Natur und Kultur – oder Corona als Motor der Transformation der Demokratie?

Die sich schon in der Finanzkrise 2008 abzeichnende und durch Corona noch einmal deutlich beförderte Renaissance des Staates beinhaltet zweifellos neue Chancen für linke Politik, aber auch neue Herausforderungen für eine konstruktive Bearbeitung von Kontroversen um deren Anlage, Ausrichtung und Begründung. Ein solcher linker Zukunftsdiskurs mobilisiert Beteiligung nicht durch das Wiederholen von Gewissheiten der Vergangenheit, sondern greift Widersprüche, Streitpunkte und Konflikte auf, um die gegenwärtigen Aufgaben im Blick nicht nur auf die Zukunft, sondern auch auf die Vergangenheit zu verstehen und anzugehen. Dazu neun Thesen.

1 Die Corona-Pandemie in Verbindung mit den Herausforderungen des Klimawandels sowie im Hinblick auf andere Gefährdungen der Lebensgrundlagen der Menschheit setzt die Frage nach dem Verhältnis zwischen „Mensch“ und „Natur“ in neuen Akzentuierungen und mit neuer Dringlichkeit auf die politische Tagesordnung. Zweifellos enthält die Corvid19-Seuche die bedrohliche Dynamik einer Naturkatastrophe, die die Menschheit unmissverständlich an ihre trotz allen technischen und medizinischen Fortschritts anhaltende (insbesondere von Männern oft verleugnete) Vulnerabilität erinnert.
In der Corona-Pandemie verbindet sich die Vulnerabilität der Menschheit als Spezies in Form der weltweiten Verbreitung der Pandemie mit der Vulnerabilität jedes einzelnen Menschen in Form von Krankheit und Tod. Die Vulnerabilität begrenzt sich keineswegs auf die biologischen und organischen Komponenten im Verhältnis zwischen „Mensch“ und „Natur“, sondern umfasst auch kulturelle, soziale und politische Dimensionen der Verschränkung des Zusammenlebens von Menschen
> mit ihrer natürlichen Um- und Mitwelt,
> mit ihren persönlichen Lebensweisen und ihren persönlichen Lebensumständen
> mit der leiblichen Seite des individuellen Menschseins.

Die vorrangige Fokussierung auf medizinische Aspekte der Pandemie befördert u. U. vermeidbare Schäden in sozialer, politischer und kultureller Hinsicht sowie im Hinblick auf individuelle Lebenschancen und Perspektiven. Es wird sich noch herausstellen müssen, ob die Kategorie der gesellschaftlichen Naturverhältnisse tatsächlich die Komplexität der menschlichen Natur und der Verschmelzung von Mensch und Kultur in sich aufnehmen kann.

2 Sowohl der Ausbruch wie auch der Verlauf der Pandemie waren und sind selbstverständlich nicht nur naturbedingt, sondern auch das Resultat der weltweit dominierenden kapitalistischen Wirtschafts- und konsumistischen Lebensweise, wie aber auch von gravierenden Strukturproblemen und Qualitätsdefiziten der politischen Steuerung auf regionaler, nationaler und globaler Ebene. Nicht das Virus ist ungerecht und quält die Armen mehr als die Reichen, den globalen Süden mehr als den globalen Norden, Männer in anderer Weise als Frauen. Vielmehr ist all dies die Folge der sozialen Verhältnisse im nationalen und globalen Maßstab, auf die die Pandemie traf und weiterhin trifft. Viren sind keine Lebewesen, sondern „infektiöse organische Strukturen“, die „auf den Stoffwechsel einer Wirtszelle angewiesen“ (Wikipedia) sind. Wenn Viren menschliche Wirtszellen befallen, haben die Infektion und ihr Verlauf nicht nur organische, sondern auch kulturelle, soziale und politische Implikationen.

3 Auf exemplarische Weise werden die komplexen Verstrickungen unterschiedlicher Komponente der Pandemie in geschlechterpolitischer Perspektive deutlich. Denn in virologischer (naturwissenschaftlicher) Hinsicht entfaltet das Virus für Männer ein deutlich höheres Risiko eines schweren oder tödlichen Verlaufs der Erkrankung als für Frauen; in sozialer Perspektive folgt der Verlauf der Pandemie hingegen jenem vielbeklagten Muster der Bewältigung gesellschaftlicher Probleme und Konflikte „auf Kosten von Frauen“, das viele in Ländern wie der BRD schon als endgültig überwunden wähnten. Insgesamt sind die sozial-, kultur-, wirtschafts- und weltpolitischen Auswirkungen der Pandemie nicht nur die Konsequenz der sozialen und kulturellen Konstellationen und Bedingungen, unter denen sie sich entfaltet, sondern auch das Ergebnis der politischen Strategien, die zu ihrer Eindämmung verfolgt wurden und weiterhin werden bzw. der Maßnahmen, die nicht oder zu spät ergriffen wurden und weiterhin werden.

4 Die modernen Gesellschaften sind schlecht vorbereitet für einen neuen Diskurs um die komplexen Zusammenhänge im Spannungsfeld von Natur, Kultur, Ökonomie und Politik in gesellschaftspolitischer struktureller Hinsicht ebenso wie im Hinblick auf die subjektiven Dimensionen dieses Spannungsfeldes. Auch das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, auf das hier Bezug genommen wird, ist bislang vorrangig auf das Verhältnis zwischen „dem Menschen“ und seiner äußeren Natur – seiner Umwelt – fokussiert. „Der Mensch“ wird dabei außerhalb dezidiert feministischer Diskurse traditionell und immer noch vorrangig als „der Mann“ gedacht, wobei die „Unendlichkeit“ der Spezies „Mensch“ oft mit einer Ewigkeitsgarantie für jeden einzelnen Menschen verwechselt wird. Krankheit und Tod, die „innere Natur“ des menschlichen Lebens – etwa im Hinblick auf die grundlegenden Bedingungen, unter denen jedem einzelnen Menschen „das Leben gegeben ist“, also Natalität, Vulnerabilität und Mortalität (Hannah Arendt) – werden im Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse nicht oder allenfalls nachrangig thematisiert.
„Natur“ enthält zweifellos ebenso wie „Kultur“ das Moment der sozialen Konstruktion, aber erst im Verhältnis zwischen „Natur“ und „Kultur“ entfalten sich die komplexen Dynamiken von Herrschaft und Emanzipation. Wenn heute noch stimmt, dass der Grad der weiblichen Emanzipation (Freiheit) „das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation“ (Charles Fourier) darstellt, dann signalisieren aktuelle Verschiebungen der Geschlechterverhältnisse im Kontext der Pandemie zumindest die Gefahr eines gewaltigen Rückschritts nicht nur der Gleichberechtigung (Jutta Almendinger), sondern auch der „allgemeinen Emanzipation“ und damit auch und vor allem der Demokratie als einem nicht nur unvollendeten, sondern auch immer wieder neu gefährdeten Projekt der Moderne.

5 „Demokratie“ fungiert mittlerweile als ein weltweit und über die meisten Weltanschauungen hinweg als weithin geteiltes Anliegen, dem zumindest kaum noch offen widersprochen wird. Insbesondere seitdem „Sozialismus“ durch die diesen Begriff für sich reklamierenden osteuropäischen Parteidiktaturen bis zur Unkenntlichkeit verschandelt und auch die „soziale Demokratie“ durch den Kotau der Partei, die dieses Projekt in ihren Namen trägt, vor der Hegemonie des Neoliberalismus möglicherweise irreparabel beschädigt wurde, haben sich weltanschauliche Auseinandersetzungen auf das weite Feld ganz unterschiedlicher Konzepte von Demokratie und Demokratisierung verlagert. Vielleicht vermittelt der dabei durchscheinende gemeinsame Fokus auf „Demokratie“ gerade mit den damit verknüpften bisweilen durchaus harten Kämpfen, Konflikten und Kontroversen moderner Gesellschaften nach innen und außen genau das Moment von Zusammenhalt, der sich ansonsten in fortschreitenden Prozessen der Diversifizierung, Individualisierung und sozialen Spaltung immer mehr verflüchtigt.

Bild: stokpic auf Pixabay

6 Auch im Kontext sozial-emanzipatorischen Denkens und Handelns ist „Demokratie“ mittlerweile zu einem weithin akzeptierten Leitmotiv avanciert. Da Demokratiekritik ein unentbehrliches und wohl nie „erledigtes“ Moment sozial-emanzipatorischen Denkens und Handelns (zumindest seinem Anspruch nach) darstellt, gewinnt es aus dem Leitmotiv der „Demokratisierung der Demokratie“ genau jenen konkret-utopischen Überschuss, der es befähigt, die Möglichkeit des Fortschritts von Freiheit, Gleichheit und Solidarität nicht nur im Denken, sondern auch im Handeln als utopisch-politische Oase in der „Wüste der Banalität“ (Jürgen Habermas) technokratischer Zukunftsdiskurse zu erhalten und immer wieder neu zu entdecken.

Unter den Bedingungen einer weltweiten Pandemie geraten nun aber insbesondere anspruchsvollere Konzept von Demokratie und Demokratisierung mindestens vorübergehend unter die Imperative von Krankheit, Tod und Leiden, von Inzidenzen und R-Werten. Demokratie, Gleichberechtigung, Kultur, Teilhabe etc. – so hat es den Anschein – müssen gegenüber dem Vorrang des Überlebens zurückstehen. Der Legitimationshaushalt von Politik – traditionell vorrangig ausgestattet mit unumgänglichen Sachzwängen und der Verleugnung von Alternativen – erweitert sich um den Verweis auf den „externen Schock“ einer Naturkatastrophe (zur Kritik vgl. Stefanie Hürtgen . Mit der Dauer der Pandemie wächst allerdings die Gefahr, dass die „Transformation der Demokratie“, wie Johannes Agnoli die internen Tendenzen einer liberal-parlamentarischen Demokratie zur autoritär-faschistoiden Deformation schon Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts analysierte, in der Dynamik (zum Teil auch unter dem Vorwand) der Pandemie eine Aktualität und neue Akzentuierung entfaltet und dabei auch neue Beschleunigung erhält.

7 Es sind gleich mehrere Entwicklungen, die der Pandemie zu einer post- oder auch antidemokratischen Tendenz verhelfen:
> Die sich schon längst vor Corona abzeichnende Instrumentalisierung unbewältigter Herausforderungen politischen Handelns für immer erfolgreichere rechtspopulistische und rechtsradikale Mobilisierungen verbindet sich nun zusätzlich mit neuen Allianzen zwischen dem weitverbreiteten und zunehmenden Unbehagen an Fehlern und Mängeln der staatlichen Coronapolitik, wie aber auch an konkreten Erscheinungsformen von „Demokratie“ als Camouflage von Bürokratie, Inkompetenz, Clientelpolitik und Machtgeschacher.
> „Demokratie“ in ihrer aktuellen Verfasstheit und unter dem Druck der Pandemie gerät immer mehr in den Sog zunehmender sozialer Ungleichheit, dramatischer Gerechtigkeitsdefizite und einer Renaissance antiquierter Machtkonstellationen beispielsweise zwischen Politik und Wirtschaft oder auch im Geschlechterverhältnis.
> Politisches Handeln verflüchtigt sich immer mehr zu einem aktionistischen Maßnahmenfetichismus, der die Herausforderungen der Zeit, unter denen auch die Pandemie bewältigt werden muss, zunehmend aus dem Blick verliert.

Dabei gerät Demokratie immer mehr in eine neue Systemkonkurrenz mit „postsozialistischen“ Diktaturen und Autokratien, die sich – gemessen an dem absolut dominanten Kriterium der Bekämpfung des Virus und der „Rettung von Leben“ – als die bei weitem effizientere Alternative zu den Abläufen und Gepflogenheiten in den westlichen Demokratie profilieren.

8 Die Pandemie wird weithin als Vorbote noch weit gravierenderer Herausforderungen – auch und insbesondere im Hinblick auf die Bestands- und Entwicklungs-bedingungen von „Demokratie“ – im Rahmen des Klimawandels und anderer Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlagen gesehen. Es ist eine offene Frage, ob und wie sich „Demokratie“ unter diesen Konstellationen gegenüber der vermeintlich höheren Effizienz autoritärer Regime behaupten kann. Ein Problem dabei ist, dass die bürgerlichen Freiheits- und Mitwirkungsrechte in einer „liberalen“ Demokratie in kritischer Perspektive seit jeher dem Verdacht ausgesetzt sind, die Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse in den westlichen Gesellschaften und gegenüber dem Rest der Welt zu verschleiern und zu bekräftigen – nach dem Motto: „Demokratie ist die politische Form der Herrschaft des Kapitals“. Auch in den Kontroversen um „ZeroCovid“ etwa bei Attac und im wissenschaftlichen Beirat von Attac hatte die Frage nach der Gefährdung von Demokratie bzw. nach autoritären Tendenzen einen ebenso kontroversen wie brisanten Stellenwert. Zum Teil war durchaus eine gewisse Genugtuung angesichts der Unzulänglichkeiten der „liberalen Demokratie“ im Management der Pandemie zu erkennen. Wenn sich diese Haltung immer weiter verbreitet, ist nicht ausgeschlossen, dass der Implosion des „real-existierenden Sozialismus“ vielleicht sogar schon bald die Implosion der „Kapitalistischen Demokratien des Westens (KDW)“ (Claus Offe) folgt.

9 Die Demokratisierung der Demokratie muss ein zentrales Projekt im Kampf gegen die „Normalisierung“ pandemischer Verhältnisse, gegen Klimawandel und Naturzerstörung, kapitalistische postkoloniale Globalisierung, gegen patriarchale Herrschaftsverhältnisse und gegen die Diktatur der Heteronormativität werden. Demokratie ist nicht nur eine Staatsverfassung mit einem bestimmten Set von Regeln und Institutionen. Demokratie ist vielmehr eine Lebensweise und eine Lebenskultur. Das gesellschaftliche Naturverhältnis muss als „demokratische Frage“ rekonstruiert werden, indem die äußere und innere Natur in ihr Recht gesetzt werden (Barbara Holland-Cunz). Aber ebenso wenig wie die ökonomischen und politischen, die kulturellen und sozialen Belange das Eigenrecht der Natur außer Kraft setzen können, darf „Natur“, „Klima“, „Leben“ in einem neuen Absolutismus gegen das Eigenrecht der Kultur, des Sozialen und des Politischen gesetzt werden.

Die Thesen wurden ursprünglich für die Sommer-Akademie 2021 von Attac erarbeitet und jetzt aktualisiert.


Ingrid Kurz-Scherf
Ingrid Kurz-Scherf ist emeritierte Professorin für Politische Wissenschaft mit dem Schwerpunkt "Politik und Geschlechterverhältnis" am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterpolitik, Politischer Feminismus, Arbeits- und Sozialpolitik, Politische Ökonomie der Demokratie, Gewerkschaften.

2 Kommentare

  1. Der Kern der Analyse scheint zu sein: Pandemie und weitere Herausforderungen, beispielsweise Klimawandel, drohen Gleichberechtigung und Demokratien in existentiellem Umfang zu schwächen. Zudem sieht Ingrid Kurz-Scherf die Gefahr, dass Teile der Linken sich über eine Schwächung der „liberalen Demokratie“ freuen, bemäntle diese doch sowieso nur ungerechte kapitalistische Strukturen.
    Auf diese Beschreibung folgt recht unvermittelt und pauschal die sehr düstere Prophezeiung: „Wenn sich diese Haltung immer weiter verbreitet, ist nicht ausgeschlossen, dass der Implosion des real-existierenden Sozialismus vielleicht sogar schon bald die Implosion der Kapitalistischen Demokratien des Westens (KDW) (Claus Offe) folgt.“
    Egal wie groß diese Gefahr nun wirklich ist. In jedem Fall ist es vermutlich wichtig, das von Kurz-Scherf sehr unterstützte Ziel der Demokratisierung der Demokratie — das seit mindestens 20 bis 30 Jahren irgendwie irgendwo immer auf der Tagesordnung steht — nicht länger nur zu proklamieren, sondern endlich zu konkretisieren: Wie soll diese Überschuss-Demokratisierung aussehen? Volksabstimmungen wie in der Schweiz? Verpflichtende Bürger-Haushalte in allen Kommunen, um Bürgerinteressen zu mobilisieren? Erheblicher Ausbau von politischer Bildung, in die seit Jahren immer weniger investiert wird? Nur mit solchen oft auch banal (siehe den letzten Punkt) wirkenden alltagspraktischen Konkretisierungen können den (in dem Text beschriebenen) Gefahren etwas entgegengesetzt werden. Und über solche Konkretisierungen werden auch bisher noch verdeckte Fronten offengelegt: beispielsweise zwischen den Linken, die sich über eine Schwächung der liberalen Demokratie freuen und denen, die es nicht tun.

  2. Noch ein Zufallsfund als Nachtrag: Heute abend kommt auf arte — bereits in der Mediathek — eine 50minütige Dokumentation über den Sturm auf das Capitol am 6.1. in Washington. In einer redaktionellen Werbeschleife wird der bürgerlich-besonnene Elmar Theveßen, Leiter ZDF-Büro Washington, mit den (mich überraschenden) Worten zitiert, dieser Sturm auf das Capitol sei für ihn „ein Auftakt“ gewesen. Für was? Für einen irgendwann einmal anstehenden Bürgerkrieg in den USA? Also: Unbedingt diese Dokumentation anschauen. Und die These von Kurz-Scherf ernst nehmen, dass die Demokratisierung der Demokratie auf der Tagesordnung steht. Die Frage ist nur: Was kann dafür mehr getan werden, als in unverständlicher Wissenschaftler-Sprache darauf aufmerksam zu machen?

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