Vom Green Deal und den grünen Marsmännchen

Dem freien, vom Staat nicht gegängelten Markt verdankt man so einiges. Ans World Wide Web, den Navi im Auto, das Touchscreen des iPads oder an die Plauderei mit Siri wäre zu denken. Im Redemanuskript des Herrn Lindner könnte man sich einen solchen Lobpreis gut vorstellen. Der oberste FDP‘ler läge damit aber leider daneben. All die nützlichen Dinge gehen auf den Staat, genauer die US-Administration, zurück. Das Vorzeigeland des Liberalismus flankiert seine Ökonomie mit Industriepolitik. Die Bundesregierung macht nämliches; an fast der Hälfte der von den Liberalen so gerne bemühten Start-Ups ist der Bund mit seinem Wagniskapital beteiligt. Ohne Staatsknete kein Gründergeist.

Das von der Europäischen Kommission aufgelegte Konjunkturprogramm, Green New Deal genannt, mit dem bis zum Jahr 2050 CO2-freie Ökonomien europaweit geschaffen werden sollen, was soll dieses Programm anderes sein als Industriepolitik? Den Ausstoß einer Tonne Treibhausgas mit einem Preis belegen, ein Batterie-Konsortium auf den Weg bringen, die Wasserstoff-Technologie fördern, das Versorgungsnetz der erneuerbaren Energien ausbauen, die fürs E-Auto notwendige Infrastruktur der Ladesäulen bereitstellen, all dies lässt sich sinnvoll subsumieren unter das Wort Industriepolitik. Jedes privatkapitalistische Unternehmen, und wäre es so groß wie die Volkswagen AG, würde sich mit solchen Investitionen überheben.

Der Neoliberalismus ist passé

Die reine Lehre von den sich selbst regulierenden Märkten ist nur noch beim Herrn Lindner und den deutschen VWL-Professoren zu finden. Dort wird der Schwarzen Null unverdrossen magische Kraft zugesprochen und gilt die Theorie vom komparativen Vorteil als unanfechtbar. Was besagt diese Theorie? Ein Autobauerland wie Deutschland soll auf ewig mit seiner S-Klasse auf den Weltmärkten reüssieren, ein Land wie Portugal den komparativen Vorteil seines unschlagbaren Portweins nutzen. Die Abneigung deutscher Chefökonomen gegen Industriepolitik, der Konservatismus ihrer Theoriemodelle, sind eine einzige Schrulle.

In dem hier besprochenen Band „Perspektiven eines Industriemodells der Zukunft“ macht sich das ehemalige Mitglied des deutschen Sachverständigenrats, Peter Bofinger, ein wenig über seine alten Kollegen lustig. Man kann den Spott nachfühlen. Nicht rumgesprochen hat sich im Rat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, was im politischen Raum die Spatzen von den Dächern pfeifen: Der Neoliberalismus ist passé, die Debatte um das neu zu justierende Verhältnis von Markt und Staat ist längst eröffnet. Alle großen Industriestaaten haben unter dem Druck der vorm Virus in die Knie gegangenen Volkwirtschaften Konjunkturpakete geschnürt, und, sofern es ihnen möglich war, eine lange Phase der Kurzarbeit finanziert. Nur so ließen sich bisher Insolvenzen und massiver Jobverlust verhindern. Dass die Europäische Zentralbank schnell Liquidität bereitstellte und die Anleihemärkte der Nationalstaaten stabilisierte, diente dem gleichen Ziel.

Epochenumbruch scheint ein angemessener Begriff

Die Krise ist längst nicht ausgestanden. Der Leiter des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik, Thomas Bauernhansl, zitiert eine Studie, wonach 45 Prozent des deutschen Maschinenbaus gegenwärtig existenzbedroht sind. (Die Branche weist bald eine Million Beschäftigte auf). Corona gilt dabei gar nicht als ursächlich, sondern die betrieblichen Prozesse sind technologisch nicht auf der Höhe. Die Mittelständler der meist im Schwabenland angesiedelten Branche haben schlicht die Digitalisierung verschlafen. Corona verschärft nun noch zusätzlich die Malaise. Und kaum einen Software-Entwickler zieht es in die Täler rund um Stuttgart. Es fehlt dort an employer attractivness, wie die Autoren des IMU-Instituts schreiben. Eislingen an der Fils kann mit Berlin an der Spree nicht mithalten. In einer Kernregion des Industriestandorts Deutschland ist zudem das Breitband-Internet keineswegs gängig. Und das für die durchgehende Digitalisierung der Produktionsprozesse nötige G 5-Netz fehlt noch völlig. Zehn lange Jahre ist es her, dass das Label Industrie 4.0 mit viel PR-Tamtam aus der Taufe gehoben wurde!

Bedeutsamer noch als der Maschinenbau ist die Automobilindustrie. Nimmt man die Zulieferer und das Kfz-Handwerk hinzu, sind hier 2,2 Millionen Menschen beschäftigt. Bald 40 Prozent der in Deutschland ausgegebenen Forschungsbudgets wandern zu Daimler & Co. Jeder dritte deutsche Ingenieur ist für die Autobranche tätig. Sie macht gegenwärtig, schreiben die IMU-Autoren, das schwierigste Jahr der Nachkriegsgeschichte durch. Misslingt der Switch zum E-Automobil, der ja einem Epochenumbruch gleichkommt, stehen der deutschen Gesellschaft schwierige Jahre bevor. Die bei sogenannten Ingenieursdienstleistern Beschäftigten verlieren gegenwärtig reihenweise ihren Job.

Die Autoren Andreas Boes und Tobias Kämpf vom Münchner Institut für sozialwissenschaftliche Forschung schreiben: „Es gilt zu beweisen, dass das deutsche Produktionsmodell nicht nur Innovationen im Pfad beherrscht, sondern auch zu grundlegenden Innovationen und zu einem Paradigmawechsel in Richtung einer neuen Produktionsweise fähig ist.“ Epochenumbruch scheint ein angemessener Begriff. Wird der Umbruch gelingen? Die beiden Autoren der Aufsatzsammlung sind nicht die einzigen, die hinter den Satz ein dickes Fragezeichen malen.

Das Recht, dass es gerecht zugeht

Die Stärke der deutschen Autobauer gehört der Vergangenheit an. In kleinen Schritten haben sie das herkömmliche Produkt kontinuierlich mit ein paar Gadgets verbessert. Nun kommt die Sprunginnovation, eine Wortschöpfung der Bundesregierung, um das Fremdwort disruptiv zu vermeiden. Der mit dem E-Auto verbundene Sprung ist wahrlich riesig, und Tesla macht gerade vor, wie er gelingen kann. In für die deutsche Branche völlig neuen strategischen Feldern muss sie Fuß fassen, bei den Microchips, den Batteriezellen. Alles zukaufen, die altbewährte, billige Nummer, funktioniert nicht mehr.

Es sind ausgewiesene Fachleute, die hier schreiben, der Vorsitzende der IG Metall und sein für Industriepolitik zuständiges Vorstandsmitglied, Klimaforscher, Technologieberater, Verfasser von sogenannten Area Studies über China, Frankreich, Korea, Japan und Großbritannien. Wie geht Industriepolitik in diesen Ländern? Zwischen den Zeilen aller Beiträge, und bei Wolfgang Lemb, Wolfgang Schroeder und Anke Hassel explizit, kommt ein Petitum zum Ausdruck: Die Gesellschaft, die mit ihren Steuermitteln einspringt, um die gegenwärtige Krise zu bewältigen, hat sich das Recht auf einen Strukturwandel erworben, bei dem es gerecht zugehen muss. Druck auf die abhängig Beschäftigten auszuüben, sie mit drohendem Jobverlust gefügig zu machen, hat demnach zu unterbleiben.    

Die deutschen Konzerne werden mit riesigen Geldmengen bedacht. Wo aber bleibt die gesellschaftliche Debatte um die Verwendung dieser finanziellen Mittel? Mancher Autokonzern wird als notleidend gesponsert, der seine Aktionäre mit Dividenden noch ordentlich erfreut. Mehrere Autoren klagen solche Debatten ein. Der technologische Umbruch und der ihn steuernde Staatsinterventionismus sollten, so die Hoffnung, von einer politisierten Öffentlichkeit begleitet werden. Was heute Zivilgesellschaft heißt und einmal bürgerliche Gesellschaft hieß, dem fällt doch gegenwärtig eine Chance zu. Ergreift sie die Chance nicht, wird der Epochenumbruch als ein bloß technologischer in die Geschichte eingehen, mit verheerenden sozialen Folgen. Das Primat des Politischen über das Ökonomische durchzusetzen, steht an.

Transformations-Beiräte als Zentren kritischer Öffentlichkeit

Ein Beispiel aus dem Buch: Die deutsche Regierung fördert mit riesigen Summen und mit sechs Kompetenzzentren die unter Künstliche Intelligenz (KI) firmierende Technologie. Wie lassen sich mit KI das Gesundheitswesen modernisieren, für ein individuelles Krankheitsbild passende Arzneimittel entwickeln, die klinische Diagnostik verbessern, oder Verkehrs- und Energienetze steuern? Gesponserte KI mit dem Zweck, noch gezieltere Werbung unters Volk zu bringen, das kann’s wohl nicht sein. Wie sieht die politische Ökonomie dieser Technologie aus, fragen die Wissenschaftler. Wie verändert sie die Ökonomie des lebendigen Arbeitsvermögens? In einer entpolitisierten Öffentlichkeit taucht eine solche Frage auf, als hätten Marsmännchen sie gestellt.

In mehreren Beiträgen des Sammelbandes ist von Transformations-Beiräten die Rede. Aus Wissenschaftlern, Parteipolitikern, Unternehmern und Gewerkschaftern sollten sie sich zusammensetzen. Diese Beiräte wären als der Nucleus einer kritischen, die Industriepolitik begleitenden Öffentlichkeit zu verstehen. Die Debatte um die Mitbestimmung in den Betrieben könnte ihre eingefahrenen Gleise verlassen. Nicht bloß das Wie, auch das Was der gesellschaftlichen Produktion, der gesellschaftliche Nutzen der Güter und ihre Naturverträglichkeit, stünden gesellschaftlich zur Debatte.

Neue, vom Staat gleichsam vorfinanzierte Technologien, sind so zu auszurichten, dass sie soziale Verwerfungen verhindern, statt sie zu verschärfen. Der Qualifizierung, der Bildungspolitik als Teil der Industriepolitik, kommt eine eminente Bedeutung zu. Die Neue Rechte lebt von den Abgehängten der Altindustrien; auch in den deutschen Landen ist rost belt zu finden, ein mittlerer Westen wie in den USA. Solche aufgelassenen Industrieregionen mit neu angesiedelten Betrieben eine Zukunft zu verschaffen, hilft, den Rattenfängern das Geschäft zu verderben.

Es sind viele Wenn und Aber, die einen allzu optimistischen Blick in die nahe Zukunft trüben. Von einem Momentum, von einem offenen Fenster, ist in einem Text die Rede. Die Desintegration dessen, was einmal Sozialpartnerschaft hieß, ist weit fortgeschritten. Wer weint ihr eine Träne nach? Die nachfolgende Generation der Beschäftigten weiß gar nicht mehr, was damit einmal gemeint war. Wolfgang Schroeder und Anke Hassel schreiben, was beinahe einer Verlustanzeige gleichkommt. Im Westen Deutschlands gilt nur noch in 17 Prozent der Betriebe ein Tarifvertrag; im Osten gar nur noch in fünf Prozent. 1984 erfassten diese Verträge noch 77 Prozent der Beschäftigten, heute sind es gerade noch 45 Prozent. Die alte Deutschland AG ist längst in Konkurs gegangen, denn viele Unternehmen haben ihre Verbände verlassen, und so ist aus einem geregelten Griechisch-Römisch der Tarifpartner in vielen Branchen und vor allem den kleinen Betrieben ein Freistil-Ringen geworden.

Merkwürdiger Techno-Nationalismus

Auf Sozialpartnerschaft haben große Teile des Unternehmertums längst keine Lust mehr und sie bleiben nur dabei, wenn der Sparingspartner noch bei Kräften ist, wie in der Metall- und Chemieindustrie. Wo es eine starke IG Metall und IG Chemie gibt, kommen noch Verträge zustande, die den Strukturwandel abfedern, einen Schutzschirm entfalten und Kündigungen ausschließen (bis ins Jahr 2030 bei manchen Autokonzernen). Wo Betriebsräte und Gewerkschaften fehlen, weht dagegen der Wind frisch ins Gesicht. Dass die heutigen Angestellten – im Unterschied zu ihren Vorläufern, den Arbeitern – in den Gewerkschaften keine Vertretung ihrer Interessen sehen, spielt den ökonomisch Mächtigen in die Karten. Was als Individualisierung und Singularisierung soziologische Karriere macht, erweist sich als Zerbröselung der Gesellschaft. Wo es angeblich weder Mächtige, noch übergreifende Interessen, noch Lohnarbeit gibt, braucht es keine Gewerkschaft.

Das hier besprochene Buch ist eine Publikation aus dem gewerkschaftlichen Umfeld. Warum, muss man fragen, haben Gewerkschaften in ihren Häusern keine Journalisten sitzen, die aus der Fachwissenschaft ins Politische übersetzen können. Weil sich ihr Geschäft, Jobs und Existenzen zu retten, von selbst versteht? In einem Kapitalismus, der aus Technik und Wissenschaft eine Ideologie macht, versteht sich gar nichts von selbst. Die in dem Buch vorgelegten Texte sind für Nicht-Wissenschaftler wahrlich nicht leicht zu lesen. Manchmal taucht auch ein etwas merkwürdiger Techno-Nationalismus auf. Dann werden „wir angegriffen“ und die Angreifer sitzen wahlweise im Silicon Valley, in chinesischen Shenzen oder in Südkorea. Der Tonfall, mit dem mancher Funktionär der Unternehmensverbände spricht, hört sich schrill an, wenn er aus einer Organisation kommt, für die Solidarität und Internationalismus keine Fremdwörter sein dürften.

Die Unternehmensverbände verfolgen das Interesse, die staatliche Industriepolitik der öffentlichen Debatte zu entziehen (denn im Dunkeln lässt sich gut munkeln). Sie versuchen, das Niveau der Debatte nach unten zu drücken. Den Verfechtern einer demokratisch legitimierten Industriepolitik wollen sie mit Konkretismen kommen. Danach droht der Benzinpreis unendlich zu steigen, kommt das Eigenheim auf den Index und wird der Flug nach Mallorca gecancelt. Sie streben das Niveau der BILD-Zeitung an, denn auf diesem Niveau zerbröselt jede Debatte. Diese zu organisieren, eine diskutierende Öffentlichkeit zu restituieren, sind die Grünen, die SPD und die Gewerkschaften aufgerufen. Die gerade anlaufenden Ampel-Koalitionsverhandlungen sind dafür nicht der schlechteste Zeitpunkt.

Wolfgang Lemb (Hrsg.): Perspektiven eines Industriemodells der Zukunft
Metropolis-Verlag, Frankfurt a. M. 2021 
313 Seiten, 19,80 EUR
ISBN-Nummer 978-3-7316-1475-3

Die Rezension erschien zuerst bei Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

Peter Kern
Peter Kern hat Philosophie, Politik und Theologie in Frankfurt am Main studiert, war kurzzeitig freier Journalist, dann langjähriger politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall und ist nun wieder freier Autor und Mitarbeiter der Schreibwerkstatt Kern (SWK).

1 Kommentar

  1. Viele sind sich sicher schnell einig, wenn es gegen die FDP und ihre Ablehnung von Industriepolitik geht. Schwieriger wird es, wenn die Frage behandelt wird, was mit der Industriepolitik erreicht werden soll und was vor allem die in der sehr informativen Rezension genannten Akteure mit dieser erreichen wollen. Das Ergebnis bisher: mit hohem Aufwand der Aufbau einer Industrie, die seit langem in einem stabilitätsgefährdenden Maße exportabhängig ist. Aus dieser Exportabhängigkeit wurde dann nach und nach die Abhängigkeit von einer soft-imperialistischen Diktatur in China, ob Automobil oder Maschinenbau. Muss diese fahrlässige Schräglage auch noch mit zig Steuermilliarden finanziert werden? Und keine dieser Steuermilliarden, die den meist sehr profitablen Konzernen (im Organisationsbereich der IG Metall) überwiesen wurden, waren mit der Vorgabe verbunden, endlich ökologisch-innovativ zu handeln. Insofern: Man kann aus anderen Gründen gegen diese Industriepolitik sein, aber im Ergebnis sieht man sich leider zwangsläufig an der Seite der FDP.

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