Bewegungsforscher Dieter Rucht besteht auf dem Unterschied zwischen zivilem Ungehorsam und friedlicher Sabotage: „Der Hauptunterschied ist die Anonymität der Saboteure im Gegensatz zum offenen Visier der Akteure zivilen Ungehorsams. Zudem: Ziviler Ungehorsam ist angelegt auf Deeskalation, was in der Regel ein entsprechendes Training voraussetzt. Sabotage ist eine Art von verdeckter Kriegserklärung mit dem Ziel der Schadensmaximierung. Das Adjektiv ‘friedlich’ ist in diesem Zusammenhang beschönigend und soll für Akzeptanz sorgen.“ Im Interview mit Wolfgang Storz geht es um grüne Regierungspolitik und ökologische Proteststrategie.
Bevor die Grünen mitregierten, schien die Bewegung Fridays For Future (FFF) einen hohen, zumindest einen hohen medialen Einfluss zu haben. Jetzt ist gar nichts mehr von ihr zu hören. Ist sie erschöpft? Gar zerfallen?
Rucht: Die Bewegungsenergie hat abgenommen, viele Aktivist:innen sind ausgebrannt. Es mehren sich interne Spannungen, ohne dass von einem Zerfall gesprochen werden kann. Und in den Augen großer Teile der Bevölkerung ist derzeit die Corona-Problematik vorrangig.
Im Koalitionsvertrag konnten die Grünen nicht einmal ein Tempolimit durchsetzen. Und ein wirtschaftsfreundlicher Liberaler ist Verkehrsminister, der der Autoindustrie vermutlich weiterhin rote Teppiche auslegen wird. Das zeigt doch, die bisherigen Formen von Widerstand und Protest wirkten nur sehr begrenzt. Oder?
Rucht: Mit Blick auf die Wählerschaft und die organisierten Interessen der Wirtschaft war und wäre es völlig unrealistisch zu erwarten, Widerstand und Protest bei Umwelt- und Klimafragen könnten die Grünen zum einem machtpolitisch führenden Akteur machen. Der Einfluss der grünen Partei ist sicher gewachsen. Aber er ist angesichts der Kräftekonstellation in der Ampel-Regierung und der wirtschaftsfreundlichen Lobby-Gruppen ziemlich begrenzt. Und zum Tempolimit die Anmerkung: In der Kompromissmaschine, die eine Regierung in einem föderalen demokratischen Staat nun einmal ist, werden „Erfolge“ des einen Lagers an einer Stelle mit Zugeständnissen oder gar „Niederlagen“ an anderer Stelle erkauft. Das Tempolimit ist zwar symbolisch bedeutsam, aber umweltpolitisch ein Nebenschauplatz. Vermutlich wurden mit der grünen Nachgiebigkeit beim Tempolimit bedeutsamere Landgewinne an anderer Stelle erzielt. Spannend wird es sein zu sehen, ob und wie die allgemeinen Linien des Koalitionsvertrages in konkrete Politik umgesetzt werden. An vielen Stellen könnte eine informelle Allianz von FDP und Teilen der SPD die Grünen ausbremsen.
Brot, Brötchen, Brosamen
Wäre dieser Koalitionsvertrag nicht wenigstens genügend Stoff, um sich auf der Straße darüber zu empören? Oder reicht die Kraft nicht einmal mehr dazu?
Rucht: Ja, es gibt aus Sicht progressiver Bewegungen viele und gute Gründe zur Empörung in der Sache. Allerdings: Kleinere Brötchen zu bekommen, mag besser sein als gar keine Brötchen. Wichtig bleibt die Unterscheidung zwischen Brötchen und Brosamen. Generell ist festzuhalten, dass sich Empörung nicht zwangsläufig in Massenaktion umsetzt. Diese ist nicht nur von der eigenen Kraft abhängig, sondern auch von günstigen Gelegenheiten, der Einschätzung des richtigen Zeitpunkts und der angemessenen Form des Protests. Viele Unzufriedene sind erst mal in einer Warteposition nach dem Motto: Mal sehen, was die Regierung zustande bringt.
In einzelnen Städten, meist Universitätsstädten, sitzt die radikalere Klimaliste in den Stadtparlamenten. Bei der Bundestagswahl konnte sie nicht reüssieren. Ist diese Initiative bereits gescheitert?
Rucht: Sofern diese Klimaliste im lokalen Rahmen etwas bewirken kann, sollte man ihr nicht voreilig das Scheitern bescheinigen. Auf Landes- und Bundesebene sind allerdings die Aussichten einer dunkelgrünen Konkurrenz zu den Grünen eher mager. Der von dort ausgehende Druck — und nicht so sehr die Existenz lokaler Klimalisten — wird Flügelkämpfe innerhalb der Grünen anheizen. Ob das eher zu einer Selbstlähmung oder einem insgesamt radikaleren Kurs der Partei führt, bleibt abzuwarten.
Wie könnte die Umweltbewegung ihren politischen Druck erhöhen?
Rucht: Indem sie sich nicht in vielen Aktivitäten verzettelt, die jeweils für sich genommen durchaus sinnvoll sein können. Sie muss strategisch denken und handeln. Das heißt unter anderem, Kräfte auf jene Fragen zu konzentrieren, die zum einen von substantieller Bedeutung für Umwelt und Klima sind: und dazu zähle ich eben nicht das Tempolimit oder das Verbot von Trinkhalmen aus Plastik. Und sie muss zum anderen zu schärferen Mitteln greifen. Diese müssen jedoch sorgfältig bedacht und begründet werden und dürfen in keinem Fall die Neigung zum Heldentum bedienen.
Es gibt Tadzio Müller, einen 45-Jährigen Politikwissenschaftler und Aktivisten in der Klimabewegung. Er plädiert für eine Strategie der „friedlichen Sabotage“ mit dem Ziel, Aktionen müssten materielle Schäden verursachen. Zum einen: Was ist darunter genau zu verstehen?
Rucht: Diese Frage habe ich in einem Debattenbeitrag auch an Müller gerichtet. Seine Aussagen sind vieldeutig. Da ist von bloßem Körpereinsatz, aber auch von Schäden in einer Größenordnung die Rede, die ganze Industriezweige quasi in die Knie zwingen würde.
Was halten Sie von einer solchen Strategie?
Rucht: Sie ist ethisch fragwürdig und strategisch kontraproduktiv.
Ist es inzwischen legitim, sich auf Notstand zu berufen und damit in der Folge auf das Recht auf Notwehr, wenn es darum geht, Natur und Arten zu schützen?
Rucht: Notstand und Notwehr sind abstrakte Formeln, die von ganz unterschiedlichen Individuen und Gruppen reklamiert werden. Dabei wird die konkrete Last der Begründung für daraus abgeleitete Mittel der Abhilfe meist gescheut. Die verfassungsrechtliche Kodifizierung des Widerstandsrechts im Grundgesetz nach Art. 20 (4) ist gut gemeint, aber, abgesehen von ihrer Symbolik, sinnlos. Die allen Deutschen erteilte Erlaubnis zum Widerstand gegen „jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“ ist ein untauglicher Versuch einer paternalistischen bürgerschaftlichen Ermächtigung. Solange die Ordnung noch (halbwegs) existiert, gilt das staatliche Gewaltmonopol. Und wenn dieses Monopol de facto außer Kraft gesetzt ist, das heißt, wenn Teile der Bürgerschaft sich erheben oder gar zur Waffe greifen, ist bereits der Ausnahmezustand eingetreten, der sich einer rechtlichen Regelung de facto entzieht.
Ein ganz anderer Fall ist die im Strafgesetzbuch (§ 32) geregelte Notwehr, die es erlaubt, einen gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff „von sich oder einem anderen abzuwenden“. Allerdings wird sich kein deutsches Gericht bereit finden, „friedliche Sabotage“ als Notwehr anzuerkennen. Dies gilt auch für das Bundesverfassungsgericht, das im März 2021 das Recht künftiger Generation auf eine lebenswerte Umwelt im Sinne der Wahrung von „Freiheitschancen“ hervorgehoben hat.
Somit verlagert sich die Auseinandersetzung auf die Legitimitätsfrage. Befürworter des strikt gewaltfreien zivilen Ungehorsams wie auch Befürworter „friedlicher Sabotage“ berufen sich häufig auf politische Notwehr. Sofern dies keine billige Floskel sein soll, landet man bei Kriterien wie Erforderlichkeit, Geeignetheit und Angemessenheit. Da hat die „friedliche Sabotage“ auch jenseits der juristischen Auslegungen dieser Kriterien schlechte Karten. Anders ist es jedoch beim Widerstand in Diktaturen. Nicht nur Sabotage, sondern auch der „Tyrannenmord“ kann als legitim gelten.
Toxisch für die demokratische Kultur
Ist das mehr als eine Einzelmeinung? Hat diese Position von Müller eine Basis wenigstens in Teilen der Gesellschaft?
Rucht: Müllers Position ist in der Umweltbewegung und darüber hinaus minoritär, aber sie ist keine Einzelmeinung. Autoren wie der Schwede Andreas Malm rufen mit flammenden Worten – und in Buchlänge – zu flammenden Taten auf. Dabei wird der jüdische Aufstand im Warschauer Ghetto als Lehre für die Klimabewegung herangezogen. Malm zitiert wohlwollend den britischen Schriftsteller John Lancaster. Für diesen ist es „seltsam und erstaunlich, dass Klimaaktivisten bisher noch keinen einzigen Terrorakt verübt haben. Schließlich stellt Terrorismus für den Einzelnen die bei Weitem effektivste Form des politischen Handelns innerhalb der modernen Welt dar … .“
Was Umweltschützern und Tierschützern, auf die sich Lancaster bezieht, recht sein soll, ist anderen Lagern billig. Sogenannte Querdenker, Corona-Leugner und rechtsradikale Gruppen berufen sich argumentefrei auf Notwehr und ein Recht auf Widerstand. Die Inflation solcher Pseudo-Begründungen ist toxisch für die demokratische Kultur.
Es gibt die Tradition des zivilen Ungehorsams, dem es um strikt gewaltfreie Regelbrüche geht, ohne Gewalt gegen Menschen anzuwenden. Ist das heute legitim im Kampf um Umwelt- und Naturschutz??
Rucht: Ja, ziviler Ungehorsam, gebunden an weitere Voraussetzungen neben der Gewaltfreiheit, kann legitim sein. Aber da müsste ich weiter ausholen.
Inakzeptabel im Grundsatz
Und Gewalt gegen Sachen ist Ihrer Meinung nach akzeptabel?
Rucht: Inakzeptabel im Grundsatz. Mit steigender Schadenslast steigt auch die Last der Begründung, worum sich jedoch die meisten Verursacher der Gewalt gegen Sachen kaum scheren. Bei marginalem Sachschaden, etwa bei einem Graffiti, auch bei kleinen Sachschäden als unbeabsichtigten Begleiterscheinungen mancher Proteste, sollte man allerdings keine Moralkeule schwingen. Müllers Scheidelinie zwischen friedlich (= Gewalt gegen Sachen inclusive Sabotage) und unfriedlich (= Gewalt gegen Personen) ist nur vordergründig klar. Ein Graffiti, juristisch gesehen eine Sachbeschädigung, wird in den Augen der Mehrheit der Bevölkerung kaum als unfriedlich gelten. Aber könnte man die gezielte Sprengung einer momentan menschenleeren Fabrik als einen friedlichen Akt begreifen?
Ohnehin wird die genannte Scheidelinie im Konzept der strukturellen Gewalt, auf das sich Müller positiv bezieht, aufgehoben. Die Pointe dieses Konzepts besteht ja gerade darin, den meist auf personifizierte Täter gemünzten Gewaltbegriff auf sachlich-materielle Verhältnisse auszudehnen, aus denen, gleichsam subjektlos und somit ohne Intention, Ungleichheit und Ausbeutung erwächst.
Wo liegen denn die Unterschiede zwischen dieser Tradition des zivilen Ungehorsams und der von Müller propagierten friedlichen Sabotage?
Rucht: Der Hauptunterschied ist die Anonymität der Saboteure im Gegensatz zum offenen Visier der Akteure zivilen Ungehorsams. Zudem: Ziviler Ungehorsam ist angelegt auf Deeskalation, was in der Regel ein entsprechendes Training voraussetzt. Sabotage ist eine Art von verdeckter Kriegserklärung mit dem Ziel der Schadensmaximierung. Das Adjektiv „friedlich“ ist in diesem Zusammenhang beschönigend und soll für Akzeptanz sorgen.
In einem Interview mit dem Wochenmagazin Der Spiegel sagt er: „Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF.“ Gibt es dafür Anzeichen? Es gab ja zumindest in den 1970er und 1980er Jahren eine Tradition des sehr militanten Widerstandes gegen die Atomenergie.
Rucht: Müller spricht ja einerseits nicht nur von einer Möglichkeit, die niemand ausschließen kann, im Sinne von einer Wenn-Dann-Aussage. Andererseits verkündet er zudem im Ton der Gewissheit das folgende Szenario, und er kennt auch schon den Zeitpunkt: „Zerdepperte Autoshowrooms, zerstörte Autos, Sabotage in Gaskraftwerken oder an Pipelines. Das wird es nächsten Sommer auf jeden Fall geben.“ Meine Analyse: Für einen grünen Terrorismus im Stile der RAF sehe ich derzeit keine Anzeichen.