Das Urteil von Günter Grass war harsch. Über seinen letzten Besuch am Krankenbett von Heinrich Böll wenige Wochen vor dessen Tod 1985 notierte er: Mehr als von der Herzschwäche, dem Raucherbein und der Zuckerkrankheit sei der Literatur-Nobelpreisträger gezeichnet und gekränkt von den „bösartigen Verletzungen in den Zeitungen des Springer-Konzerns“, denen er viele Jahre ausgesetzt war. „Der Unflat der Schlagzeilen. Der Vernichtungswille einer Horde von Berufszynikern, die sich Journalisten nannten“: Das waren die echten Leiden des Heinrich Böll. Mehr als ein Jahrzehnt hatte den Kölner Schriftsteller dieser „Vernichtungswille“ verfolgt. Begonnen hat er genau vor 50 Jahren, am 10. Januar 1972, mit einem Beitrag Bölls im Spiegel.
Eine bissige Polemik, deren Anlass eine Schlagzeile der Bild war. „Baader-Meinhof-Bande mordet weiter“ titelte das Blatt einen Tag vor Weihnachten 1971 nach einem Banküberfall in Kaiserslautern. Erzürnt über die Vorverurteilung ironisierte Böll zum Einstieg in den Text: „Wo die Polizeibehörden ermitteln, vermuten, kombinieren, ist Bild schon bedeutend weiter: Bild weiß.“ Dass der erschossene Polizist Opfer der Terrorgruppe war.
Eine Vorverurteilung, die Böll als Aufforderung zur Lynchjustiz wertete. „Millionen, für die Bild die einzige Informationsquelle ist, werden auf diese Weise mit gefälschten Informationen versorgt“, klagte er an und rechnete auch mit der politischen Klasse ab: „Ich kann nicht begreifen, dass irgendein Politiker einem solchen Blatt noch Interviews gibt. Das ist nicht mehr kryptofaschistisch, nicht mehr faschistoid, das ist nackter Faschismus. Verhetzung, Lüge, Dreck.“
Dass der Text provozierend war, wusste Böll
Bölls Artikel trug im Original den ironischen Titel „Soviel Liebe auf einmal“. Die Redaktion des Spiegel änderte ihn ohne Rücksprache mit dem Autor zu der Titelzeile „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ Er wurde von Konservativen und der rechten Presse als Beleg instrumentalisiert, dass Böll Verständnis für die Ziele der Terrorgruppe habe. Dabei machte er eindeutig klar, dass Ulrike Meinhof und ihre Gruppe im „Kriegszustand mit dieser Gesellschaft“ lebe, dass er deren Ziele nicht teile. Dennoch hätten auch diese Terroristen Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren. „Dieser Prozess muß stattfinden, er muß der lebenden Ulrike Meinhof gemacht werden. In Gegenwart der Weltöffentlichkeit. Sonst ist nicht nur sie und der Rest ihrer Gruppe verloren, es wird auch weiter stinken in der deutschen Publizistik, es wird weiter stinken in der deutschen Rechtsgeschichte.“
Dass der Text provozierend war, wusste Böll. Er sollte es auch sein. Vor allem aber sollte er beleidigend sein, „beleidigend für Herrn Springer“, wie der Schriftsteller noch Jahre später unterstrich. Dennoch – die Wirkung für sich hatte Böll unterschätzt. Eine Angriffswelle prasselte auf ihn ein, ein Aufstand in der rechten Publizistik, die in ihm den „geistigen Vater des Terrors“ sah. Schlimmer, gefährlicher als die Terrorbande selbst.
„Resignieren sollten Sie nicht“
Die Wucht der Hetze war so stark, dass sie Böll in tiefe Verzweiflung stürzte und er daran dachte, das Land zu verlassen. Nur wenige standen ihm in dieser Situation zur Seite. Vor allem Bundeskanzler Willy Brandt sorgte sich um die Situation des Schriftstellers und forderte ihn in einem persönlichen Schreiben Ende Januar 1972 auf: „Lassen Sie sich bitte nicht entmutigen … Resignieren sollten Sie nicht. Ich habe es auch nicht getan.“ Ein Indiz, dass auch Brandt unter der publizistischen Hetze der Springer-Presse zu leiden hatte.
Über den Spiegel-Artikel vom 10. Januar 1972 hat der Böll-Biograph Ralf Schnell geschrieben: „Vermutlich hat keine Veröffentlichung eines deutschen Schriftstellers nach dem Zweiten Weltkrieg ein strittigeres Echo hervorgerufen… Wobei sogleich eingeräumt sei: ‚strittig‘ ist ein vergleichsweise harmloses Wort für die demagogische Kampagne, der sich der Autor selbst ausgesetzt sah…“
Bis zu seinem Tod haben Böll die Verleumdungen begleitet, die Angriffe in den Springer-Blättern rissen nicht ab, die Vorwürfe, er sei ein Unterstützer der RAF, blieben bei Konservativen lebendig.
Heinrich Böll resignierte trotz der Wucht der Vorwürfe nicht. Im Gegenteil. Er nahm den Kampf gegen Bild und Springer 1974 literarisch wieder auf mit der Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Eine äußerst auflagenstarke und erfolgreich verfilmte Geschichte (Hauptdarstellerin Angela Winkler) über eine junge Frau, die sich den Unterstellungen eines Boulevardreporters nur durch dessen Tötung wehren konnte. Wieder eine Provokation gegen das Springer-Blatt. Damit auch der letzte wusste, wen er mit der Erzählung treffen wollte, setzte er dem Text die Bemerkung voraus: „Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der ‚Bild‘-Zeitung ergeben haben, so sind die Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.“
Unter dem Titel „1972: Als Heinrich Böll zur Hassfigur von Springer wurde“ erschien der Beitrag zuerst auf dem Blog der Republik
»Diese Zeitung ist ein Organ der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen. Jemand, der zu dieser Zeitung beiträgt, ist gesellschaftlich absolut inakzeptabel. Es wäre verfehlt, zu einem ihrer Redakteure freundlich oder auch nur höflich zu sein. Man muß so unfreundlich zu ihnen sein, wie es das Gesetz gerade noch zuläßt. Es sind schlechte Menschen, die Falsches tun.
Max Goldt über die Bild-Zeitung, Mein Nachbar und der Zynismus, in: Der Krapfen auf dem Sims, Alexander Fest Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-8286-0156-1, Seite 14
Siehe auch im Deutschlandfunk „Heinrich Böll, „Bild“ und die RAF. Der Skandal um Bölls ‚Spiegel‘-Essay im Januar 1972„