letzte Stoiker vor der Katastrophe, versucht`s.
IV. Wenn eine Volkspartei implodiert
Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass wir am Wahlabend und in den folgenden Stunden der vorübergehenden Implosion einer Volkspartei beiwohnen: der CDU. Immer vorausgesetzt, die Umfragen bestätigen sich, und die SPD liegt zwei Prozent oder mehr vor der CDU/CSU.
Dann muss die Union ein Minus von 10 Prozent verdauen, ein Absturz, den ein Kanzlerkandidat normalerweise nicht überleben kann. Und sofort wird sich die Frage stellen, wer führt nach Armin Laschet die Partei in die Zukunft? Wer bringt sich dafür in Stellung? Wer gibt das Interview, das den Umsturz einleitet, und wem gelingt es, Allianzen zu bilden? Denn als Einzelkämpfer und nur mit Hilfe der Medien und der Öffentlichkeit geht in dieser Situation gar nichts. Und dann stellen sich genau drei Fragen: Gibt es eine Chance, sich irgendwie an der Regierung zu halten? Und wie rational – oder irrational – wird diese Frage behandelt? Die zweite Frage: Wer wird in den ersten Tagen danach Fraktionsvorsitzender? Und schließlich: Wer wird im Dezember neuer Parteivorsitzender? Es sind die ganz zentralen Fragen, denn mehr an Posten wären dann nicht mehr zu vergeben.
Es ist eine Monsterherausforderung für die neue Führung, denn nun wird offensichtlich, was Angela Merkel auch an jahrelanger inhaltlicher Auszehrung alles zugedeckt hat: Die Regierungspartei schlechthin hat keine Positionen, keine zum Mindestlohn, keine zur Zukunft der Rente, letztlich keine zum Klimaschutz und auch nicht zur Zukunft der Krankenversicherung. Die inhaltliche Entleerung der Volkspartei CDU ist dramatisch. Eigentlich gibt es keine Ideen für nichts, was vielen aber erst jetzt zum Ende der Ära Merkel auffällt.
Am Wahlabend: ein Franke in Berlin
Das ist eigentlich – abgesehen von der 18-Uhr-Prognose die spannendste Frage in den Stunden nach der Wahl. Zumal es heißt, dass schon in diesen Tagen sehr viel telefoniert wird, um für den Fall der Fälle vorbereitet zu sein. Abgesehen von der Überlegung, wie eigentlich der Franke Markus Söder aus der Sache herauskommt, der ja nicht unmaßgeblich zum mutmaßlich düsteren Ergebnis der Union beigetragen hat. Er hat sich Präsenz auferlegt und will am Wahlabend auch in Berlin sein will. Nicht wie Edmund Stoiber, der 2002 am Wahlabend in München ins Flugzeug stieg, wie der sichere Sieger aussah – und als er ausstieg, fehlten ihm ein paar tausend Stimmen.
Aber klar ist auch: Abschreiben sollte man die CDU/CSU auf gar keinen Fall. Sie kann sich rasend schnell erholen. Auch im Jahr 2000 dachte man, diese Partei ist am Ende, als sie 1998 nach der Ära Kohl an Rot-Grün übergeben musste und dann auch noch Kohls Spendenaffäre aufflog. Und dann, nur zwei Jahre später, war sie doch wieder da. Nur hauchdünn verlor Edmund Stoiber gegen Gerhard Schröder. Angela Merkel machte es dann besser.