Vor zwei Tagen erreichte mich der jüngste Mitgliederrundbrief aus der Bundesgeschäftsstelle meiner Partei. Im letzten Satz wurde mir lapidar mitgeteilt, dass in der kommenden Woche die Einladung zum nächsten „Mitgliederzoom“ mit den Parteivorsitzenden rausgeschickt werden würde, „zusammen mit der Vorstellung unseres Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten“. Etwa so als handele es sich um eine Randnotiz… DIE LINKE benennt also, als wäre es eine politische Selbstverständlichkeit, einen eigenen Kandidaten für das höchste, repräsentative Staatsamt.
Immerhin einen Mann [den Mainzer Sozialmediziner Gerhard Trabert –bruchstücke bot], der in das aussichtslose Unterfangen geschickt wird, und nicht eine Frau, um nicht auch noch diese Seite der Wahl zu strapazieren. Denn bei der Kandidatur kann es ja nur um eine Sache gehen: In der Bundesversammlung für jemanden anderes als Frank-Walter Steinmeier stimmen zu können. Doch wozu soll das gut sein? Welche Einschätzung der konkreten politischen Situation, ihrer Gelegenheiten und Fallstricke, steckt dahinter? Und hat der amtierende Präsident das Amt wirklich so schlecht ausgefüllt, dass Linke ihn nicht wiederwählen, nicht mit ihm leben könnten?
Welches politische Signal also sendet meine Partei da aus, drei Monate nach der desaströs verlorenen Bundestagswahl? Ja genau: Weiter so! Wie all die Jahre zuvor, so bleiben wie wir sind und immer kräftig auf die eigene Brust trommeln. Finden nur immer weniger Wählerinnen und Wähler anziehend… Dabei wäre jetzt vielleicht die letzte Gelegenheit, sowohl nach innen als auch nach außen das Ausrufezeichen zu setzen: Wir haben verstanden! Wir wollen nicht nur was ändern, wir fangen auch damit an.
Hier geht es nicht um Sachthemen
In Zeiten, in denen die Grundlagen des demokratischen Zusammenlebens, der Demokratie als Lebensweise und Form der Konfliktaustragung, zerbrechlicher sind als je in den voraufgegangenen fünfzig Jahren, seit dem Brandt’schen Diktum „Mehr Demokratie wagen“; in Zeiten, in denen das faktenbasierte, überprüfbare Argument und der errungene Kompromiss am Ende des Streits vielfach in Verruf gebracht werden; in Zeiten, in denen eine Partei wie die AfD, die die Regeln der parlamentarischen Demokratie bewusst in Verruf bringen will und die die Werte des Grundgesetzes als gemeinsame Grundlage des sozialen und politischen Handelns nicht anerkennt; in Zeiten also, in denen dann noch eine solche Partei zum zweiten Mal bei Bundestagswahlen deutlich stärker geworden ist als die eigene Partei; in solchen Zeiten muss es zu bestimmten politischen Gelegenheiten um mehr als parteipolitische Egoismen gehen. Die Wahl eines Bundespräsidenten ist ein solcher Moment. Hier geht es nicht um Sachthemen, um dieses oder jenes handfestes Interesse, sondern um die Verteidigung und Repräsentanz der parlamentarisch-demokratischen Grundregeln.
Die Amtsübergabe von Angela Merkel an Olaf Scholz war ebenfalls ein solcher, viel kleinerer und wenig bemerkter Moment. Zur Verabschiedung der nunmehr Altkanzlerin erhoben sich die gewählten Volksvertreter zu standig ovations. Auch die Abgeordneten meiner Partei. Allein die Antidemokraten blieben sitzen und verweigerten der Frau, die dieses Land, bei allem, was zurecht zu kritisieren ist, unter Achtung der demokratischen Spielregeln sechzehn Jahre regiert hat, den demokratischen Respekt. Für einen Moment konnte man bei diesem symbolträchtigen Bild, das nur kurz in den Nachrichten auftauchte, annehmen, dass sich da etwas ändert, auch bei der Linken: Ein Lager der demokratischen Parteien steht zusammen auf, ein politisches Lager, das bei allen Unterschieden darin übereinstimmt, die Interessenkämpfe auf dem Boden des Grundgesetzes auszutragen. Das machte schon Hoffnung, dass die AfD mit ihrem faschistoiden Bewegungsmotor nicht durchkommen wird.
Eine einmalige Gelegenheit
Wenn nun Union, FDP, Grüne und SPD gemeinsam den Bundespräsidenten Steinmeier in eine zweite Amtszeit wählen, die Linke aber – wie vermutlich auch die AfD – um des Symbols der Eigenständigkeit gegen alle anderen einen eigenen Kandidaten ins Rennen schickt, dann hat sich gegenüber den Vorjahren zumindest im Politikverständnis der Partei, deren Mitglied ich bin, wohl doch nichts geändert. Und es soll sich nach dem Willen der Parteiführung dann wohl auch nichts ändern…
Dass Die Linke einen eigenen Kandidaten aufstellt, läuft in den politischen Nachrichten unter same procedure as every year… Schadet nix, nutzt politisch nix und nix bewegt sich, wird wohl kalkuliert. So werden wir nie herausfinden, ob eine Erklärung wie die folgende mehr politische Wirkung hätte entfalten können:
Die Wahl des Bundespräsidenten findet 2022 unter schwierigen Bedingungen statt. Das demokratische Zusammenleben und die Werte des Grundgesetzes werden von antidemokratischen Kräften angegriffen. Politikerinnen und Politiker, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der öffentlichen Einrichtungen werden beschimpft, bedroht, mit Mordaufrufen überzogen.
Die Wahl des Bundespräsidenten 2022 bietet die einmalige Gelegenheit, ein starkes Zeichen zu setzen, dass die demokratischen Kräfte dieses Landes zusammenstehen und im Zweifel entschlossen sind, die Regeln der demokratischen Auseinandersetzung gemeinsam zu verteidigen. Frank-Walter Steinmeier hat in seiner bisherigen Amtszeit bewiesen, dass er dafür einsteht.
- 2017 hat er, nach der Flucht der FDP aus den Koalitionsverhandlungen, sehr deutlich gemacht, dass es in einer parlamentarischen Demokratie die Aufgabe der Parteien ist, mit dem Wahlergebnis eine Regierung zu bilden und sich nicht, wenn das Ergebnis nicht den parteiegoistischen Wünschen entspricht, in Neuwahlen zu flüchten.
- In Yad Vashem hielt er als erster Bundespräsident eine Rede, eine Rede, die die Unhintergehbarkeit der Verbrechen des deutschen Staates und die Verstricktheit der deutschen Gesellschaft gerade angesichts des wieder auftrumpfenden Antisemitismus und Nazismus unterstrich:„Es ist das gleiche Böse„.
- In zahlreichen Bürgergesprächen versucht er für den demokratischen Dialog und die politische Tugend des Zuhörens zu werben.
Mit einem solchen Bundespräsidenten können wir als Linke auch in den kommenden fünf Jahren politisch gut leben. Wir verzichten daher auf die politische Symbolik eines eigenen Kandidaten und unterstützen zusammen mit den anderen demokratischen Parteien die Wiederwahl des amtierenden Bundespräsidenten.
Es wäre ein Versuch gewesen, aus den politischen Routinen, die Die Linke unter die 5%-Marke geführt haben, auszubrechen.