Im Mittelpunkt dieses Buches, eines Standardwerks, stehen Porträts von 18 Offizieren, die — jeder für sich — mit einem „außergewöhnlichen Kraftakt“ (Wolfram Wette) aus einem „geschlossenen Systems des militaristischen Denkens“ ausbrachen. Wolfram Wette, renommierter Militärhistoriker, skizziert in seinem Vorwort und in seinem (auch für Nicht-Wissenschaftlerinnen) gut lesbaren, etwa dreißigseitigen Essay knapp und wissenschaftlich verdichtet die Welt, in der diese pazifistischen Offiziere lebten. Erst vor diesem Hintergrund ist das heutige Publikum fähig, den Wagemut, das Selbstbewusstsein und die Leistung dieser Menschen angemessen zu würdigen.
Sie waren die sehr wenigen, die vereinzelten, auch einsamen kritischen Geister in einer viele zehntausend Köpfe umfassenden Offiziers-Kaste, für die, ebenso elitär wie exklusiv, das Gesetz des Korpsgeistes galt, die kulturell und geistig ein hermetisch abgeriegeltes Milieu bildeten. Für ihre Ausbrüche wurden solche Offiziere oft brutal abgestraft. Geächtet und ausgegrenzt wurden alle. Hauptmann von Beerfelde beispielsweise wurde mit dem Tode bedroht, so dass er nach Tirol ins Privatleben fliehen musste; auch andere waren zur Flucht gezwungen. Der ehemalige Kapitänleutnant Hans Paasche wurde 1920 von rechtsradikalen Freikorpsoffizieren vor den Augen seiner Familie erschossen.
Gebildet, charakterstark, nicht selten gläubig
In seinem Essay arbeitet Wette heraus, warum der deutsche Militarismus, vor und nach dem Ersten Weltkrieg, ein besonders gefährlicher, mächtiger, besonders aggressiver Machtfaktor war. Worin sich der deutsche Militäradel („Staat im Staate“, so Historiker Gordon Craig) von den Militärs in anderen westlichen Ländern unterschied. Er beantwortet die Frage, warum sehr selektiv die widerständigen Soldaten rund um das Hitler-Attentat am 20.Juli 1944 bis heute herausgehoben gewürdigt werden, die hier porträtierten Soldaten kaum oder gar nicht. Er bearbeitet die Frage, wie diese Militärkaste, trotz all der Umwälzungen um sie herum, die zeitgleich etwa die Industrialisierung mit sich brachte, ideologisch geschlossen bleiben konnte. Eine Militärkaste, für die Kriege normal und gottgewollt, sogar „ein Gesundbrunnen“ waren. Tapferkeit vor dem Feind war selbstverständlich. Frieden war gegen die Natur, Zivilcourage und selbstständiges politisches Denken unbekannt. Wer davon auch nur einen Jota abwich, war ein Abtrünniger, ein Umstürzler, bestenfalls ein weltfremder Idealist.
Was eint Menschen, die in dieser Welt lebten, ihr widerstanden, sich ihr sogar offen und öffentlich entgegenstellten? Wette skizziert sie in seinem Essay so: Sie seien alle sehr gebildet, charakterstark, nicht selten gläubig gewesen, fähig, eigenständig zu denken und zu handeln, oft fest in Sport, Kultur, in der Gesellschaft verwurzelt. Eine Mehrheit habe fremde Sprachen gesprochen, fremde Länder und Kulturen gekannt. Und sie alle einte ein für sie einschneidendes Erlebnis: das Elend des 1. Weltkrieges mit der Erkenntnis, „kriegerische Machtpolitik und Heldengesänge“ führten zu millionenfachem Leid. Daraus hätten sie „unmissverständliche Konsequenzen“ gezogen: Sie lösten sich nicht nur aus ihrem Milieu, sie wechselten demonstrativ die Seiten und engagierten sich offen — oft mit hoher öffentlicher Wirkung — für die Friedensbewegung. Jeder tat dies für sich und zusammen als „eine verschwindend kleine Minderheit“. Entscheidend sei jedoch, so Wette, nicht die Zahl, sondern die Tatsache, dass „es Militärs mit solchen Biographien überhaupt gegeben hat“.
Jedes Schicksal ein Buch
Es kann nicht darum gehen, das Porträt über Moritz von Egidy gegenüber dem über Paul Freiherr von Schoenaich oder Karl Mayr hervorzuheben. Es sind von kompetenten Autorinnen und Autoren geschriebene meist recht kurze, trotzdem fundierte inhalts- und abwechslungsreiche, sehr wohl auch kritische Lebensskizzen über diese herausragenden Persönlichkeiten; meist mit Photos, auch mit Dokumenten illustriert, oft mit zahlreichen Anmerkungen versehen. Jedes Schicksal ein Buch, mindestens ein Büchlein wert.
Es gibt eine umfangreiche Bibliographie, ein Namensverzeichnis und ausführliche Angaben zu den zahlreichen fachlich ausgewiesenen Autorinnen und Autoren. Mit anderen Worten: Die Leserin hat mit diesem Buch ein kompaktes Füllhorn an Wissen über eine andere Seite des deutschen Militärs vor und in der Weimarer Republik in der Hand. Denn diese wenigen Männer zeigen: Es ging auch anders. Es war auch damals nicht gottgegeben, dem zerstörerisch-militaristischen Mainstream zu folgen.
Wie hat vor allem die Bundeswehr reagiert? Wie die jeweiligen Städte (mit all ihren Medien, Politikerinnen…), in denen diese Männer lebten oder starben? Die bittere Bilanz von Wette: „Die Hoffnung der Autoren im Jahre 1999, mit der Präsentation der Biographien von achtzehn widerständigen Offizieren aus der Zeit vor 1933 eine breite öffentliche Resonanz auszulösen, verbunden mit einer politisch angemessenen Würdigung dieser Offiziere, hat sich bislang nicht erfüllt.“ Eine Blamage.
Dieses Buch lässt keine Ausrede zu. Insofern steckt in dem Buch selbst ebenso wie in der enormen wissenschaftlichen Arbeit, welche die Autorinnen und WissenschaftlerInnen investiert haben, unausgesprochen ein Auftrag an das interessierte Publikum und die Gesellschaft insgesamt: mehr dafür zu tun, um ihm, dem Buch, und den Menschen, die in ihm im Mittelpunkt stehen, endlich die bisher ausgebliebene angemessene Würdigung zu verschaffen. Und sei es nur im eigenen egoistischen Interesse.
In diesem Text wird (nicht immer) die weibliche Form verwendet. Von diesem Text sollen sich alle Menschen, gleich welchen Geschlechts, angesprochen fühlen.
Wolfram Wette (Hrsg.) unter Mitwirkung von Helmut Donat „Weiße Raben. Pazifistische Offiziere in Deutschland vor 1933“, aus der Schriftenreihe „Geschichte&Frieden“ im Donat-Verlag, 2020, zweite Auflage, 496 Seiten, 29,80 €