Verwaltungs- oder Gestaltungsmehrheit: Geht es um Posten oder um tiefgreifende Lösungen?

Foto: ©Klaus Hansen

Sportlich machen Wahlergebnisse Spaß, bei denen die eine (eigene) Seite fulminant siegt und die Gegner mit langen Gesichtern in die Röhre schauen. So gesehen ist der Wahlkampf so spannend wie selten zuvor. Aber das ist der Kampf um die Verwaltungsmehrheit – mit den für die Akteure wichtigen Fragen, wer welchen Ministerposten bekommt und wer welche Narrenfreiheit für welche Nische ausleben kann.
Aber für alle, die der Ansicht sind, dass Deutschland und Europa vor gewaltigen strukturellen Herausforderungen stehen, für den ist die Koalitionsfrage bereits beantwortet: Nur eine Regierung mit verfassungsändernden Mehrheiten kann auf die Extremherausforderungen mit angemessenen Lösungen reagieren! Zwar sprechen viele von letzten Gelegenheiten, das Klima noch zu retten, Europa vor dem Zerfall und unsere Gesellschaft vor dem Auseinanderdriften zu bewahren. Aber ist das wirklich immer ernst gemeint?

Die vier Großherausforderungen

1. Die Umstrukturierung der deutschen (und über Brüssel) europäischen Ökonomie hin zur Klimagerechtigkeit. Die Mantra-Haftigkeit dieser Forderung verniedlicht das Problem eher. Es geht um nichts weniger als um einen noch nie dagewesenen Umbau der Produktions- und Konsumstrukturen – und dazu die außenwirtschaftliche Absicherung dieses inneren Umbaus; dieser Umbau geht viel weiter als nur der Ausbau regenerativer Energien und die Einführung anderer Antriebstechniken.

Es ist eine süffige Illusion von Industrie, Union, FDP und teilweise der SPD, dass technologische Innovationen eine weitgehende Fortsetzung des gegenwärtigen materiellen Konsums in Stil und Umfang ermöglichen. Eine ökologische Lösung braucht zwar jeden im Gesamtergebnis positiven technischen Fortschritt. Aber eine Wiederauflage des Atomenergiedenkens von 1970, diese Vorstellung, dass mit irgendeinem technischen Wundertrick alle Verbrauchsgrenzen gesprengt werden könnten, dürfte schnell auf dem harten Boden der Tatsachen landen: Weder ist regenerative Energie grenzenlos (Bau, Wartung, Entsorgung, Stromtransport), noch sind bekanntlich die für die Digitalisierung benötigten Rohstoffe grenzenlos vorhanden – im Gegenteil!

Im Ergebnis heißt das ehrlicherweise: Es geht um ein „Weniger ist Mehr“. Wesentlich weniger Autos (höchstens ein Drittel der heutigen Zahl) und dadurch ein Mehr an begrünten, ruhigen Straßen und neue kleinere Wohnungen auf ehemaligen Autoflächen statt auf der grünen Wiese. Urbanitätsluxus für alle, aber Auto-Nutzung in den Ballungsgebieten nur noch zu wesentlich höheren Preisen. Das gleiche gilt für den Fleischkonsum, Flugreisen und überdurchschnittlich große Wohnungen. All dieses Überdurchschnittliche muss teurer werden, auf der anderen Seite die ökologische Befriedigung der Grundbedürfnisse billiger und für alle leistbar: Kleine Wohnungen in angenehmer Umgebung, überwiegend nicht fleischliche, regionale Lebensmittel und hoch qualitativer öffentlicher Verkehr. Allein eine solche Umstrukturierung erfordert eine Herkules-Arbeit.

Eine solche ökologische Ökonomie verlangt eine außenwirtschaftliche Absicherung – mit einem Abschied von der „Globalisierung“, die auf ungebremsten Preiswettbewerb ohne soziale und ökologische Rücksichten beruht – im Gegensatz zum regelbasierten Welthandel vor der Globalisierung. Das durchzusetzen verlangt einen riesigen EU-politischen Kraftakt. Außerdem brauchen die Verlierer-Branchen einer solchen Klima-Ökologisierung eine großzügige Unterstützung, ohne die sie wie die sprichwörtlichen Ratten mit dem Rücken zur Wand kämpfen und blockieren werden.

2. Die Immobilien-Frage, die zum sozialen Hauptproblem geworden ist. Auch die Formulierung, dass „das Wohnen in vielen Städten unbezahlbar wird“, klingt abgedroschen. Aber es ist brutale Realität, und zwar nicht nur für diejenigen, die suchen; auch für die vielen Altmieter erwächst daraus ein existenzielles Bedrohungsgefühl, weil sie sich nicht sicher sein können, nicht auch eines Tages auf der Straße zu stehen. An diesem Punkt ist die Arm und Reich-Frage neu aktualisiert. Denn der Reichtum des einen Drittels oder Viertels der Gesellschaft bedeutet beim – auch ökologisch knappen – Gut Wohnen, die Armut der anderen! Ökologischer Neubau von kleineren Wohnungen ist gut – verlangt aber riesige Summen, auch weil Bauland zum Spekulationsobjekt des reichen Fünftels der Gesellschaft und deren Anlagefirmen geworden ist. Deswegen wird es mit Sicherheit keine Lösung geben, ohne eine Teilkomponente der Umverteilung!

3. Das Migrationsproblem ist in diesem Wahlkampf weitgehend an den Rand gedrängt worden, was eine Chance bietet, über sachliche Lösungen nachzudenken, ohne von der AfD das Messer auf die Brust gesetzt zu bekommen. Aber ich wage die Behauptung, dass sich das sehr bald und zwar dramatisch ändern wird. Zum einen weil es einen kontinuierlichen Einsickerungsprozess in die EU von Migranten gibt. Wer es, auch durch den Einsatz von Geld, in die EU schafft, wird mit 99% Wahrscheinlichkeit bleiben. Was das weitgehend verdrängte Strukturproblem von Problemvierteln in Richtung französischer Banlieus (auch bei uns) immer mehr verschärft.

Die andere Komponente der Verdrängung dieses Einsickerungsprozesses ist das Auseinander-Fliegen der EU. Nicht nur in Osteuropa. Sondern: Was ist, wenn Marine Le Pen zur Präsidentin gewählt würde…?

Ohne einen neuen Lastenausgleich keine echten Lösungen

4. Diese drei Mega-Probleme stehen in einem intensiven Zusammenhang mit dem Finanzierungs- Problem der öffentlichen Haushalte. Meine Prognose lautet: Schon wenige Wochen nach der Wahl wird die Lage der Staatsfinanzen viel dramatischer gezeichnet werden als zur Zeit. Der Unions-Voodoo von Steuersenkungen, Ausgabeerhöhungen und Schuldenbremse-Erhalt ist eher ein Zeichen für deren Einschätzung, dass Ehrlichkeit vor der Wahl sich überhaupt nicht lohnt. Allein schon die Aufrechterhaltung des finanzpolitischen Status Quo nach Corona verlangt also eine Riesen-Kraft-Anstrengung. Aber die Kosten für die Abfederung des oben beschriebenen größten ökonomischen Strukturwandels seit 150 Jahren und für die Lösung des dramatischen Immobilienproblems sprengt jeden Rahmen konventioneller Staatsfinanzierung.

All das verweist darauf, was 1952 von der Adenauer-Regierung zur ökonomischen Überwindung der Kriegsfolgen eingesetzt wurde: Einen Lastenausgleich, eine einmalige Abgabe damals in Höhe von 50% auf Sach- und Immobilienvermögen. Heute würden 20% auf alle privaten Nettovermögen (bei einem Freibetrag von 30 000 Euro pro Person) reichen, um die notwendigen ein bis zwei Billionen aufzubringen. Die von der Linken geforderte Abgabe NUR für Multi-Millionäre dagegen dürfte dagegen kaum etwas bringen und befriedigt vor allem emotionale Bedürfnisse. Stattdessen muss mindestens ein Drittel der Bevölkerung einbezogen werden. Es ist nicht einzusehen, warum die einen das berühmte „Oma ihr Häuschen” völlig unbelastet erben dürfen und die anderen trotz harter Arbeit Null-Chance auf eine Wohnimmobilie oder bezahlbare Wohnungen haben. (Wie eine solche Abgabe verträglich langfristig und human gestreckt werden kann, dafür gibt es viele Lösungen und Vorbilder). Vor allem aber: Nur ein solcher Finanzrahmen bietet ausreichenden Lösungsspielraum. Wer das nicht will, soll bloß nicht „der Politik“ vorwerfen, dass sie keine Probleme lösen kann.

Welche Koalition kann solche weitreichenden Lösungen durchsetzen?

Mit zwei Parteien (die AfD mal ganz ausgenommen) sind tragfähige Perspektivlösungen unmöglich: Die Linke und die FDP. Mit der Linken ist nur ein Weiter-So des Ignorierens der Ausmaße des Migrationsproblems möglich und mit der FDP als Partei der Besserverdienenden ist jede Lösung der extrem gewordenen sozialen Ungleichheit sowie eine echte ökologische Umstrukturierung von Anfang an blockiert.

Also bleibt nur eine gestaltungsfähige Koalition: Rot-Schwarz-Grün. Nur die drei Parteien können das Grundgesetz ändern, nur die drei können eine Mehrheit im Bundesrat organisieren, nur die drei haben im Zusammengehen eine Chance, dem jeweiligen gesellschaftlichen Gegenwind zu trotzen.

Aber warum sollten diese drei anders als Linke und FDP die Bereitschaft zur Selbstüberwindung haben?
Die FDP kann angesichts ihrer wohlhabenden Kernklientel auch dann weiter existieren, wenn die Gesamtgesellschaft in eine schwere Krise gerät. Und die linke Blase ist von der eigenen linken Rand-Identität bestimmt. Dass sie gerade wegen des Migrationsprobleme sehr viele WählerInnen an die AfD verloren hat, löst – außer bei Sarah Wagenknecht – kaum Debatten in der Linken aus.

Anders dagegen Union, SPD und Grüne, die als große Parteien sehr viel zu verlieren haben.

  • Wenn sich im ökologischen Bereich nicht spürbar viel zum Positiven ändert, werden andere ökologische Parteien die Grünen wahrscheinlich rupfen und zu einer Kleinpartei zurückstutzen.
  • Wenn die Union es nicht schafft, die migrationspolitsche Hilflosigkeit der europäsichen Staaten zu überwinden, dürfte die AFD fulminante Wahlergebnisse einfahren.
  • Und wenn die SPD keinen Erfolg bei der Lösung des Wohnimmobilien- und Mietenproblems schafft, dürfte Scholz die letzte Kugel im SPD-Colt gewesen sein.

Nur tatsächliche, als angemessen empfundene Lösungen können große Teile der Wählerschaft auf Dauer motivieren, an die großen Parteien binden und vor allem wieder Vertrauen in die Demokratie schaffen. Solche Lösungen brauchen große, verfassungsändernde Mehrheiten.

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Hendrik Auhagen
Hendrik Auhagen war in den 1980er Jahren für die Partei Bündnis 90/Die Grünen (Grüne) im Deutschen Bundestag. Er ist Mitglied der Expertengruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn und Mitgründer des Bündnisses Bahn für Alle. In den Jahren 1999 und 2000 unterrichtete er Deutsch an einem Kolleg in Legnica (Polen), von 2001 bis 2004 Deutsch und Gemeinschaftskunde in Bad Säckingen am Scheffel-Gymnasium, später am Friedrich-Wöhler-Gymnasium in Singen.

3 Kommentare

  1. Im Kern läuft diese einigermaßen dürftige Argumentation a) auf einen Wahlaufruf gegen FDP und Linke, b) auf ein Plädoyer für die grün aufgehübschte Fortsetzung der großen Koalition hinaus. Und das am Vortag der Wahl auf einem Blog für “Konstruktive Radikalität”. Ohje. Da will ich dann lieber doch nicht im Team dabei sein. Schade.

    1. Am Rande: Für einen Wahlaufruf war es doch sowieso zu spät.
      Und vor dem Hintergrund des Wahlergebnisses (Wegbrechen der Linken) ist es doch mehr als zuvor eine interessante Analyse: Welche Projekte sind entscheidend, wer behandelt sie wie? Es lohnt doch, liebe Ingrid Kurz-Scherf, sich damit zu beschäftigen, anstelle sich so herablassend zu äußern. Oder?

  2. Habe ich auch nicht als Wahlaufruf verstanden.
    Zudem wird aus machtpolitischem Kalkül keine Koalition zusammen kommen, bei der arithmetisch ein Partner überflüssig ist. Dennoch sind Auhagens Gedanken bedenkenswert. Die wesentlichen Problemfelder zeigt er auf.
    Die Wahlkämpfer haben das teilweise gelungen ignoriert. Insbesondere die permanente Illusion eines weiter so im persönlichen Konsumverhaltens und fröhlichen Wohlstandslebens (dem ich persönlich sicher etwas nachtrauern werde) bei gleichzeitigem kompletten Umbau von “Schlüsselindustrien”, der Energie-, Verkehrs- und Wohnungswirtschaft war schon von atemberaubender Ignoranz oder aber auch cleverer Einlullungstechnik. Zurecht stellt sich die Frage, wie solche epochalen Herausforderungen gemeistert werden. Wobei ich mich frage, ob die Spitzenkandidaten diese wirklich erkennen oder gar nicht erkennen wollen/wollten? Diskussionen, die fundamentale Probleme ansprechen und eventuell mehr Fragen aufwerfen als Sondierungsgespräche beantworten können oder wollen sind vermutlich nicht erwünscht und werden von den Strategen der Macht ja gerne als wirres Idealistentum abgetan.
    Nun bin ich wirklich gespannt welchen Preis Grüne und FDP für den Partner, der gerne den Kanzler stellt, aufrufen werden …

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