Dem Weltmarkt ausliefern, macht abhängig

Bild: geralt auf Pixabay

Es beginnt erneut eine Debatte – die in Deutschland gemieden, mehr: weggedrückt wird – über die extreme Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft vom Ausland. Wirtschaftlich höchst fragil, ökologisch bedenklich – Kritik daran gibt es deshalb schon lange, im Ausland. Aber Deutschlands Eliten aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik sehen in der Schräglagen-Exportwirtschaft nur die Lösung, kein Problem. Jetzt hat das Problem die Oberfläche durchstoßen. Die negativen Folgen einer exzessiven Globalisierung sind im Alltag zu spüren. Vor wenigen Tagen setzte Emmanuel Macron, Frankreichs Präsident, dieses Thema auf die Tagesordnung: Die EU brauche „ein neues europäisches Wachstumsmodell“; sein Land übernimmt im Januar die EU-Ratspräsidentschaft. Und Franz Fehrenbach, jahrelang Spitzenmanager des einflussreichen Stiftungs-Konzern Robert Bosch, zieht in einem Interview diese Bilanz: „Wir sind zu abhängig von anderen Regionen.“

Die Vorstellungen von Macron im Einzelnen: Europa müsse nicht nur in der Politik, auch in der Wirtschaft souveräner werden, vor allem weniger abhängig von Ländern wie China. In diese „strategischen“ Felder müsse die EU deshalb in besonderem Maße investieren: Wasserstoff, Halbleiter, Batterien, Clouds, Kultur und Gesundheit.

Bereits Mitte März 2020 meinte der französische Präsident in einer Fernsehansprache: Die Pandemie habe deutlich gemacht, „dass es Güter und Dienstleistungen gibt, die außerhalb der Marktgesetze gestellt werden müssen. Es ist verrückt, unsere Ernährung, … die Gestaltungsfähigkeiten unseres Lebensrahmens im Grunde an andere zu delegieren.“ Die Pandemie habe auch deutlich gemacht, dass „die kostenlose Gesundheitsfürsorge… und unser Sozialstaat nicht einfach nur Kosten … sind, sondern kostbare Güter … .“

Wer produziert, lernt

Der Manager Fehrenbach argumentiert so: Sein Unternehmen habe vor kurzem eine hochmoderne Chip-Produktionsstätte in Dresden eröffnet, die auch unter Einsatz Künstlicher Intelligenz arbeite; momentan mangelt es weltweit so stark an Sensoren, Prozessoren, Chips, dass das Wachstum in vielen Branchen ausgebremst wird. Warum hat Bosch hier in Deutschland eine solche Produktion aufgebaut, die sonst in Asien für erheblich weniger Geld steht? Das Argument von Fehrenbach: Wir müssen lernen. Seine These: Unternehmen müssen bestimmte Produkte selbst herstellen, auch wenn es teurer ist, um zu lernen, wie das geht.

Franz Fehrenbach (wikimedia commons)

Der Manager im Wortlaut: „Die Investition in Dresden geht auf die Überzeugung zurück, dass wir die Fertigung entlang der kompletten Wertschöpfungskette selbst verstehen müssen, gerade auch neue Technologien wie zum Beispiel Siliziumkarbid.“
Der Grund: Mit diesem Lernen wird das gesamte Unternehmen innovativer — „damit stärken wir auch unsere weltweite Wettbewerbsposition.“ Vor diesem Hintergrund klagt er, die deutsche Industrie habe sich in den vergangenen Jahrzehnten in die falsche Richtung entwickelt. Fehrenbach: In diesem Sinne haben „wir uns zu stark in die Abhängigkeit von anderen Regionen begeben“, vor allem weil die Unternehmen eine rigide „Kostenoptimierung in den Lieferketten“ betrieben hätten. Dies gelte vor allem für die Produktion von Chips, von Batteriezellen und auch für die Rohstoffversorgung.

Die Beispiele kennt die Öffentlichkeit spätestens seit Corona zuhauf: Die chinesische Regierung schließt wegen Corona einen Hafen — und es gehen weltweit tausenden Unternehmen die sogenannte Vorprodukte aus. In Texas fallen Halbleiterfabriken aus — überall mangelt es an Chips. Bei einer aktuellen Umfrage unter Unternehmen der Elektro- und Digitalindustrie — 900.000 Beschäftigte in Deutschland; 800.000 Beschäftigte im Ausland; 180 Milliarden Euro Umsatz; 20 Milliarden Euro Investitionen in Forschung und Entwicklung allein Deutschland — sagt jedes zweite Unternehmen, die Belieferung mit Chips werde bis Mitte 2022 angespannt bleiben. Und die andere Hälfte vermutet, es komme noch schlimmer: Engpässe bis Ende 2022. VW denkt deshalb bereits laut über eine eigene Chip-Produktion nach. Die Lage ist so angespannt, dass viele Unternehmen sogar zu Hamsterkäufen neigen.

Manager lernen — hamstern

Das, was in den Ohren von Außenstehenden sich als Kleinigkeit anhört — wer hamstert nicht: siehe Toilettenpapier! —, kommt in der Industrie einem Strategiewechsel gleich. Viele Jahre waren hamsternde Manager undenkbar. Warum? Ausgestattet mit der abgrundtiefen Naivität, es wird schon alles gut gehen, also weltweit alles immer ohne Pandemie, ohne Handelskriege, hat die weltweite Manager-Kaste vor etwa zwei Jahrzehnten entschieden, wir führen als Highlight moderner Produktionsprozesse die Just-in-Time-Fertigung ein. Das heißt konkret: Geliefert wird auf Zuruf, mit der Folge, dass Container-Schiffe und Lastwagen mehr oder weniger zu rollenden Lagern werden. Die Unternehmen selbst sparen ihre Lagerhaltung. Die Kosten werden dem Steuerzahler aufgebürdet, der für eine leistungsfähige öffentliche Verkehrsinfrastruktur geradestehen muss. Jetzt erkennen sogar Manager: Das war eine Schönwetter-Strategie. So fangen sie wieder von vorne an: Vorräte einkaufen, Läger aufbauen.

Noch ein Beispiel: Seit vielen Jahren ist es in Unternehmer-Kreisen aus profanen Kostengründen geradezu verpönt, Elektroartikel und generell Konsumgüter in Europa herzustellen, alles viel zu teuer. Nun stellen die offensichtlich sehr engstirnigen Manager nach und nach fest: Richtig, teuer als die Produktion anderswo ist das, aber die Produktion in Europa ist flexibler, schneller, sicherer. Jetzt wird großräumig über neue Produktionsstätten in Osteuropa und der Türkei nachgedacht.

Die Stimmung ändert sich vermutlich sogar nachhaltig, weil der externe Schock des Corona-Virus auch einer breiteren Öffentlichkeit offenbart, wie fragil das Wirtschaftssystem konstruiert ist, das bisher relativ reibungslos „unseren Wohlstand“ produziert hat.

Vor einem Strategie-Wechsel?

Vor Monaten wurden Medikamente wie Penicilline knapp, weil die Produktion in China lahmgelegt war. Die aktiven pharmazeutischen Grundstoffe für fast alle Antibiotika werden mittlerweile in China hergestellt. Bei Lieferengpässen kommt in Europa die Antibiotika-Produktion zum Erliegen. Desinfektionsmittel, Schutzmasken und Handschuhe gab es in den ersten Wochen der Virus-Krise nicht, weil sie ausschließlich noch in Asien hergestellt werden. Das alles konnte jeder und jede wissen, aber erst in einer solchen Krise dringt dieses abstrakte Wissen in den konkreten Alltag.

Die Statistik zeigt die Brisanz: Jeder vierte Arbeitsplatz hängt am Export, in der Industrie sogar jeder zweite. Weil sie das große Geld nicht im Inland, sondern mit dem Ausland verdient, ist die deutsche Wirtschaft enorm verletzlich, viel mehr als die anderer Länder.
So ist es kein Zufall: Emmanuel Macron will das Thema anpacken. Die deutsche Politik wagt es nicht einmal, das Thema zu benennen. Sie müsste sich mit mächtigen Interessen und überholten Strukturen anlegen: mit der IG BCE, der IG Metall ebenso sehr wie mit den mächtigen finanzstarken Exportbranchen: Pharma, Chemie, Auto und Maschinenbau.

Mit einem Erdbeer-Joghurt durch Europa

So ist von SPD-Kanzler Olaf Scholz in dieser entscheidenden Frage nichts zu erwarten, ist er in diese Interessen-Geflechte viel zu sehr verstrickt. Aber eigentlich müssten die Grünen da ran. Warum? Weil diese Gewichtung auch ökologisch nicht länger zu verantworten ist. Die folgenden Beispiele zeigen, wie schädlich eine solche exzessive Exportpolitik sein kann: Die EU subventioniert Hähnchenteile und Altkleider, diese Waren werden von privaten Unternehmen in Afrika billigst verkauft und zerstören so die dortige Landwirtschaft und das lokale Textilhandwerk. Hiesige Bauern überleben wirtschaftlich, indem sie möglichst billige Schweinesteaks in die ganze Welt exportieren. Ein hier in den Geschäften angebotener Erdbeer-Joghurt wird mit polnischen Erdbeeren, niederländischen Bechern und belgischen Aludeckeln produziert.

Reinhard Loske, Volkswirt, einst Grünen-Politiker, heute Präsident der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, geht von der Alternative aus: Entweder wir gestalten aus eigener Kraft mit De-Globalisierung, Re-Regionalisierung und Entschleunigung unsere Welt neu oder wir lassen uns von Seuchen und Klimakrisen unser Handeln aufzwingen.
In einem Papier österreichischer Wirtschaftswissenschaftler steht einleuchtend lapidar:

„Eine progressive Industriepolitik sollte aber darauf abzielen, dass Produkte bis zum Verkauf nicht mehrmals die Welt umrunden.“

Was pessimistisch stimmt: Im letzten Wahlkampf war diese Problematik der internationalen Handels- und Wirtschaftspolitik ausweislich der Wahlprogramme nicht einer Partei auch nur ein Wort wert. Das gilt auch für die Grünen.

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Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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