Der Studiogast lächelte leicht verwundert. Dann sagte er: «Jedes sechsjährige Kind begreift, dass man nicht ewig wachsen kann.» Das war in der Sternstunde Philosophie im Fernsehen SRF Mitte Oktober. Die Moderatorin hatte den Gast gefragt (in Minute 29), was er denn nur gegen das Wirtschaftswachstum habe. Mit dem Hinweis auf das sechsjährige Kind gab sie sich natürlich nicht geschlagen. Es gebe doch auch «qualitatives statt quantitatives Wachstum», gab sie zu bedenken. Sie spielte eine «Expertin» ein, die keck behauptete, moderne «Häuser, die Energie produzieren», seien ein Beispiel für derlei «qualitatives Wachstum». Denn «Innovation» sei doch auch Wachstum – «qualitatives Wachstum» eben. Da lächelte der Studiogast nun schon fast mitleidig.
Der Studiogast wies nicht darauf hin, dass der Umzug von einer grossen Villa mit Ölheizung in ein kleines Häuschen mit Solarzellen auf dem Dach doch wohl auch «Innovation» sei – aber wohl eher das Gegenteil von Wachstum. Er stellte nur kurz und knapp fest, Wachstum mit Fortschritt gleichzusetzen, sei doch «Mythenbildung» und «Unfug». Er erinnerte daran, dass wichtige Erfindungen, wie die Dampfmaschine oder grosse kulturelle Leistungen wie klassische Kunstgemälde und Musikwerke schon vor Jahrhunderten «in Gesellschaften erschaffen worden sind, die nahezu null Wachstum hatten». Permanentes Wachstum sei jedenfalls ein eher neues, nicht einmal hundert Jahre altes Phänomen.
«Eine Kultur, die ihre eigenen Voraussetzungen konsumiert»
Der Studiogast heisst Harald Welzer. Er ist 63 und war ursprünglich Sozialpsychologe. Heute leitet er die «Stiftung Zukunftsfähigkeit Futurzwei». In seinem neusten Buch «Nachruf auf mich selbst» fordert er eine «neue Kultur des Aufhörens». Und er meint nicht zuletzt das Aufhören mit dem permanenten Wachstum in der kapitalistischen, einseitig profitorientierten Verschleisswirtschaft.
Zu dieser «relativ neuen» Wirtschaft und Kultur liefert Welzer gleichermassen eindrückliche, wie erschreckende Fakten: So habe sich die Masse der von Menschen hergestellten Güter (mit entsprechendem Verbrauch von Resourcen und Produkton von Abfällen) seit 1900 etwa alle 20 Jahre verdoppelt. (Was einer Steigerung um das gut 60-Fache entspricht!) Damals hätten diese Produkte noch 3 Prozent der Biomasse, der lebendigen Natur ausgemacht. Letztes Jahr nun habe «die tote Masse – also Häuser, Asphalt, Maschinen, Autos, Plastik, Computer usw. – die Biomasse erstmals übertroffen».
Unser Kulturmodell blende «die Frage, wo die Ressourcen dazu herkommen, systematisch aus.» Aber: «Irgendeinmal geht das einfach nicht mehr weiter.» Denn: «Eine Kultur, die wie unsere ihre eigenen Voraussetzungen konsumiert, muss ein Irrtum sein.» Ein Irrtum, der dazu führe, dass die Menschheit auf «ihrem» Planeten inzwischen jedes Jahr schon von August an von dessen endlichen Vorräten lebt – und mit ihrer Wachstumswirtschaft ihre eigenen Grundlagen immer schneller zerstört und aufisst.
Aber – und auch das betont Welzer – jeder Mensch im Nord-Westen der Welt lebe inzwischen bequemer und luxuriöser als seinerzeit Frankreichs «Sonnenkönig» Louis XIV in seinem Prunk-Schloss Versailles.
Klimaerwärmung ist eine fatale Folge des Grund-Irrtums ewiges Wachstum
Die Klimaerwärmung, die jetzt überall (und auf politischer Gipfelebene temporär in Glasgow) intensiv diskutiert wird, sei bloss eine der vielen fatalen Folgen dieser grundlegend falschen Wirtschaftsweise, stellt Welzer fest. Ihre Verteidiger seien «Standardökonomen, die wie Priester dem Gott Wachstum huldigen». Diese Leute könnten nämlich mit der Tatsache der Endlichkeit nicht umgehen. Bedrohliche Endlichkeitsphänomene wie eben Klimaveränderung oder Artensterben und die Zerstörung der Biodiversität würden von den Wachstums-Apologeten ausgeblendet oder gar geleugnet.
Und wenn dann ganz gefährliche Folgen des Wachstums wie eben die Erwärmung der Erde «schlicht nicht mehr ignoriert werden» könnten, versuchten diese Wirtschafts-Theoretiker und auch die Politik mit «magischen Formeln» zu reagieren. Mit dem Begriff «Dekarbonisierung» etwa. Dieser meine eine Weltwirtschaft ohne Kohlenstoff, was natürlich illusorisch und auch gar nicht machbar wäre. Und selbst dann, wenn man denn «alles dekarbonisiert und elektrifiziert» hätte, bleibe das Grundproblem des ungebremsten Wachstums – des permanent zunehmenden Verbrauchs von endlichen Ressourcen – immer noch ungelöst.
Welzer nennt es «gesteigerten Weltverbrauch». Dieser werde nicht nur als Problem verkannt und ignoriert, sondern ganz im Gegenteil: «Gesteigerter Weltverbrauch gilt in den Medien wie in der Werbung wie in der Wirtschaft nach wie vor als wünschenswert und wird entsprechend subventioniert und beworben.» Dass zahlreiche Produkte «nachhaltig nur dann wären, wenn es sie nicht gäbe», werde hingegen übersehen. Kurzum: Der ungebremst zunehmende Weltverbrauch sei der wahre Grund, «dass wir im 21. Jahrhundert ein Überlebensproblem haben».
Die Menschheit dezimiert ihre Lebensgrundlage gründlich
Als «Weltverbraucher» agiert dabei nur eine einzige Spezies im ganzen Universum der Fauna und Flora: der Mensch. Welzer stellt fest: «Es lässt sich in der Geschichte der ganzen Zoologie keine andere Spezies verzeichnen, die ihre eigenen Lebensgrundlagen so gründlich dezimiert hat wie der in Sachen Nachhaltigkeit eher nicht weise Homo sapiens.» Dieser habe «andere Lebensformen in einem Mass vernichtet oder verdrängt, wie es keine andere Tierart jemals hingekriegt hat».
Und von dieser Tierart der ruinösen «Weltverbraucherinnen und Weltverbraucher» gibt es immer mehr Exemplare: Lebten um 1900 erst 1,6 Milliarden Menschen weltweit, sind es heute mit fast 8 Milliarden schon fast fünfmal so viele. Und jedes Jahr kommen netto fast 80 Millionen neu dazu. Das entspricht der ganzen Bevölkerung Deutschlands. Auf diese gefährliche Problematik weist die UNO schon seit 1989 jedes Jahr am 11. Juli zum «Weltbevölkerungstag» warnend hin – ohne grossen Erfolg.
Die Bevölkerungszunahme wird tabuisiert
Denn wo die Mächtigen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft schon die unhaltbare Wachstumswirtschaft kaum thematisieren und problematisieren (und sich dafür um einzelne Folgeprobleme wie CO2-Belastung oder Erderwärmung streiten), tabuisieren sie die damit zusammenhängende Bevölkerungszunahme erst recht. Dies sogar auch am eigentlich dafür zuständigen «Centre for Development and Environment, CDE» an der Universität Bern (Zentrum für Entwicklung und Umwelt).
An dieses Institut erging zu Beginn dieses Jahres die Anfrage, ob es nicht möglich wäre, ein Forschungsprojekt zu lancieren das folgende drei Fragen untersuchen würde:
- Wie viele Menschen könnten maximal auf der Erde gleichzeitig gut und nachhaltig leben? «Nachhaltig» meint dabei ohne die endlichen Vorräte des Planeten immer schneller aufzubrauchen, wie dies jetzt der Fall ist. Und «gut leben» müsste den sechs Kriterien des britischen Philosophen Ted Hondrich entsprechen:
–würdige Lebenslänge;
– körperliches Wohlbefinden;
– Freiheit und Kraft genug, in verschiedenen Situationen sein Leben selber zu bestimmen;
– Respekt und Selbstrespekt;
– gute soziale Beziehungen;
– guter Zugang zu Kultur. - Wie sähe die maximale Bevölkerungszahl in diesem Sinne für die Schweiz aus?
- Welche humanen und achtsam verträglichen Möglichkeiten gäbe es, diese nachhaltigen Zustände langfristig national und weltweit zu erreichen?
«Keine wissenschaftliche Antwort»
CDE-Direktorin Sabin Bieri antwortete auf nochmaliges Nachfragen dann doch ausführlich – aber ausweichend und abweisend: «Was Ihre Vorschläge für Forschungsthemen angeht, so gibt es ein grundsätzliches Problem im Wissenschaftsverständnis», schreibt sie. Denn: «Es gibt keine wissenschaftliche Antwort auf Ihre Fragen, jedenfalls keine eindeutigen.» Das Grundproblem sei nämlich, dass die Menschheit längst über das nötige «Systemwissen» verfüge, dass «sich aber dennoch wenig ändert». Und: An ihrem Institut befasse man sich lieber mit «Transformationswissen». Und etwa noch mit der Frage, «wie eine 10-Millionen-Schweiz aussehen könnte».
Wohl verstanden: Nicht etwa, ob eine solche Massen-Schweiz nachhaltig oder im Sinne der guten Lebensqualität für alle auch sinnvoll sei. Oder wie diese etwa im Vergleich zu einer 4-Millionen-Schweiz aussähe. Wachstum und Bevölkerungszunahme werden offenbar vorausgesetzt und akzeptiert. Dabei hatte Bieri zuvor schon öffentlich eindringlich gewarnt: «Wir sind daran, die Welt mit vollem Tempo an die Wand zu fahren.»
Glasgow schafft nur laue Symptom-Therapie
Das Beispiel zeigt: Kaum jemand getraut sich die Grundprobleme Wirtschaftswachstum und Bevölkerungszunahme ernsthaft zu benennen und zu erforschen. In Glasgow kaprizieren sich die «Masters of the World» derweil mit der CO2-Problemtik und der Erderwärmung auf einen zwar wichtigen und bedrohlichen, aber doch halt nur auf einen Teilaspekt der akuten Gefahr – auf eine Folge, ein Symptom der Wachstums- und Verschleiss-Wirtschaft.
Und noch nicht einmal da erreichen sie Substantielles: Sie setzen sich nur immer neue «Ziele» – die sie dann aber nie erreichen. So rechnen ernsthafte Forscher inzwischen schon damit, dass noch nicht einmal das «Ziel» von maximal zwei Grad Erwärmung realisiert werden könne. Lautstarke und noch so oft wiederholte Bekenntnisse zum Schutz des Regenwaldes sind erst recht unglaubwürdig: Die ruinöse Zerstörung der Wälder läuft in Lateinamerika und Südostasien brutaler denn je weiter. Aber nicht nur dort: «Geschützte» Urwälder werden auch in Rumänien (in der EU) unvermindert und unwiderruflich abgeholzt.
Endlich lernen aufzuhören!
Welzer sieht da ein grundlegendes Problem: «Wir haben keine Methodik des Aufhörens.» Und: «Weil wir keine Methodik des Aufhörens haben, hören wir auch nicht auf.» Konkret für die bedrohliche Erderhitzung bedeute dies: «Um das zu bewältigen, müsste man mit vielem aufhören, dem Ausbeuten von immer mehr Rohstoffen zur Erzeugung von immer mehr Produkten und Dienstleistungen zum Beispiel.» Man müsste ganz im Gegenteil «aufhören den Umfang unseres wirtschaftlichen Stoffwechsels zu vergrössern, und damit beginnen, ihn zu verringern – und das bedeutet nichts anderes, als lernen aufzuhören». Von Konferenzen wie jener in Glasgow ist diesbezüglich nichts zu erwarten. Die Ältesten und die Jüngsten schätzen den Gipfel in Schottland dabei am nüchternsten ein: Da werde wohl wieder «nur viel geredet und nichts getan», meinte die 95 Jahre alte Queen. Und die jugendliche Klimaaktivistin Greta Thunberg forderte kurz und knapp: «No more blabla!» In Glasgow werde nämlich vorab viel heisse Luft produziert. Und Übleres: Konferenzteilnehmende flogen mit hunderten Privatjets von überall in der Welt über Tausende von Kilometern in die schottische Industriestadt ein – um dort dann lange und laut und geschliffen über die dringend nötige CO2-Reduktion und über «Dekarbonisierung» zu reden.
Der Beitrag erschien zuerst auf infosperber.ch
Endlich benennt jemand dieses merkwürdige Tabu der Bevölkerungszunahme im Zusammenhang mit der ökologischen Krise! Wenn die Welzer-These von den Grenzen des Wachstums für die Wirtschaft stimmen sollte (ich bin mir da nicht so sicher), stimmt sie für das Bevölkerungswachstum aber allemal. Die Ernährung von 10, 11 oder noch mehr Milliarden Menschen wird nicht mit Biolandwirtschaft gehen. Und wenn sich alle auch nur in kleinen Stücken in Richtung des in den reichen Ländern vorhandenen Lebensstandards bewegen wollten, ist der Kollaps doch geradezu vorprogrammiert. In früheren Zeiten hat sich die Bevölkerung über Kriege, Hungersnöte und Seuchen reguliert. Das will sicher keine mehr. Aber um so mehr gehört es zu kollektiven Selbstverantwortung der Menschen, das Bevölkerungswachstum zu stoppen und womöglich umzukehren. Das wird auch jede Menge Krisen verursachen (z. B. bei der Alterssicherung, Wachstumseinbrüche, Stagnation von Kultur und Innovation), aber es ist wahrscheinlich der einzige Weg, den ökologischen Kollaps zu vermeiden. Mit den Begleiterscheinungen wird man leben müssen oder sich etwas einfallen lassen, wie man auch alternde Gesellschaften vital und gerecht gestalten kann. Alles andere, Decarbonisierung usw., muss dazu kommen. Aber ohne einen Stopp des Bevölkerungswachstums wird es nichts helfen.
Für mich ist es ein großes Rätsel, wieso über diese schlichten Einsichten kaum gesprochen wird. Passt es nicht ins linke Weltbild? Ist es „post-koloniales Denken“? Will man nicht darüber sprechen, weil man dann auch über unangenehme Themen von Kultur und Religion sprechen müsste?